Amri: Wenn der Verfassungsschutz einen Untersuchungsausschuss "unterwandert"
Abgeordnete im Bundestag haben es mit immer größerem Widerstand der Sicherheitsbehörden zu tun. Weiterer Spitzel im Umfeld des mutmaßlichen Attentäters?
12 Tote und Dutzende zum Teil Schwerverletzte sind das Resultat des Anschlages auf den Weihnachtsmarkt in Berlin im Dezember 2016. Man muss daran erinnern angesichts der befremdlichen Auseinandersetzungen in und um die Untersuchungsausschüsse der Parlamente, hinter denen zu verschwinden droht, worum es eigentlich geht. Hauptfiguren sind im Bundestagsausschuss seit einigen Wochen bezeichnenderweise Beamte des Verfassungsschutzes.
Gleichzeitig gab es im U-Ausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin Hinweise auf einen weiteren Informanten einer Sicherheitsbehörde im Umfeld von Anis Amri. Damit hätte sich die Zahl identifizierter V-Leute mittlerweile auf sechs erhöht. Hinter dem angeblichen "Einzeltäter" vom Breitscheidplatz wird in Umrissen ein größeres Szenario sichtbar.
Eine dieser amtlichen Hauptfiguren im Amri-Ausschuss des Bundestages ist Eva Maria H. Mit Beginn der Sitzungen im März 2018 saß die Oberregierungsrätin als Vertreterin des Bundesinnenministeriums (BMI) in der Runde. Neben den Abgeordneten haben auch Vertreter der Bundesregierung, der Sicherheitsbehörden und der Länder dort einen festen Platz. Und zwar auch in nicht-öffentlichen und internen Sitzungen des Parlamentsgremiums. Hinterfragt wird diese Praxis bisher nicht. Ein festgeschriebenes Recht der Exekutivorgane ist sie aber nicht.
Eva Maria H. firmierte als Vertreterin des BMI. Sie war davor aber beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) tätig und hatte dort als Leiterin eines Referates zum Bereich "islamistischer Terrorismus" mindestens mit dem Kontaktumfeld Amris zu tun. Das weiß der Ausschuss allerdings erst seit Anfang Oktober. Bisher war ihm lediglich mitgeteilt worden, Frau H. habe erst nach dem Anschlag mit dem Fall Amri zu tun gehabt.
Mit der Spitzenbeamtin hatten BMI und BfV - man könnte sagen - einen Spitzel im Ausschuss sitzen, der selber mit der Materie befasst war und nun haut- und zeitnah erfahren konnte, was die Abgeordneten planten, wen sie vernehmen wollten, für welche Akten sie sich interessierten, wie sie vorzugehen gedachten. Ein U-Boot der Exekutive in den Reihen der Legislative.
Eva Maria H. war aber mehr als nur ein schweigsamer Spion. Sie handelte aktiv und offensiv. Sie war es, die bei entsprechenden Fragen der Abgeordneten immer wieder dazwischen ging, sie für unzulässig erklärte oder in die nicht-öffentliche Sitzung verschieben wollte. Sie tat das auf eine Weise, wie man es selbst aus den Sitzungen der NSU-Ausschüsse nicht kannte. Sie nahm damit vor allem auch Einfluss auf die Zeugen und ihr Aussageverhalten. Telepolis hat das mehrfach dokumentiert (Bundesregierung blockiert Aufklärung, Amri und der Verfassungsschutz).
Einer der Zeugen aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz hatte bei der letzten Sitzung Ende September eine entsprechende Frage einer Abgeordneten, ob hier im Raum Personen seien, die er aus dienstlichen Bezügen kenne, explizit mit "nein" beantwortet. Das hat sich nun als Falschaussage erwiesen.
Das Auftreten von Eva Maria H. glich dem einer Inquisitorin. Man hatte den Eindruck, sie leitet diesen Ausschuss. Anzunehmen, ihre Auftritte seien ihre Privatsache gewesen, wäre naiv. Sie mussten im Auftrag geschehen sein, wie sich aktuell auch aus dem Bericht ergibt, Ex-Bundesinnenminister Thomas de Maiziere habe die Beamtin in den Amri-Ausschuss geschickt.
Doch jetzt ist das Gummiband gerissen und das Doppelspiel aufgeflogen. Ganz schnell hat das Ministerium daraufhin Frau H. aus dem Bundestag abgezogen - aus "Fürsorgegründen", wie es hieß.
"Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Respektlosigkeit"
Die Causa Eva Maria H. war nun in der jüngsten Sitzung Tagesordnungspunkt 1 des Amri-Ausschusses, allerdings hinter verschlossenen Türen. In nicht-öffentlicher Sitzung vernahmen die Abgeordneten den BMI-Vertreter Ministerialdirektor Stefan K. Nach übereinstimmenden Erklärungen der Obleute habe K. die Verantwortung für die Entsendung von Frau H. in den Ausschuss übernommen, allerdings ohne einen Fehler einzuräumen.
Der Obmann der SPD, Fritz Felgentreu, nannte die Antworten des BMI-Vertreters "nicht befriedigend" und sprach von einer "Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Respektlosigkeit" dem Ausschuss gegenüber. Das Vertrauensverhältnis zum BMI sei "erheblich gestört". Auch der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz zeigte sich "irritiert über die Tonlage" des BMI-Mannes. Der Interessenkonflikt in der Person von Eva Maria H. sei im Ministerium seit "vielen Monaten offenkundig" gewesen. Es gebe deutliche Überschneidungen zum Komplex Amri.
Martina Renner, die Abgeordnete der Linksfraktion, die mit einem Schreiben an Minister Seehofer den Stein in der Affäre ins Rollen gebracht hatte, erklärte, die Entsendung der Beamtin in den Ausschuss sei "kein Versehen" gewesen, sondern ein "gezielter Versuch, bestimmte Gegenstände nicht in den Blick des Ausschusses zu bringen". Sie stellte auch das ungeschriebene Anwesenheitsrecht der Regierungsvertreter in einem Gremium des Parlamentes in Frage.
Journalistenfrage: "Sehen Sie eine Möglichkeit, rechtlich dagegen vorzugehen, dass der Verfassungsschutz den Untersuchungsausschuss unterwandert? Denn normalerweise kontrolliert das Parlament die Dienste und nun kontrolliert der Dienst die Zeugen"
Antwort Renner: "Ja. Denn die Bundesregierung sitzt hier drin nicht qua Gesetz, sondern qua Verabredung. Die kann jederzeit widerrufen werden, wenn wir das Gefühl haben, dass die Beweisaufnahme durch die Bundesregierung gestört wird. Wenn sich verfestigt, dass auf Zeugen eingewirkt wird, muss gegebenenfalls darüber geredet werden, die Bundesregierung nicht mehr als einen Player in diesem Raum zu belassen."
Wie uneins der Ausschuss bezogen auf Bundesregierung und Bundesverfassungsschutz ist, zeigte die Position, die der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU) gegenüber der Presse vertrat. Er sprach zwar auch von einem "Interessenkonflikt", der U-Ausschuss habe durch das Auftreten von Frau H. aber keinen "materiellen Schaden" erlitten, es sei nicht manipulierend auf ihn eingewirkt worden.
Die Beamtin soll demnächst selber als Zeugin befragt werden. Dann werde sich klären, vermute er, so Schuster, dass es "keine Täuschungsabsichten und keine Manipulationsabsichten gab". Als eine Journalistin nachhakte, Frau H. sei ihrer Doppelrolle doch bewusst gewesen und der Ausschuss habe es nicht bemerkt, entgegnete Schuster wörtlich:
Wenn das Bundesinnenministerium diesen Ausschuss hätte manipulieren wollen, dann hätte ich das an seiner Stelle schlauer angestellt. Ich sage ganz offen, eigentlich ist die Frage ein Stück weit unverschämt. Sie bringt zum Ausdruck, dass der Ausschuss nicht in der Lage wäre, eine solche Manipulation zu erkennen. Entschuldigung, aber das Selbstbewusstsein dieses Ausschusses ist so stark, dass wir glauben, jede Manipulation zu erkennen. Und ich ahne, dass das Ministerium weiß, denen kannst du kein X für ein U vormachen. Das ist glatt weg eine der schönen Verschwörungstheorien, die man im Dunstkreis eines Untersuchungsausschusses mannigfaltig hat. Wir sind selbstbewusst und wir kriegen es raus. Unterschätzen Sie uns bitte nicht.
Armin Schuster
Journalistenfrage: "Frau H. kennt die komplette Taktik des Ausschusses, kennt sämtliche Beschlüsse, war in nicht-öffentlichen Sitzungen dabei. Sie weiß, sie gehört nicht zur Legislative, sondern zur Exekutive. Hätte Sie nicht früher selber sagen müssen, ich kann hier nicht agieren?"
Schuster: "Auch hier unterschätzen Sie uns wieder. Verlassen Sie sich darauf, wir stellen diese Fragen. Im Übrigen habe ich mich beim Vertreter des BMI bedankt, dass Frau H. aus meiner Sicht eine gute, sympathische und kompetente Arbeit abgeliefert hat. Die Arbeit des BfV darf in bestimmten Bereichen nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Ich kann nicht erkennen, dass ich irgendeine Information nicht erhalten habe. Wenn nicht in der öffentlichen Sitzung, dann in der nicht-öffentlichen Sitzung."
Journalistenfrage: "Ein Zeuge des BfV hat die Unwahrheit gesagt. Er hat verneint, Frau H. zu kennen. Wie gehen Sie damit um?"
Schuster: "Wir warten auf die Korrektur des Protokolls. Die darf er vornehmen."
Frage: "Er könnte sein 'Nein' in ein 'Ja' umändern?"
Schuster: "Können kann er alles. Das wäre aber praktisch eine Umkehrung seiner Aussage und würde Nachfragen nach sich ziehen."
Auch dieser Zeuge, Referatsgruppenleiter Gilbert Siebertz, soll erneut vorgeladen werden. Er ist jener BfV-Beamte, der bestritt, dass Anis Amri von seinem Amt "nachrichtendienstlich überwacht" wurde. Genau das hatte eine untergeordnete BfV-Beamtin, die die Akte Amri führte, zuvor zu Protokoll gegeben.
Die Aussagen des Ausschussvorsitzenden Armin Schuster sorgten vor allem bei den Opfern und Opferangehörigen des Anschlages, von denen mehrere in den Bundestag gekommen waren, für ziemliche Irritation. Kann jemand, der derart offen die Interessen der Exekutive vertritt, noch der richtige Mann für diesen Posten in einem Gremium sein, das das Handeln der Sicherheitsbehörden untersuchen soll?, fragte sich ein Betroffener.
Amri-UA im Abgeordnetenhaus von Berlin: Gab es eine weitere V-Person?
Die Tageskämpfe um die Aufklärung im Falle Amri beginnen in einen Dauerkonflikt auszuarten. Die Arbeit der Parlamentarier wird mehr und mehr behindert. Warum das möglicherweise so ist, dafür ergab sich nur einen Tag später im Amri-UA des Abgeordnetenhauses von Berlin ein ernst zu nehmender Hinweis: In der Nähe des mutmaßlichen Attentäters vom Breitscheidplatz könnte es eine weitere V-Person einer Sicherheitsbehörde gegeben haben. Mindestens fünf solcher Informanten im Umfeld des Tunesiers sind bisher bekannt. Nun gäbe es also bereits die sechste.
Nach wiederholten Anläufen konnten die Abgeordneten nun den Leiter eines Ermittlungskommissariats des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin, Abteilung Staatsschutz, befragen, genannt "Zeuge C-1", weil er der erste ist, dessen Nachname mit "C" beginnt.
Die Staatsschützer des LKA überwachten Amri, weil er als "Gefährder" eingestuft war und zudem gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel betrieb. Im Juli 2016 kam es in einer Shisha-Bar in Berlin zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen insgesamt sieben Drogendealern, mindestens sechs waren Tunesier. Vier Männer, darunter Amri, griffen drei andere an. Weil einer der drei Angegriffenen mit einem Messer schwer verletzt wurde, nahm sich das LKA der Sache an. Es gelang, die Namen von sechs Personen zu ermitteln, darunter Anis Amri. Die siebte Person gilt bis heute als unbekannt.
Im August 2016 kam es zu einer Besprechung des LKA mit dem Vizechef der Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg. Dabei ging es um den weiteren Umgang mit Amri (Spuren führen zur Generalstaatsanwaltschaft Berlin).
Das LKA, so der Kommissariatsleiter "Zeuge C-1", habe Amri "von der Straße holen" und einen Haftbefehl erwirken wollen. Beschlossen wurde aber, den Fall Amri von der Abteilung Staatsschutz abzuziehen und einem Rauschgiftkommissariat zu übergeben. Was dann tatsächlich unter der Verantwortung von LKA und Generalstaatsanwaltschaft geschah, war bisher ein Rätsel. Aus der Besprechung vom August 2016 sind bislang keine Konsequenzen bekannt. Es sieht so aus, als sei Amri nicht mehr vom LKA bearbeitet worden.
Jetzt machte der LKA-Mann "Herr C." Angaben, die auf ein anderes Szenario hindeuten könnten. Auf die Frage aus dem Ausschuss, ob sein Kommissariat die Ermittlungen nicht hätte weiterführen können, antwortete er: "Das wäre möglich gewesen, war aber nicht das Ergebnis der Besprechung [vom August 2018]."
Dann fügte er den Satz an: "Wir waren bemüht, uns als Staatsschutz aus der Wahrnehmung von Amri herauszuhalten." Und als der Ausschuss nachfragte, warum der Staatsschutz aus Amris Wahrnehmung herausgehalten werden sollte, sagte der LKA-Zeuge: "Es ging um Erkenntnisse, die eine Quelle lieferte, die zu schützen war." Hintergrund seien immer wieder "verdeckte Verfahren" sowie der "Schutz der V-Person" gewesen. Dabei habe auch die Behörde des Generalbundesanwaltes eine Rolle gespielt, sie habe bestimmte Informationen für die Ermittler nicht freigegeben.
"Verdeckte Verfahren", "Schutz einer Quelle" - das wirft unter anderem die Frage auf, ob es sich bei dieser zu schützenden V-Person möglicherweise um den nicht identifizierten siebten Mann bei der Schlägerei in der Shisha-Bar gehandelt haben könnte. Da er auf Seiten der Angreifer stand, würde das bedeuten, dass die Person unmittelbar Kontakt zu Amri gehabt hatte.
Bisher ist bekannt, dass es fünf Informanten im Umfeld von Amri gab: Eine V-Person des LKA Nordrhein-Westfalen; eine V-Person des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Berlin in der Fussilet-Moschee, in der auch Amri ein- und ausging; eine V-Person des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) in der selben Moschee; hinzu kommt eine weitere V-Person des LKA von NRW mit Kontakt zur Islamistengruppe um Abu Walaa; sowie in derselben Gruppierung auch eine Quelle eines jordanischen Geheimdienstes, die zugleich auf die mögliche internationale Dimension des Komplexes Amri hindeutet. Nun also ein weiterer Spitzel?
Nicht genug der Merkwürdigkeiten: Bei jener Messerstecherei vom 11. Juli 2016 saß in der Shisha-Bar, am Tatort, eine stadt- und polizeibekannte Person eines einflussreichen arabischen Clans, der in die organisierte Kriminalität verwickelt sein soll: Abou Ch. Als der LKA-Staatsschützer ganz gegen Ende seiner Vernehmung gefragt wurde, ob er Abou Ch. einmal dienstlich oder beruflich begegnet sei, fing er an zu schmunzeln und erklärte zur Überraschung: Beruflich sei er ihm nicht begegnet, aber "sportlich" sei er ihm bekannt. Es stellte sich heraus, Abou Ch. und der Staatsschützer kennen sich aus demselben Fitness-Studio. Ein Polizist, der gegen Amri ermittelt, kennt eine Person, die zugegen ist, als Amri in eine Messerstecherei verwickelt ist - ist das nur ein unglaublicher Zufall im Dorf Berlin? Allerdings ein Kennverhältnis, das erst mit zwei Jahren Verspätung bekannt wird.
Anis Amri hat immer wieder Handys und SIM-Karten gewechselt. Einem Handy blieb er allerdings treu, wie der Ausschuss herausgefunden hat: jenes rote Klapphandy, das neben einem zweiten Handy, seiner Geldbörse und der Duldungsbescheinigung der Ausländerbehörde von Kleve im Tatlastwagen gefunden wurde. Dieses Handy hat er nie ausgetauscht - warum?
Und schließlich noch eine Neuigkeit: Der Tunesier war 2011 nach Italien gekommen, wo er dann vier Jahre im Gefängnis saß, ehe er im Juli 2015 nach Deutschland einreiste. Dennoch soll Amri, worauf jetzt ein Abgeordneter gestoßen ist, sich 2016 mit Kontaktleuten in Berlin auch auf Deutsch unterhalten haben.