Anderes Radio Berlin, Version 5.0 (Beta)
Radio 1:1 experimentiert auf UKW in Berlin
Bereits seit Mitte Juni sendet in Berlin ein neues, temporäres Radio. Radio 1:1 begreift sich als Alternative zu den vorhandenen Radiostationen in der Hauptstadt. Es knüpft dabei an Radioprojekte der vergangen Jahre in Berlin an, indem es aus den nicht immer nur positiven Erfahrungen der Piraten-, Veranstaltungs- und Kulturradios lernen, und dabei eigene Wege bei der Programmgestaltung und der Selbstorganisation gehen möchte – oder vorhandene ausbauen.
Ein wichtiger Vorläufer von Radio 1:1 war reboot.fm, das 2004 für drei Monate aus dem Medienlabor Bootlab sendete und das aufwändigste Radioprojekt seiner Art der letzten Jahre in Berlin war. Radio 1:1 wird von einem Teil der Reboot-Crew verantwortet. Das Bootlab hat sich in seiner damaligen Form inzwischen aufgelöst, Radio 1:1 sendet daher aus dem Podewils'schen Palais in Berlin-Mitte, dort ist auch Radio Tesla beheimatet, eine Veranstaltungsreihe, die zusammen mit Deutschlandradio regelmäßig ausgewählte Stücke der Radiokunst zu Gehör bringt.
Schwerpunkt von Radio 1:1 ist die Veranstaltungsübertragung aus verschiedenen Berliner Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen und Clubs. Beteiligt sind u. a. die Akademie der Wissenschaften, das Hebbeltheater, das M12, das Haus der Kulturen der Welt, um nur einige zu nennen. Entstanden sind dabei Aufzeichnungen von Vorträgen wie Abwehr-Tagung: Die Feinde der Zukunft: Netze und Schwärme oder Laboratorium IN TRANSIT 06, aber auch Performances von Station Rose.
Dazu hat die Crew in vielen Einrichtungen Rechner aufgebaut, die die Veranstaltung aufnehmen und dann als Datei auf den Studiorechner schicken. Zu anderen Orten, in denen das technisch nicht möglich ist, geht die Crew aber auch ganz altmodisch mit einem MP3-Rekorder hin und stöpselt sich an die lokale Lautsprecheranlage an, um die Sendung dann mit der U-Bahn ins Studio zu bringen.
Die restliche Sendezeit wird mit ausgewähltem Archivmaterial der Radioprojekte vergangener Jahre oder mit Streams und Sets aus dem Internet gefüllt. Dazu kommen noch Live-Sendungen aus dem Studio, die aber nur einen geringen Anteil haben. Radio 1:1 wendet sich gegen das Dogma, wonach Radio am besten live aus dem Studio kommen muss. Dieses Dogma führe bei vielen Radiosendern dazu, dass den Hörern Live-Sendungen vorgegaukelt würden, während im Sendestudio niemand anwesend sei. Vielmehr könne eine sinnvolle Sendeautomation zu einem besseren Programmablauf beitragen.
Strukturiert werden die Sendungen durch ein Containermodell, das in ähnlicher Weise bereits bei reboot.fm angewandt wurde: Für die verschiedenen Kategorien (Diskussionen, Interviews, DJ-Mixe, Konzerte, Mischformate, Vorträge) sind Sendeblöcke vorgesehen, in die die Aufnahmen eingetaktet und entweder per Rechner automatisiert abgespielt oder aus dem Studio live übernommen werden.
Wie bereits bei Juniradio (2003) und reboot.fm ausgetestet, wird das Sendesignal nicht wie bei zeitlich begrenzten Veranstaltungsradios bislang üblich per Musiktaxi, einer mittlerweile antiquierten und überteuerten Übertragungstechnik via ISDN zur Sendeanlage übermittelt, sondern per DSL-Anbindung als Stream. Dabei hat sich das Team aus pragmatischen Gründen gegen den freien Codec "Ogg Vorbis" und für die proprietäre "MP3"-Variante entschieden.
Neu ist auch, dass für die Übertragung nicht mehr auf die Sendeanlagen des Ex-Monopolisten T-Systems zurückgegriffen werden muss. Vielmehr kann Radio 1:1 auf die Erfahrung und die Technik von Radio Copernicus zurückgreifen. Radio Copernicus hatte sich 2005 für das deutsch-polnische Radioprojekt eine eigene Sendeanlage durch die Bundesnetzagentur genehmigen lassen. Dieser Sender steht nun, wiederum genehmigt, auf einem Hochhaus im Stadtbezirk Friedrichshain.
War reboot.fm ein eher chaotischer Haufen von Medienmenschen, die es mehr oder weniger gut schafften, sehr verschiedene Inhalte in einen Sendeablauf zu pressen, der sortierend wirken sollte, gibt sich Radio 1:1 strukturell organisierter und weniger anarchistisch. Getragen von Klubradio und finanziert durch den Hauptstadtkulturfonds hat das Projekt klarere Verantwortlichkeiten und überschaubarere Strukturen – das Kind "Alternatives Radio" will auch in Berlin erwachsen werden. Dennoch dauerte es einige Tage, bis die Crew ihre Form fand und die Technik reibungslos lief. Und experimentiert wird nach wie vor: Während sich das Radio im Untertitel anfänglich auf die Fußball-WM bezog, bezeichnet es sich inzwischen als der "Dokukanal aus Berlin".
Radio 1:1 ist noch bis Ende Juli 2006 auf der Frequenz 95,2 MHz auf UKW in Berlin oder als Stream zu empfangen.