Amerika Online 16

Designschreiben: Eine post-literarische Lektüreerfahrung

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Es gibt etwas an den sichtbaren Formen und Strukturen, die wir bislang mit der Welt der Bücher und der Literatur assoziierten, das uns heute abhanden kommt. Indem wir allmählich von den flüssigeren Formen des Schreibens, die sich im Netz entwickeln, Notiz nehmen, wird uns augenblicklich klar, dass insbesondere Grafikdesigner/innen an den neu entstehenden, visuell stimulierenderen, schreibbaren Formen beteiligt sind, die sich heute im Cyberspace finden. Viele der experimentellsten Netz-Schreibprojekte, die derzeit online gehen, werden in der Tat von Designprofis kreiert, die im gleichen Maße ihre Rollen als Künstler/innen, Pädagog/inn/en und Wirtschaftsberater/innen zu spielen vermögen und deren Kunden ihre Fertigkeiten und Talente dringend benötigen.

Eine der ausgesprochenen Befürworterinnen einer neuen Form von "Schreib-Design" ist Anne Burdick. In einem in Kürze erscheinenden Essay findet sich der Ausdruck "neues Erzählen", der aber sogleich von der Autorin infrage gestellt wird:

"Ungeachtet der Hoffnung, die in einem solchen Ausdruck mitschwingt," sagt sie, "will ich von der Annahme ausgehen, dass es so etwas nicht geben kann. Das Erzählen ist alt. Das gute alte Erzählen. Es ist eine der ältesten Strukturen, mit der wir uns die Welt erklären; manche meinen, seine Wurzeln lägen in unserer täglichen Erfahrung von Zeit und Sprache. Die dem Erzählen eigenen Attribute - eine zeitliche Dimension sowie (ginge es nach der Meinung einiger Theoretiker/innen) eine kausale Beziehung zwischen Ereignissen - bestimmen seine charakteristische Form. Es leuchtet also ein, dass wir keine Erzählung im engeren Sinne mehr vor uns haben, wenn sich diese Grundkonfiguration ändert. Die Definition lässt sich nur so weit strapazieren, bis sie entweder in die Brüche geht, eine neue Bezeichnung erhält oder wieder ihre bekannte Form annimmt. Kann es also so etwas wie ein 'neues Erzählen' geben?"

Wenn es stimmt, wie wir in früheren Amerika-Online-Kolumnen behauptet haben, dass sich unsere Literatur letztlich ein für alle Mal erschöpft hat (und somit auch die gelehrte Form des Romans), dann heißt dies nicht notwendigerweise, dass aufstrebende Neue-Medien-Autor/inn/en die Praxis aufgeben werden, Erzählen (und Rhetorik) zur Lokalisierung von Bedeutung in "unserer täglichen Erfahrung von Zeit und Sprache" einzusetzen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen uns vielmehr fragen, was unsere tägliche Erfahrung von Zeit und Sprache eigentlich AUSMACHT, einmal angenommen, dass wir einen Großteil unserer Zeit damit verbringen, im Netz zu surfen, Emails zu verschicken und zu empfangen, in zufälliger Reihenfolge gespielte Songs mit unseren tragbaren MP3-Playern anzuhören, über's Handy zu plaudern, etc.

Anders gesagt: Die Erzählungen unserer Zeit sind stark in die Praxis der neuen Medien selbst eingebettet. Unsere ständige Interaktion mit den sich entwickelnden Sprachen, mit denen uns diese neuen Medien konfrontieren, bestimmt unsere Zeit, auch wenn wir als intelligent Handelnde, die die Maschinen abschalten können, intuitiv wissen, dass wir in einem gewissen Sinne das Literarische an sich (diese schwere Last) hinter uns lassen, wenn die Maschinen weiterlaufen.

Dieser Akt des kulturellen Ungehorsams, die Überwindung des Literarischen also, ist nicht so einfach, wie das manche gerne hätten. Für jene von uns, die mit Büchern und mit der Vorstellung aufgewachsen sind, dass sich in der Großen Literatur das Beste am Menschen entdecken läßt, gleicht schon allein die Vorstellung einer bewussten Verabschiedung des Romans als einer Art narrativen Interfaces einem Akt des Verrats, der uns bis an den Tag unseres Todes schuldig fühlen lassen wird.

Außer natürlich wir öffnen unsere Augen und leben für den Augenblick. Diese unsere Zeit erkundet vorsätzlich das Potenzial der neuen Medien, um die Schreibpraxis erneut zu innovieren, wobei sich heute unmittelbar Ergebnisse einstellen. In ihrem Essay fährt Budick, die Design-Editorin der Electronic Book Review, folgendermaßen fort:

"Hier haben wir also das 'Neue' an den 'neuen Medien'. Ein Gewebe (weave) setzt eine andere Art Raum voraus als eine Druckseite, um sein gesamtes Potenzial realisieren zu können. Im elektronischen Raum gibt es dieses Potenzial, obwohl ich meine, dass es erst zur Gänze erkundet werden muss. Nichtsdestotrotz verfügt die Anordnung von Texteinheiten in dieser Umgebung über eine gänzlich andere Reihe von Möglichkeiten als innerhalb der Grenzen einer Druckseite. Das Schreiben kann Strategien der Gleichzeitigkeit, Nebeneinanderstellung, Platzierung und Nähe verbinden, wobei jede dieser Strategien einer semantischen Funktion dienen und einen Einfluss auf die Leseerfahrung und -ordnung haben kann. Die Informationen, die solche Attribute liefern und die jenen von Tabellen und Diagrammen ähneln, lassen sich nur schwer in eine lineare verbale Form übersetzen - so dies überhaupt möglich ist. Alles dreht sich damit um die visuelle Anordnung."

Hier tritt nun der/die Designschreiber/in auf. Ohne Umschweife könnten wir behaupten, dass alle Autor/inn/en Designschreiber/innen sind. Schließlich bleibt es doch jedem/er Autor/in selbst überlassen, das konzeptuelle Design jener verbalen Landschaft zu entwickeln, in der sich seine/ihre Geschichten abspielen werden, wobei sie oft eine Menge an Zeit damit verbringen, auf ihrer Suche nach einem syntaktischen Rhythmus jeden Satz und jedes Wort zu überarbeiten. Schließlich wird ja dieser Rhythmus die literarischen Figuren charakterisieren, deren Sprachhülle die Worte des/der Autors/in füllen. Außer, dass ich diesen konventionellen Gebrauch der Charakterisierung, und damit auch des Plots, als Romandesign bezeichnen würde.

Romandesign (Noveldesign) nicht deshalb, weil es etwas Neues ist, sondern weil es sich ständig auf die alte Formel verlässt, eine Geschichte für das Druckgewerbe zu entwerfen - also eine Geschichte, die Absätze mit Einzügen, ein einheitliches Druckbild und eine Reihe von Lektüreerwartungen aufweist, die es dem/der Autor/in ermöglichen, auf clevere Weise hinter dem Vorhang zu verschwinden (so wie der Zauberer von Oz) und Phantasiereisen durch das Land des Zeitweilig Aufgehobenen Zweifels in schneller Abfolge auf den Markt zu bringen. Hier finden die meisten Autor/inn/en, selbst jene, die sich als Literat/inn/en bezeichnen, ihr Maß an Komfort. Für manche ist das so einfach wie ein dreimaliges Zusammenschlagen der Schuhe, begleitet vom wiederholten Mantra "zu Hause ist's am schönsten, zu Hause ist's am schönsten, zu Hause ist's am schönsten..."

Aber der/die Neue-Medien-Designschreiber/in, der/die eine räumliche Architektur schafft, in der sich seine/ihre Konzept-Sprachkunst zu einem navigierbaren, visuellen Interface transformieren lässt, hat eine andersartige Herangehensweise an das Experimentieren mit neuen Rhetorikformen, um Andere Texte für diesen immer noch ein wenig fremden Schauplatz einzuführen, der Cyperspace genannt wird. Budick drückt es so aus:

"Während solche Strategien der Anordnung in gedruckter Form zur Verfügung stehen, sind die Wechselbeziehungen, die sie zueinander unterhalten, an einem Ort fixiert. Was das Schreiben in den neuen Medien wirklich verändert, ist die Bewegung zwischen oder von Elementen. Wie sich Wörter verhalten, kann ein Attribut sein, das etwas bedeutet und somit auf aktive Weise Lektüre und Geschichte formt. In den neuen Medien handeln die Wörter - sie tun mehr, als einfach nur da zu sein. Stößt du sie an, führen sie dich neue Pfade entlang. Behältst du sie im Auge, dann tanzen oder verschwinden sie. (Hoffentlich widerstehen sie dem Drang herumzuwirbeln.) Man kann sie auch vermischen, sichten, isolieren, verorten oder umgestalten, denn ein Gewebe sieht nicht nur anders aus wie eine Linie, sondern funktioniert und verhält sich auch anders als diese. Hier beginnen die neuen Medien dem neuen Erzählen zu gleichen -wenigstens aber der neuen Erzählung."

Das wirft eine interessante Frage auf: Werden die neu entstehenden Formen der Datenbanktechnologie die Erzählung ersetzen, ergänzen oder neu erfinden?

Sehen wir vom Romandesign und seiner völligen Abhängigkeit von einer begrenzten Reihe an Optionen ab, die dem/der zeitgenössischen Autor/in sehr wenig strategischen Spielraum lassen, so lässt sich heute das Aufkommen eines weiteren Modells der Sprachpraxis im Cyberspace verfolgen, das die Unterschiede zwischen Bild und Text, Seite und Bildschirm, klanglich und visuell, Publikation und Ausstellung vorsätzlich verwischt. Dieses im Entstehen begriffene Modell der Sprachproduktion würde ich Designschreiben nennen.

Um technisch zu reden, hieße in diesem Fall de-signen eine De-Kontextualisierung, De-Konstruktion und Verfremdung der alltäglichen Erfahrung im Netz, indem man aktiv in jenem E-Diskurs interveniert, der sich heute in der Weltwirtschaft abzeichnet. Ähnlich wie beim brechtschen Theater ginge es bei einer Online-Design-Schreibpraxis grundsätzlich um eine Intervention im dynamischen Raum von erfahrungsgemäßen Erwartungen, die bereits von den Wirtschaftskapitänen des E-Commerce entwickelt werden, deren gewinnorientierte Härte und mangelndes Interesse an privaten Angelegenheiten auf eine zunehmende Doubleclick-Mentalität zurückgehen, die überall da Jagd auf Verbraucher-Demographien macht, wo sich eine Häufung beobachten lässt.

Beispiele für eine derartige interventionistische Praxis gibt es viele, einschließlich jener Kunstsites, die ich in meiner letzten AOL-Kolumne zum Thema satirisches Action-Schreiben erörtert habe. Auch in der subtileren aber gleichermaßen interventionistischen Zusammenarbeit von Schriftsteller/inne/n und Künstler/inne/n, die sich auf Designsites wie etwa Thirstype finden, verspürt man die Entwicklung des Schreibens als einer "de-stabilisierenden" visuellen Kunstform. Thirstype-Mitarbeiter und Designschreiber Rob Wittig spricht hier gerne von "Erfahrungs-Design":

"Das Erfahrungs-Design (eine andere Art, Interface-Design zu betrachten) untersucht so ganzheitlich wie nur möglich jene Zeit, die ein/e User/in mit einem Text verbringt - was mit dem/der User/in in physischer, kognitiver, emotionaler, psychologischer und sozialer Hinsicht geschieht. Statt der Annahme, dass der gesamte Text seine Leser/innen gemäß den Absichten des/der Autors/in formt und verändert, beruht meine Version des Erfahrungs-Designs darauf, dass Leser/innen Texte als Fragmente benutzen und gestalten, die dem höheren Zweck des Lebens des/der Lesers/in dienen."

Weiters behauptet Wittig, dass jene von uns, die literarisch gebildet sind, nur selten - wenn überhaupt - dazu angehalten wurden, sich Lektüre als Aktivität vorzustellen und sie als solche zu diskutieren, wenigstens aber als eine interaktive Form des kulturellen Handelns. Tatsächlich, so insistiert Wittig, beruhten viele unserer mit Arbeit verknüpften Gewohnheiten auf einem übernommenen Modell des "richtigen Lesens". Einige der geläufigen Elemente dieses "richtigen Lesens" sind laut Wittig

  1. strenges lineares Lesen
  2. Lesen jedes einzelnen Wortes
  3. Lesen mit gleichmäßiger Konzentration und Aufmerksamkeit gegenüber jedem Wort
  4. Lesen ohne anderem gleichzeitigen Input (Musik, Radio, Fernsehen, Gespräche)
  5. monogames Lesen (jeweils nur ein Text, von Anfang bis Ende, ohne Unterbrechung)

Designschreiber/innen wie Wittig wissen jedoch um die Veränderungen, die sich in der digitalen Kultur ereignen, und beginnen neue Methoden des Online-Schreibens zu verfolgen, anstatt etwa die Tatsache zu beweinen, dass es da eine verlorene Literaturlandschaft gibt, die ein für alle Mal verloren ist. Manche ältere Schriftsteller/innen, vor allem einige der brisanteren postmodernen "Fiktionäre" der letzten 25 Jahre, sehen diese Veränderung auch positiv. Der Autor Ron Sukenick, der große alte Mann der amerikanischen experimentellen Prosa, hat es folgermaßen ausgedrückt:

"Um uns in aller Kürze über die technologische Situation klar zu werden: Heute leben wir - wie ich das nenne - in der Elektrosphäre. Die Buchproduktion ist von einer neuen elektronischen Technologie eingeholt worden, die die Arbeit des Setzers überflüssig oder vielmehr zu einem Teil der Kunst des/der Schriftstellers/in macht anstatt zur Fertigkeit eines/r Technikers/in. Bücher gehen heute zunehmend direkt von der Diskette in Druck. Das bedeutet, dass der/die Schriftsteller/in auch Setzer/in ist und nach eigenem Belieben Seiten auf dem elektronischen Bildschirm entwerfen kann, wobei er/sie die grafische Qualität der Seite zu einem expressiven anstatt zu einem trägen Element der Prosa macht. Es besteht also kein Grund dafür, sich ständig nur links - rechts, links - rechts, links - rechts bis hinunter zum Seitenende zu bewegen wie eine Schreibmaschine."

Designschreiber/innen sind keine Schreibmaschinen. Sie tendieren vielmehr zu kollaborativen Techniker/innen des Netzinterfaces, dessen Bildschirm-Präsenz das Modell des/der Autors/in-als-Genie in Frage stellt, auf das sich so viele literarische Persönlichkeiten verlassen haben (und dies auch immer noch tun). Wie Budick wiederholt:

"In einer auf dem Buchdruck basierenden Arbeitsteilung wird zwischen Grafikdesigner/innen und Autor/inn/en bis zum Ende des Schreibprozesses getrennt, was Autor/inn/en und Designer/innen nur wenige Wahlmöglichkeiten lässt, die sich von den bereits vorher festgelegten Formaten, Formen und Strategien unterscheiden, unter denen sie wählen können. Möchten also Grafikdesigner/innen ihren Beitrag zu den neuen Erzählungen leisten, so müssen sie auf der strukturellen Ebene einbezogen werden.

Das bedeutet, dass Schreiben und Design bereits von Beginn an zusammenarbeiten müssen, was eine kollaborative Partnerschaft zwischen der visuellen Form und dem Schreiben schafft. Wenn Designer/innen Schreibräume konstruieren, beeinflussen sie damit die möglichen Schreibstrategien. Bei ihrer Erschließung neuer Wege, um Geschichten erzählen zu können, schaffen Autor/inn/en überdies aktiv die sichtbaren, materiellen Räume, die notwendig sind, um diesen Geschichten einen Platz einzuräumen. Mit dem Aufkommen dieser neuen Konfigurationen und Operationen stellt sich die Frage, wer hier wohl die Initiative ergreifen wird - die Autor/inn/en oder die Designer/innen?"

Oder wie wäre es mit Designschreiber/inne/n, die mit den sich abzeichnenden Formen der Sichtbaren Sprache experimentieren wollen? Vielleicht gelten ja diese Unterscheidungen nicht mehr. Angesichts der konzeptuellen Komplexität von Interfaces der neuen Medien, die Metafiktion, Hypertext, MP3, Streaming-Medien, VRML, dynamisches HTML, Java, Shockwave und andere Programme in sich vereinen, stellt sich vor allem die Frage, ob diese "Ökonomie der Ideen", von der immer gesprochen wird, nicht eben eine E-Renaissance des post-literarischen Schreibens einleitet.

Teile dieses Essays sind gesampelte Remixes eines Essays mit dem Titel "Ways of Telling, or, the plot thickens, fragments, reconfigures, branches, multiplies...", der in dem von Anne Burdick und Louise Sandhaus herausgegebenen Band New Media, New Narratives (Chicago: The American Center for Design, 2000) erscheinen wird.

Mark Amerikas Site GRAMMATRON wird bei der Whitney Biennale 2000 zu sehen sein.

Übersetzung: Thomas Hartl