Amnestie für 25.000 IS-Familienmitglieder

IS-Anhängerinnen im Lager al-Hol. Bild: Anhar/Video YouTube

Kurdische Selbstverwaltung will al-Hol-Lager entlasten: Syrische Mütter und Kinder sollen freigelassen werden. Ausländer sollen dagegen bis auf Weiteres bleiben

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Wo werden sie hingehen, wer wird sie aufnehmen? Alle 25.000 Insassen des Lagers al-Hol, die eine syrische Staatsbürgerschaft haben, sollen entlassen werden, wie am gestrigen Sonntag von Elham Ahmed angekündigt wurde.

Gremien der kurdischen Selbstverwaltung müssten diese Entscheidung noch bestätigen, so die Vorsitzende des Exekutiv-Komitees des SDC, dem politischen Rat der SDF/Demokratische Kräfte Syriens. Sie sprach von "syrischen Müttern und Kindern", die das Lager verlassen sollen. Insgesamt sollen derzeit 68.000 Personen im Lager al-Hol leben, zwei Drittel davon sind Kinder.

"Schwere Bürde"

Das al-Hol-Lager sei eine schwere Bürde für die Autonome Selbstverwaltung im Nordosten Syriens (Rojava, auch AANEES), so Elham Ahmed. Die Entlassung der 25.000 syrischen Staatsangehörigen mittels einer "Generalamnestie", über die der legale Rat innerhalb des SDC noch zu entscheiden habe, würde großen Druck von dem Lager nehmen und Forderungen lokaler arabischer Gemeinschaften erfüllen.

Die Selbstverwaltung sei nicht dazu verpflichtet, exorbitante Summen zu zahlen, "um diese Leute mit Nahrung und anderen Dingen zu versorgen und davon abgesehen mit täglichen Problemen konfrontiert zu werden wie Hinrichtungen, Vergewaltigungen usw." Einzig die ausländischen Staatsangehörigen (siehe: Die Kinder des IS), mit denen anders verfahren würde, bleiben noch im Lager. Die Entscheidung über die Entlassung und das weitere Verfahren werde dann vom Generalrat des SCD getroffen, heißt es in einem schriftlichen Protokoll der Ankündigung Elham Ahmeds.

Sie machte sie auf einem mehrtägigen Treffen in Rakka, an dem sich die kurdische Selbstverwaltung der Kritik stellte. Anwesend waren arabische Stammesführer aus dem Osten Syriens. Sie werden, wie schon zuvor, einen Teil der Mütter und Kinder aufnehmen. In der Vergangenheit nahmen Stämme und Gemeinschaften in Deir-ez-Zor und Rakka angeblich bereits 4.000 Lagerinsassen auf, geknüpft an das Wort der Stammesführer, wonach sie garantieren, dass sich die Rückkehrer nicht erneut mit dem IS einlassen. Wie sehr sie das garantieren können, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Die angekündigte Amnestie ist politisch nützlich, um gute Beziehungen zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und den arabischen Stämmen zu verstärken. Streitigkeiten zwischen der Selbstverwaltung und den Stämmen treten immer wieder auf, worüber das genannte Treffen auch berichtet. Sie werden, wie das in Syrien die Regel ist, von interessierter Seite geschürt. Man lese dazu etwa türkische Medienberichte.

Wohin?

Ob allerdings alle 25.000 Freigelassenen - 17.000 sollen Kinder sein - mit syrischer Nationalität aus dem Lager al-Hol von Stämmen aufgenommen werden? Dazu gibt es noch keine Angaben. Vorstellbar ist, dass einige versuchen werden, wieder einen IS-Anschluss zu bekommen. Immer wieder wird auf IS-Stellungen im Osten Syriens an der Grenze zum Irak hingewiesen, von wo aus der IS einen Guerillakrieg mit Anschlägen führt. Ob allerdings die Milizen in dieser Situation, dazu imstande oder willens sind, Mütter und Kinder aufzunehmen ("Wir wollen zurück zum IS")? Ob sie in Lagern für Binnenflüchtlinge unterkommen? Wie die syrische Regierung die Nachricht aus Rojava aufnimmt, ist noch nicht bekannt.

Offen bleibt auch, wie die Zukunft der verbleibenden Insassen des Lagers al-Hol aussieht. Derzeit werden 30.000 irakischen Staatsangehörige (darunter 20.000 Kinder) und 10.000 Ausländer (darunter 7.000 Kinder) gezählt. Bagdad hat anscheinend die Übernahme von irakischen Müttern und Kindern, die im IS lebten und ins Lager al-Hol gebracht wurden, derzeit eingestellt. Man hat offenbar schon genug Probleme.

Auch die Rückkehr von Müttern und Kindern, die zum IS gehörten, in europäische Länder verläuft bekanntlich sehr schleppend. Die Regierungen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind da zurückhaltend und denken, wie es den Anschein hat, lieber über Möglichkeiten zum Entzug der Staatsbürgerschaft nach oder schieben das Problem auf die lange Bank. Die IS-Familien sind keine erwünschten Staatsbürger (vgl. auch: Selbstbewusste Menschen reisen nicht zum "Islamischen Staat") Nicht selten erfolgt eine Wiederaufnahme nur aufgrund eines Gerichtsbeschlusses und dann geht es meistens um Kinder.

Ob die Entscheidung zur Freilassung von 25.000 syrischen Insassen von al-Hol auch den Handlungsdruck auf die deutsche Regierung erhöht? Möglich, weil sich damit andeutet, dass das Hinausschieben des Problems keine Dauerlösung ist. Die Nachricht, dass die kurdische Selbstverwaltung, die Rückführung nach Deutschland jetzt aus eigenen Stücken blockieren würde, wie dies die Tagesschau vergangene Woche berichtet hatte, wurde von der kurdischen Selbstverwaltung nicht bestätigt. Das Interesse, dass die fraglichen Länder Frauen und Kinder mit IS-Vergangenheit aus den kurdischen Lagern zurücknehmen, bleibt seitens der Selbstverwaltung hoch.

Flucht aus dem Mini-IS

Dass die Selbstverwaltung die Lager mit den IS-Familienangehörigen - die IS-Kämpfer sind ein eigenes Thema, sie sind in Gefängnissen untergebracht - entlasten will, hat mehrere Gründe. Die US-Sanktionen, die zu einer bitteren Ressourcenknappheit und Armut in Syrien geführt haben, gehören dazu wie auch das regelmäßig erfolgende Absperren eines großen Teils der Wasserversorgung durch die Türkei bzw. der mit ihr verbündeten Milizen.

Dazu kommen Befürchtungen durch das Corona-Virus, was sowohl die Versorgung wie die Möglichkeit einer Ausbreitung des Virus betrifft und nicht zuletzt die Schwierigkeiten und Probleme, die mit den Lagerbewohnern verbunden sind. Al-Hol hat man schon einen "Mini-IS" genannt, im Lager kommt es immer wieder zu tödlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen oder Akten zwischen Fanatikern und solchen, die nicht fanatisch genug gelten oder als Abtrünnige (Lager al-Hol: Das Gewaltregime der IS-Anhängerinnen). Auch Wächter wurden zum Ziel von heimtückischen, schweren Angriffen.

In den letzten Wochen kamen dann noch Berichte hinzu, die nicht nur von elenden Bedingungen im Lager, sondern bei Fluchtversuchen aus dem Lager erzählten. Bilder von kleinen Kindern, die halb ohnmächtig aus einem Wassertank auf einem Lastwagens herausgeholt werden, werfen zwar vor allem auf die Schleuserpraktiken ein übles Licht. Solche Nachrichten gehören aber auch zur Bürde, von der Elham Ahmed im Zusammenhang mit al-Hol sprach.