Angriff auf Israel: Sieg der Radikalen
Der brutale Angriff der Islamisten wird Folgen haben. Doch der beginnende Krieg hat auch innenpolitische Folgen. Wie aber steht es um Verantwortung und Auswege? Ein Telepolis-Leitartikel.
Während die Welt schockiert auf die Nachrichten und Bilder des Angriffs der palästinensischen Hamas-Miliz und offenbar weiterer bewaffeneter Gruppen auf Israel reagiert, die israelische Armee eine totale Blockade des Gebietes erklärt hat und eine Bodenoffensive gegen "menschliche Tiere", so Verteidigungsminister Yoav Gallant, vorbereitet, schwebt eine Frage über all dem: Wie konnte es so weit kommen?
Einige Antworten darauf sind unangenehm für diejenigen, die jetzt reflexartig ihre uneingeschränkte Solidarität mit der rechts-religiösen Führung unter Benjamin Netanjahu erklären.
Warum die palästinensischen Islamisten gerade jetzt zugeschlagen haben, kann freilich nur den verwundern, der die Augen vor dem Konflikt verschlossen hat. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat seit Antritt seiner jüngsten Regierung im Dezember 2022 die Auseinandersetzung mit den Palästinensern – vor allem im Gaza-Streifen – konsequent verschärft.
So auch im Mai dieses Jahres. Eine Woche vor dem Gedenken an den 75. Jahrestag der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Staatsgründung bombardierte die israelische Luftwaffe Ziele im Gazastreifen. Die Wahrnehmung der Folgen war im Westen, gelinde gesagt, defizitär.
40 Kampfflugzeuge waren an den Luftschlägen auf eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt beteiligt. Die Operation "Schild und Pfeil" richtete sich nach Angaben der israelischen Armee gegen den "Islamischen Dschihad" und tötete drei seiner Kommandeure.
Der britische Guardian berichtete am Folgetag, nach Angaben palästinensischer Offizieller seien zugleich "mindestens neun Zivilisten, darunter drei Kinder, getötet" worden.
Als das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (Ocha) einige Tage später eine erste Bilanz der Angriffe veröffentlichte, war das Thema bereits aus den meisten Medien wieder verschwunden. Zwischenstand damals: Mindestens zwölf Zivilisten wurden getötet, darunter vier Mädchen, zwei Jungen, vier Frauen und zwei Männer. 190 Menschen wurden in Gaza verletzt, darunter 64 Kinder und 38 Frauen. In Israel starben eine israelische Frau und ein palästinensischer Arbeiter durch Raketen aus Gaza, 40 Menschen trugen dort Verletzungen davon.
Nahost-Konflikt, Gewalt und Doppelmoral
Das alles ist nicht neu. Es wiederholt sich seit Jahren, fast Jahrzehnten, in einer Art und Weise, die empathische Beobachter nur resignieren und verzweifeln lassen kann. Auch die wiederholten israelischen Angriffe und die ständigen – eben auch zivilen – Opfer in Gaza, von denen in den regelmäßigen Ocha-Berichten ebenso zu lesen ist wie von den zivilen Opfern des Konflikts auf israelischer Seite, ziehen sich wie eine blutige Konstante durch die Geschichte des Nahostkonflikts.
Gleiches gilt für die Doppelmoral der westlichen Staaten. Als US-Präsident Joe Biden Mitte Juni 2021 den russischen Präsidenten Wladimir Putin traf, sagte er: "Wie könnte ich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein und mich nicht gegen die Verletzung von Menschenrechten aussprechen?" Die US-Zeitung USA Today jubelte daraufhin: "Die moralische Klarheit der USA ist zurück".
Aber die galt und gilt eben nur selektiv. Denn damals schon zogen israelische Nationalisten am Jerusalemer Damaskustor vorbei, einige skandierten: "Tod den Arabern". Das war wörtlich zu nehmen: Fast parallel zu Bidens Wiederentdeckung des moralischen Kompasses der USA bombardierten israelische Kampfflugzeuge – damals noch unter der Regierung von Neftali Bennett – Ziele in Gaza. Wieder starben Zivilisten. Wieder stand es in den Ocha-Berichten. Wieder interessierte das im Westen kaum jemanden.
Das Schlimme an der aktuellen Eskalation, die am heutigen Montag selbst in liberalen Medien Israels wie der Tageszeitung Haaretz schon nicht mehr unter dem Schlagwort "Gaza-Angriff", sondern bereits als "Israel-Gaza-Krieg" eingeordnet wird, ist, dass sie den Hardlinern auf beiden Seiten nützt.
Die brutalen und völlig enthemmten Angriffe von Hamas-Milizionären auf Zivilisten in Israel werden im Westen zu Recht mit Entsetzen aufgenommen. In Gaza und Berlin-Neukölln werden sie bejubelt. Und in Israel ziehen junge Männer und Frauen in den Krieg, die noch vor wenigen Tagen gegen die rechts-religiöse Führung Netanjahus auf die Straße gegangen sind.
Die Rolle von Benjamin Netanjahu
Vor diesem Hintergrund wird nun vor allem in Israel die Frage diskutiert, wie es zu dem schier unglaublichen Versagen eines der professionellsten, technisch und personell am besten ausgestatteten Sicherheitsapparate der Welt kommen konnte.
Kommentatoren in der israelischen Tagespresse und in Talkshows haben seit dem Wochenende immer wieder darauf hingewiesen, dass der in letzter Zeit oft gezogene Vergleich zwischen dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren und dem aktuellen Angriff an einer entscheidenden Stelle hinkt: Damals hatten die Sicherheitsbehörden umfassende Informationen über den bevorstehenden Überfall, doch die politisch Verantwortlichen versagten. Diesmal war es ein systemisches Scheitern, das dennoch ein Gesicht hat: das von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Der israelische Historiker Moshe Zimmermann bezeichnete den Angriff vom Wochenende in einem ARD-Interview als nicht überraschend, er sei eine Folge der politischen Ausweglosigkeit. Zimmermann fügte an:
Wir wissen zumindest, dass die Division, die eigentlich die Südgrenze zu Gaza bewachen sollte, in die besetzten Gebiete im Westjordanland verlegt wurde, weil es eben die Priorität dieser Regierung ist, die Siedler im Westjordanland zu schützen und nicht die Menschen im israelischen Kernland, die an dieser Grenze zu Gaza leben
Moshe Zimmermann in der ARD
Am vergangenen Wochenende fand das schlimmste Pogrom gegen Juden seit dem Holocaust statt. Das erschüttert den Staat Israel in seinen Grundfesten, vielleicht mehr als der vor 50 Jahren erwartete Angriff arabischer Staaten.
Die Reaktion wird hart.
Die Gegenreaktion härter
Die Gegengegenreaktion noch härter.
Die Gegengegengegenreaktion erneut härter.
Die Gegengegengegengegenreaktion die härteste bis dahin ...
Wie aber können Israel und Palästina (und nicht die Hamas) Frieden finden?
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