Angriff auf Kinderklinik in Kiew: Warum dieser Luftschlag keine Konsequenzen haben wird
Optionen nach Angriff begrenzt. Das liegt an der Selbsttäuschung westlicher Staaten. Und an der Haltung zum Völkerrecht. Ein Telepolis-Leitartikel.
Nach dem Einschlag eines russischen Marschflugkörpers in der Nähe eines Kinderkrankenhauses in Kiew ist das Entsetzen groß. In Deutschland forderten mehrere Politiker und Lobbyisten verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine.
Zum einen wird Unterstützung bei der Luftabwehr gefordert, zum anderen grünes Licht von westlichen Staaten, damit die Ukraine ihre Waffen auch auf russischem Territorium einsetzen kann.
Der Rauch des Einschlags war noch nicht verzogen, der Schutt lange nicht weggeräumt, da versank die Debatte schon wieder in Moral und Propaganda.
"Täglich ermordet Putin Zivilisten. Trotzdem erklären Politiker von AfD bis BSW, die Ukraine müsse mit dem Aggressor verhandeln", schrieb die ehemalige Justizministerin Sabine Leithäuser-Schnarrenberger (FDP). Das sei absurd, denn damit würde der russische Präsident Wladimir Putin für Angriffe auf Kinderkrankenhäuser noch belohnt.
"Krieg nach Russland tragen"
Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter nannte es "ebenso sinnvoll wie notwendig, die Ukraine in die Lage zu versetzen, den Krieg nach Russland zu tragen".
Solche Stimmen gibt es am Tag nach der massiven russischen Angriffswelle auf die ukrainische Hauptstadt Kiew in den sozialen Netzwerken zuhauf. Sowohl die Luftangriffe Russlands als auch die Debatte in den Nato-Staaten deuten also auf eine weitere Zuspitzung der Lage hin.
Das liegt wohl auch im Kalkül Moskaus: Es ist davon auszugehen, dass dieser Angriff nicht nur der Ukraine galt, sondern auch der Nato, die heute in Washington über ihr weiteres Vorgehen im Ukraine-Krieg berät.
Keine Alternativen zu Krieg
Die Aggressivität der Debatte, die teilweise gezielt darauf abzielt, jede Alternative oder Flankierung zur weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine zu diskreditieren, verstellt zugleich einen realistischen Blick auf die ukrainische und gesamteuropäische Perspektive des Konflikts.
Die Moralisierung ist aus mehreren Gründen schal. Denn sie basiert unausgesprochen auf der These, es gäbe gute und schlechte Kriege; solche, in denen keine Zivilisten zu Schaden kommen, und solche, wie sie Russland in der Ukraine führt.
Die Weltgesundheitsorganisation hat schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass die israelische Armee alle Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört oder weitgehend unbrauchbar gemacht hat. Die politischen und diplomatischen Konsequenzen in Europa gingen gegen null. Es ist genau diese Doppelzüngigkeit der westlichen Staaten, die in den Staaten des Globalen Südens wahrgenommen wird und zu Schlussfolgerungen führt.
Das Moralisieren ist auch deshalb unehrlich, weil es die Konsequenzen verschweigt. Wer sich für Verhandlungen ausspricht, läuft Gefahr, als mitschuldig an Angriffen auf Zivilisten diffamiert zu werden. Sicherheitspolitisch sind solche Reflexe völlig unsinnig.
Verhandlungen als Belohnung?
Verhandlungen mit Moskau sind keine Belohnung für Putin. Es sei denn, man geht davon aus, dass die eigene Verhandlungsposition so schwach ist, dass Russland in jedem Fall als Sieger aus den Gesprächen hervorgeht.
Ist dies nicht der Fall, dann würden Verhandlungen zunächst dazu beitragen, die realistischen Chancen für eine Beendigung des Krieges auszuloten.
Ein historisches Beispiel sind die Verhandlungen mit den Nordvietnamesen noch während des Krieges: Die Kämpfe gingen weiter, eine politische Lösung wurde gesucht. Die Verengung einer solchen zivile und militärische Sicherheitspolitik auf das rein Militärische ist eines der Dilemmata der gegenwärtigen Situation.
Krieg als Fortsetzung des Krieges
Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sagte einst der preußische General Carl von Clausewitz. Inzwischen gilt in weiten Teilen des Nato-Gebietes nur noch Krieg als Fortsetzung des Krieges.
Das ist in hohem Maße unehrlich, wie der Nato-Gipfel ab heute zeigen wird. Denn wer den Krieg bis zum Sieg der Ukraine über Russland fortsetzen will, muss sich und seiner Bevölkerung gegenüber ehrlich sein.
Das hieße, mit allen militärischen Mitteln in diesen Konflikt einzugreifen – und nicht nur ein, zwei Flugabwehrgeschütze und ausrangiertes Gerät zu liefern, das nur noch vorhanden ist, weil es noch nicht verschrottet werden konnte.
Anspruch und Realität
Das Gegenteil ist der Fall: Seit nunmehr über zwei Jahren wird immer nur das Nötigste nach Kiew geliefert, oft sogar noch weniger. Und das wird sich auch nicht ändern, denn je länger dieser Krieg dauert, desto größer wird der Widerstand in den westlichen Staaten, weil er Ressourcen verbraucht, die dort fehlen.
Die Moralisierung in der Bewertung dieses Krieges geht einher mit einer erheblichen Unehrlichkeit; zugleich bedingt sich beides gegenseitig. Das zeigt sich zum Beispiel in der Frage der Waffenlieferungen. Selbst der US-Auslandssender Radio Free Europe weist dieser Tage darauf hin, dass die Munitionslieferungen aus Europa an die Ukraine tatsächlich weit hinter den Zusagen zurückbleiben. Die europäischen Nato-Staaten lügen sich bei der Unterstützung der Ukraine in die eigene Tasche - und werden dann selbst Opfer ihrer Manipulation:
Die Kapazität der Europäischen Union, 155mm-Artilleriemunition zu produzieren, könnte weniger als halb so groß sein, wie die öffentlichen Schätzungen hochrangiger EU-Beamter vermuten lassen.
Radio Free Europe
Kurzum: Die Angriffswelle auf Kiew vom Wochenende wird erstens keine Konsequenzen haben, die den Krieg zugunsten der Ukraine verändern. Und solche Angriffe wird es weiterhin geben, solange das russische Militär die Möglichkeit dazu hat. Eine Änderung der Lage ist hier nicht absehbar.
Zweitens könnte sich das Kräfteverhältnis nur ändern, wenn die europäischen Nato-Staaten "all in" gehen, also eine direkte militärische Konfrontation mit Russland auf ukrainischem Boden riskieren, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat. Dafür gibt es keine Mehrheit.
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Und drittens könnten solche Konsequenzen nur auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts gezogen werden. Es gibt aber kaum völkerrechtliche Möglichkeit, Luftangriffe mit zivilen Opfern zu sanktionieren.
Nach einer Raketenexplosion auf dem Marktplatz der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka, bei der im vergangenen Herbst mehrere Zivilisten ums Leben kamen, war die Debatte bereits einmal aufgeflammt. Eine Recherche der New York Times hatte damals eine ukrainische Rakete als Ursache ausgemacht - eine These, die Kiew vehement zurückwies.
Das Römische Statut
Andreas Schüller, Rechtsanwalt und Experte für Völkerstraftaten, betonte die Notwendigkeit der Aufklärung und die Bedeutung einer unparteiischen Untersuchung. In einem Interview mit Telepolis machte er deutlich, dass der Umgang mit solchen Vorfällen im Kriegskontext nicht nur von der Transparenz der Ermittlungen abhängt, sondern auch von der Einhaltung und Anerkennung des Völkerrechts.
Die Ukraine hat das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht ratifiziert, sondern dessen Zuständigkeit lediglich in Ad-hoc-Erklärungen anerkannt. Dies habe Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und das Vertrauen in die Strafverfolgung, so Schüller.
Verweigerung in Moskau und Kiew
Um entsprechende Vorfälle unabhängig aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sei daher eine umfassende Anerkennung des Römischen Statuts durch Russland und die Ukraine notwendig. Beide Seiten verweigern dies.
Die strafrechtliche Verfolgung von Luftangriffen ist komplex. Schüller verweist als Beispiel auf die "Bombennacht von Kunduz", bei der ein Angriff mit vielen zivilen Opfern nicht als rechtswidrig eingestuft wurde, weil der Kommandeur im Glauben gehandelt habe, ein militärisches Ziel anzugreifen.
In keinem Fall gibt es die Möglichkeit, einen Staatschef wie Putin in diesem Zusammenhang zur Verantwortung zu ziehen. Das alles ist Wunschdenken und basiert auf dem Versuch, die Debatte politisch zu beeinflussen.
Verantwortung und Doppelmaß
Die Europäische Union sammelt zwar Informationen über mutmaßliche russische Kriegsverbrechen. Doch ohne die kaum zu erwartende Kooperation Moskaus sind den Ermittlungen Grenzen gesetzt. Dennoch bereiten sich viele Staaten darauf vor, Beweise für künftige Verfahren zu sammeln, auch wenn derzeit keine Auslieferungen aus Russland zu erwarten sind.
Die Diskussion um die strafrechtliche Verfolgung von Luftangriffen und die Bedeutung völkerrechtlicher Normen für die Untersuchung solcher Vorfälle im Kriegskontext wirft wichtige Fragen der Verantwortlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte auf. Es zeigt sich, dass Ermittlungen im Schatten des Krieges nicht nur für die beteiligten Parteien, sondern auch für die internationale Gemeinschaft eine Herausforderung darstellen.
PS: Beim Angriff Russlands auf das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt in Kiew sind nach Angaben vor Ort zwei Menschen ums Leben gekommen.
PPS: Bei einem israelischen Angriff auf eine Schule in Gaza kamen nach Angaben vor Ort 16 Menschen ums Leben.