Amerika im Osten?

Eine neue These verbindet Hitlers mörderische Osteuropa-Pläne mit den Romanen Karl Mays

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Über 10,5 Millionen Bände sind bis 1945 von den Büchern Karl Mays (1842-1912) verkauft worden. Millionen Tote hat der May-Enthusiast und Massenmörder Adolf Hitler auf dem Gewissen. Ein Siegener Literaturwissenschaftler legt nun eine neue These zu Spuren Mays im Denken Hitlers vor. Demnach hat die Lektüre des "Winnetou"-Autors auch die Osteuropa- und Russland-Pläne des Diktators beeinflusst. May selbst trifft dabei keine Schuld.

Der Ausnahme-Indianer Winnetou sei "das Musterbeispiel eines Kompanieführers", zitierte Hitlers Architekt und Minister Albert Speer einst den deutschen "Führer" Adolf Hitler. Was Rassisten überraschen mag, ist eigentlich nahe liegend, scheint der Apache doch als beinahe "deutsche" Gestalt, die nicht nur alle deutschen Tugenden besitzt, sondern auch von einem Deutschen erzogen worden ist.

Dass die Bücher Karl Mays Adolf Hitler beeindruckt haben, ist seit langem bekannt und hat immer wieder zu Kontroversen geführt. Die Sekretärin eines Hitler-Gehilfen hielt die Aussage fest, man müsse Karl May lesen, um den Reichskanzler zu verstehen. Was der Führer schätzte, war gut für das Volk, und so nahm der "Nationalsozialistische Lehrerbund" Karl May 1933 in einen Katalog empfohlener Jugendschriften auf. Zugleich wurden die pazifistischen Altersromane Mays im Dritten Reich unterdrückt, was darauf hindeutet, dass May letztlich nicht einfach in die nationalsozialistischen Pläne passte.

Hitlers Pläne und seine Lektüre Karl Mays

Der Siegener Literaturwissenschaftler Marcus Hahn hat in der aktuellen Ausgabe der "Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" nun die These entwickelt, auch die mörderischen Osteuropa- und Russland-Pläne Hitlers seien durch frühe May-Lektüren beeinflusst. So sollen Hitlers Monologe zwischen 1941 und 1944 Einflüsse des Mayschen Amerika-Bildes zeigen. Allerdings müsse man Hitlers Lektüren in einen größeren Kontext stellen, nämlich den von deutschen Amerika-Stereotypen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Amerika wirkte damals zum Einen bedrohlich als ein anonymisiertes Land der Großstädte und Wolkenkratzer, das keine eigene Kultur aufwies. Gleichzeitig allerdings lockten die Weiten des amerikanischen Westens, während die industrielle Entwicklung Amerika als Europa von Morgen erscheinen ließ, wie auch Hitler anerkennen musste.

Die USA, zitiert Hahn eine Aussage des Diktators, "erzeugen das gleiche wie wir bei einem Drittel unseres Menschenaufwands." Hitler zögerte denn auch nicht, die amerikanische Erfolgsgeschichte rassistisch umzudeuten. "Soweit Amerika anständige Menschen hat: die meisten davon sind aus Deutschland gekommen!", so die hasserfüllte Analyse der technischen Überlegenheit Amerikas, das dem Diktator eigentlich als "rassisch minderwertig" galt.

Amerika und der "Generalplan Ost"

Vorstellungen von Amerika, zeigt Hahn nun, geisterten allgemein durch die Pläne, die Hitler und seine Helfer für Osteuropa und Russland entwarfen. Der Diktator selbst monologisierte in unvergleichlicher Brutalität und mit erkennbarer Lust, sich am Morden zu beteiligen, der Kampf gegen Partisanen werde im Osten ein "Indianerkrieg" wie "in Nordamerika." Man müsse, so Hitler, möglichst viele Menschen "aufknüpfen!"

Dabei verdeckten solche Reden bereits früh einen Unterschied, den Hahns Analyse unter Verweis auf die historische Forschung Richard L. Rubinsteins hervorhebt. Denn gab es im Amerika des 19. Jahrhunderts auch eine "genozidale Gesellschaft", so stand hinter Hitlers Plänen des 20. Jahrhunderts ein "genozidaler Staat", der den rassistischen Völkermord umfassend und mit kalter Planung betrieb.

Dies zeigt in erschreckender Weise der "Generalplan Ost", in dem SS-"Experten" ungerührt die Ermordung von 30 bis 50 Millionen Menschen und eine Besiedlung ihres Landes durch Deutsche vorsahen. Auch in diesem Kontext wurden freilich, wie Hahn belegt, immer wieder Verbindungen zu Amerika gezogen. "Die endlosen Weiten des Ostens sind es zweifellos nicht, die uns Deutsche zum großen Teil heute vor einer Ansiedlung zurückschrecken, denn auch Nordamerika hat die gleichen Weiten", notierte eine Expertise. "Die stärkere Rasse wird siegen, und das sind wir", fasste Hitler zusammen.

Deutsche Siedler

Mindestens zwei Vorstellungen, zeigt Hahn, verbinden Hitlers Pläne für den Osten mit Mays Schriften über Amerika. Da ist zum Einen Mays Konzept von Amerika als einem Ort, der von Deutschen bevölkert ist, die sich dank ihrer herausragenden Qualitäten durchsetzen. Als noble und edle Gestalten begegnen sich die Deutschen in einem fort in der Prairie, während nichts verdächtiger scheint als Menschen, die nur vortäuschen, "deutsch" zu sein.

Ob die Helden Old Shatterhand, Old Firehand oder, wie der erwähnte Lehrer Winnetous, Klekih-Petra heißen oder ob sie als gute Charaktere der "zweiten Reihe" humoristisch Peter Polter genannt werden, ist mithin nicht entscheidend, solange sie ihre Herkunft verbindet. Was aber Mays Amerika kennzeichnet, war für Hitlers Russland offenbar geplant.

Weite Landschaften

Darüber hinaus ist die Faszination der unendlichen Weite hervorzuheben, die May in seinen Büchern immer wieder beeindruckend darstellt. "Wie bin ich froh über den Osten: Endlich wird das deutsche Volk wieder Bewegungsfreiheit kriegen!", tönte Hitler. Bei May durchstreiften die Helden unablässig und in tagelangen Ritten die Weiten der Prairie, die allerdings nicht nur verlockend, sondern auch Angst erregend zu sein schienen.

Dasselbe scheint denn auch für Hitler gegolten zu haben. Es sei ihm "zur Manie" geworden, hielt sein Baumeister Albert Speer fest, dass "der in den Weiten Russlands verlorene deutsche Bauer" - wie Mays Westmann in der Savanne - "überall im Osten Anlaufstellen finden" müsse. Hitler wollte deshalb deutsche Kleinstädte kopieren und deutsche Gemütlichkeit in ein erobertes Russland einführen.

Adolf Hitler und Karl May

So interessant Hahns Analysen sind, bleibt ihnen doch ein erkennbar spekulativer Zug. Die Parallelen zwischen Mays Amerika-Bildern und Hitlers Vorstellungen von Osteuropa und Russland sind in hohem Maße irritierend, jedoch auch so allgemein, dass man kaum May zum "geistigen Vorläufer" Hitlers erklären kann.

So stellt auch Hahn in aller Deutlichkeit fest, dass May für die Verbrechen Hitlers nicht "verantwortlich" oder gar an ihnen "schuld" sei. Vielmehr zeigt er, dass Hitler Mays Bücher nur passagenweise gelesen und wichtige Teile der Texte einfach ignoriert hat. So konnte sich der künftige Diktator an den Tiraden eines Indianermörders begeistern, den May als verachtenswerten und schlechten Westmann darstellt. Die christlichen Helden mit ihrem Glauben an Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die von Anfang an in Mays Büchern im Mittelpunkt stehen, ignorierte Hitler jedoch nach Belieben.

Dem künftigen Schreckensherrscher, scheint es, haben Mays Bücher nur eine Geschichte erzählen können, nämlich die der "strengen, blutigen Gesetze der Prairie." Verglichen mit den grauenvollen Taten Hitlers aber sind selbst diese bei May dargestellten "Gesetze" harmlos.