Angst vor Familienwahnsinn am 24. Dezember?

Bild: TP

Nehmen Sie sich halt frei! Eine Solotour durch München

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Als ich am Morgen des 24. Dezember im Jahre 2017 von vier doppelten Mokka angestachelt in mein Hotelzimmer mit Blick auf das modergrüne Kuppeldoppel der Frauenkirche zurückkehre, steht auf dem Schreibtisch ein Körbchen aus Bast, in dem sich Trüffelkugeln, Schnapsbohnen, Dresdener Stollenbrocken und einige Zimtwürfel befinden. Das Ensemble macht den Eindruck, in den letzten Tagen schon ein wenig im Haus herumgekommen zu sein.

Ich hatte bis dato keinen Plan für diesen Tag. Mit all den Jahren hat es sich der Mann, von dem hier die Rede ist, im zugigen Tempel einer heiteren Einsamkeit wohnlich gemacht. Doch die ungeschickte, fast beleidigende Aufmerksamkeit des Hauses verstört ihn jetzt. Es windet aus dem Nichts heraus so eine Art pränatale Unruhe in ihm auf - es muss etwas geschehen!

Schon gegen 14 Uhr senkt sich feuchtgrauer Nebel und ich gehe die Maximilianstraße entlang, wissend, dass unser Leben letztlich keinem Kalender gehorcht. Ein rotierendes Symposium aus fetten Stadttauben nimmt vor dem "Brenners" Platz. Barmann Ali, lustlos staubsaugend, winkt und deutet entschuldigend auf seine Uhr. Aus der Fußgängerunterführung hallen Pfennigabsätze. In der Falk-Bar des "Bayerischen Hofs" inspiriert mich der mandarinblasse Stuckkitsch zu einem doppelten Pastis.

Eine zierliche ältere Dame mit einem runden und sehr roten Hut und einer tuberkulösen Stimme sitzt an der Theke und fragt mich, nach gründlicher Musterung: "Junger Mann, Sie erinnern mich an Claude, einen Kapitän aus Marseille! Sind Sie Claude?" Ich habe gute Lust zu bejahen. Wir sprechen dann über die Florianskastraße in Krakau, die Matrosenkneipen von Antwerpen, stoßen immer wieder auf gemeinsame Impressionen an und ziehen gelegentlich auch den Barmann mit ein, der sich seinerseits gut im Großraum Wolfratshausen auskennt.

Im "Schellingsalon" , wo vor langer Zeit vergleichbare Unruhegeister, nämlich Hitler und Lenin aus- und eingingen, komme ich neben einem, wie sich erweist, Tölpel zu sitzen, der eine "Red Bull"-Baseballmütze trägt. Ansonsten findet man dort unter nikotingrauen Bildern menschliche Paare, schweigend und kauend. Der Mützenmann erzählt einer Frau mit Bedienungsschürze, dass ihn seine Alte neuerdings nötige, zu Hause die Schuhe auszuziehen, er, Schuhe ausziehen, aber da habe sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Bedienung meint nach einigem Überlegen, dass im Universum nichts verlorengehe und Energie sich ohnehin selbst erhalte und zwar annähernd hundertprozentig. "Mag sein", antwortet der Pantoffelheld nach einer Denkpause.

In der Schellingstrasse als solcher sehe ich Umrisse von Menschen, die meisten mit der Mode entglittenen Pudelmützen. Sie öffnen synchron die Kofferräume unscheinbarer Autos und verstauen dort mit ausdrucksloser Miene Säcke voll mit gebrauchter Wäsche sowie als Geschenke verpackte Mitbringsel. Die sich diffus großstädtisch zierenden Umrisse geben in Intervallen Atemwolken von sich. Etwas fragt in mir: Engel oder Dämonen?

Die Glocken der Ludwigskirche läuten jetzt um 16 Uhr stürmisch. Die Stunde der Bescherungen. Ich beschleunige meinen Gang. Ein Linienbus rollt langsam die Leopoldstraße Richtung Stadtausgang. Die einzige Seele besteht in dem Fahrer, der einen Talibanbart aufweist und in ein iPhone flüstert. Vielleicht eine Sure oder ein Codewort, um irgendwo einen Schläfer zu aktivieren, der dann mit einem polnischen Truck Glühweinstände umfährt.

In der Bar des "Vier-Jahreszeiten"-Hotels gebe ich eine blaue Margarita ohne Salzrand in Auftrag. Der auszubildende Kellner besorgt sich telefonisch die Ingredienzenliste und nach endlosen Minuten liefert er eine giftgrüne Cocktailschale mit Zuckerornament ab. Unsicher verfolgt er meinen Probeschluck. Ich nicke nichtssagend und wünsche ihm einen frohen Rutsch. Am Nachbartisch spricht eine ältere Frau, die mich an die späte Elisabeth Flickenschildt erinnert mit nasaler Schärfe auf ihre ziemlich ermattete Tochter ein: "Und noch etwas, Jasmin", sagt sie, "ich ertrage seine Gegenwart einfach nicht mehr." "Wem sagst du das, meine Süße", erwidert die Tochter und pudert sich dabei die Wangen.

Im lautlosen Fernsehgerät zeigt ein uniformierter Bundeswehrsoldat die Speisefolge der deutschen Soldaten in einer Kaserne in Mali. Rechts oben im Bild lächelt das Röschen Ursula. Unten warnt ein Breaking News-Band vor einer Bitcoin-Blase. Auf dem Weg zur Toilette fragt mich ein Mädchen im Raumpflegekostüm und mit einem Metallring an der Nase: "Bei Ihnen alles in Ordnung?" "Gerne", antworte ich.

18 Uhr. Tagesschau.

Im Hofbräuhaus spielt heute keine Kapelle, was natürlich mit Jesus zu tun hat. Ich bestaune Unmengen ausgelassener Asiaten, die rote Wollkapuzen tragen und grauglänzende Kinnbärte. Es fliegen warme Schweinsteile und aufrecht stehende Würste an mir vorbei, dazu dunkles Bier in Dutzendrunden. Am Nachbartisch bemerke ich feindselige Blicke aus einer Runde heimisch-platzadriger Bierbacken. Einem von ihnen fällt eine Schnupftabakdose auf den Boden. Beim Bücken löst sich seine Trump-Perücke vom kahlen Kopf, was lautes Lachen verursacht, auch bei den Exoten.

"We won't get fooled again", dröhnt es schräg gegenüber im "Hard Rock Café". Ich sitze mit meinem Martini neben der hängenden Gitarre von Martin Barre von Jethro Tull, und schaue über das globale Bio-Burgerglück hinweg, wo viele blonde Mädchen mit streng gebundenem Pferdeschwanz schwatzen und schwatzen, während ihre beliebigen Begleiter auf die überall herumstehenden Monitore gaffen - so wie früher in der Zentrale des Nasa- Bodenpersonals in Houston.

Klar, man kann zum Mond fliegen oder nach Houston oder Jerusalem besuchen, solange es noch steht. Man kann sich aber auch ein paar Rohypnol einpfeifen oder jemanden erschießen, wenn man alleine ist an so einem Tag. Das soll jeder so halten, wie er mag. Ich fühle mich allerdings sehr geborgen.

"Wissen Sie eigentlich überhaupt", fragt mich ein Mann an der von Kotbraun dominierten Bar des Sofitels in Bahnhofsnähe, "dass Bill Clinton regelmäßig zur Blutwäsche in die Schweiz geht?" Er führt sein Weizenbier an den Mund. "Drogen. Unmengen Drogen. Und dann noch die Haiti-Stiftung. Ein pädophiler Sumpf, deswegen auch das Wahlergebnis. Die Putinhacker, reine Ablenkung. Mossad, sage ich. Das weiß doch sonst keine Sau hierzulande." Dann beginnt er über seine geschiedene Frau zu sprechen. Wenig später halte ich seine Visitenkarte in der Hand. Ein Blogger. Ich sage zu, mich bald zu melden.

Im heute-journal werden die Kosten für unbekleidete, falsch, ich korrigiere: unbegleitete Jungflüchtlinge aufgelistet. Und jemand von der Polizeigewerkschaft warnt vor einer Wiederholung des Kölner Sylvesters.

Man wird das Gefühl nicht los, dass die Ankunft des Messias ins Haus steht. Schillerstraße. 19.30 Uhr. Candy-Bar oder so ähnlich. "Married?", fragt Ilona, eine Strip-Tänzerin aus Moldawien. Sie streichelt mir durch die Haare, legt ihre kerzengeraden Beine über meine Knie, zieht ihren lackledrigen Rocksaum zurecht und lässt zwei kohlenbraune Augen aufblitzen. Ich verschleudere einige Komplimente, worauf sie etwas schmilzt und bestelle noch zwei Piccolo. Auf der anderen Straßenseite leuchtet das limettengrüne Neon eines Pensionsschilds. Bedauernd zuckt Ilona mit einem ihrer Mundwinkel und deutet knapp auf den Fleischberg im Tigermuster hinter der Theke, offenbar die Chefin.

Draußen steht eine Politesse in breitbeiniger Haltung vor einem Auto, tippt dessen Kennzeichen in einen ambulanten Computer und heftet eine Notiz unter die Scheibenwischer. Ein Mann an der Bar beschwert sich brüllend, dass man ihm hier viel zu viel abknöpfen würde, obwohl nicht mal blasen drin sei. Ich mache eine beschwichtigende Geste in seine Richtung. Im Buch Mose 25, 4 steht ja: "Du sollst dem Ochsen, der da drischt nicht das Maul verbinden". Und das führt ja direkt zu Paulus in den Korintherbriefen. " Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen?"

Während ich versuche, diese Passagen dialektisch zu Ende zu hämmern, lackiert sich Ilona die Nägel in Lachsrosa. Die Chefin lächelt. "Was lachst du Fettel jetzt so blöde?" kräht der tumbe Gast. Ich bezahle seine Zeche und bringe ihn zur Tür. Aus dem weihnachtlichen Nebel hört man unglaublich phantasielose Verwünschungen, die erst abklingen, als die Politesse auf ihn aufmerksam wird.

"Ich suche eine Wohnung", meint Ilona. In der Ecke erwacht ein vielleicht zehnjähriges Kind, das ich bis dato für ein Kissen gehalten hatte. Es gähnt und zündet sich umstandslos eine Zigarette an. Auf der Schachtel sind die Warnhinweise in arabischen Buchstaben vermerkt. Inzwischen läuft indische Musik, weil die Chefin derzeit einen Yogakurs belegt, allerdings, wie sie sagt "bei einem ganz einem mittelmäßigen Baraber". Ich denke an unsere Soldaten in Mali und ihre Menüfolge an diesem Heiligen Abend.

Nina aus dem türkischen Teil von Zypern gesellt sich zu uns. Noch drei Piccolo. Dann entspinnt sich ein nur teilweise erotisierendes Gespräch über Männer, Frauen, Geld, die Kathedrale von Bellapais, ob ich noch eine Runde ausgeben könnte, kann ich. und die Grundstückspreise in Nikosia und woher das Wort Lagune kommt. "Weißt du, Wolf, ich liebe nur mich", sagt Ilona am Ende. "Ich liebe letztlich nur noch mich, ja, ich liebe mich. Doch." Nun schauen alle schweigend auf den blinkenden Spielautomaten. Nur das Kind hustet routiniert.

Hinter einer Litfaßsäule, auf der "Brot für die Welt" mit kryptischen Zeilen zu Spenden einlädt, frieren zwei kosovarische Heroinhändler. Die Sucht kennt keinen Heiligen Abend und wer an den Mohn gefesselt ist, kennt den Stadtplan. "Unwirkliche Stadt. Unter dem grauen Nebel eines Wintermorgens erscheint Mr. Eugenidis, Kaufmann aus Smyrna, noch unrasiert, die Taschen voll Korinthen . . . " Das ist aus Eliot: "Waste Land", für den, der es wissen will.

Ein Orientale, ein schöner Mann, zudem rasiert und vielleicht 47 Frühlinge im Herzen, stellt in den Arkaden ein hölzernes Gestänge auf und ein Schild, das ihn als Porträtmaler ausweist. Außer der Politesse, die gegenüber dem Trunkenbold auf den Zahn fühlt und den schemenhaften UCK-Freizeitapothekern ist aber gegen 22 Uhr keine Seele hier auf der Straße und gerade die wollen ja nur ungern porträtiert werden. Mir fehlt auch die rechte Lust. "Macht nichts", meint der Straßenkünstler, er sei ohnehin Patenterfinder, im Maschinenbausektor, er habe Innovationen im Köcher, womit er ganze Armeen, auch die derzeit bei Röschen so beliebten Peschmerga, in Vorteil bringen könne, er sei dicht vor einem großen Coup, er sage nur "Tarnkappenpanzer". Als ich ihm die Visitenkarte des Bloggers überreiche, meint er leutselig: "Wir sollten uns kurzschließen."

Aus einem hinter mir haltenden Taxi entweicht ein Schwall spirituellen Kirchenliedguts, zwei Wesen mit bunten Haaren und klirrenden Metallhosen steigen aus und versuchen das mächtige Torkeln in eine Umarmung zu fügen - so wie in dem Film dieser Liebenden von Pont Neuf. Auch bei mir beginnt der ganze Fusel allmählich zu wirken und Lukas 33 schießt mir durch den halbgaren Kopf: "Wer sein Leben zu erhalten versucht, wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen."

An einem riesigen Tannenbaum nahe der Ottostraße flackert eine LED-Lichterkette. In einer mir bisher unbekannten Loungehalle für Very Happy Fews stoße ich auf ein paar extrem flüchtige Bekannte. Es sind Anwälte, Makler und Galeristen in Begleitung gekränkt dreinschauender Ehefrauen, die zu einer unverkäuflichen Edward-Hopper-Studie gehören könnten. Eine Dame am Einlasspult drückt mir eine kleine Packung Gummibärchen in die Hand. "Für dich" meint sie mit lallender Betonung auf Für und Dich.

Im "Ungewitter" - einer rundum von Polaroidfotos bestückten Insiderschänke für Suchtgefährdete im fortgeschrittenen Stadium - werde ich fast in eine Prügelei mit einem tirolischen Fahrschullehrer verwickelt, der mich mit jemandem verwechselt, der wohl vor kurzem mit seiner Frau etwas zu lange auf dem stillgelegten Friedhof gegenüber eine rauchen ging.

Im Hintergrund läuft "Midnight Rambler". Dazu Stimmengewirr, Juchzer und jede Menge gefallene Engel, frohlockend, als ob bereits Silvester in Köln wäre. "Sag mal, leben deine Eltern noch?" Die unvermittelte Frage kommt von einer alten Freundin aus Berliner Unitagen; es ging in dem Seminar damals darum, ob man Till Eulenspiegel als vormarxistische Erscheinung des Antifeudalismus bezeichnen kann. Solche Belange klären die jungen Leute heute mit einer Geschichte-App. Wenig später schlendern wir konspirativen Schritts wie Sartre und Beaujolais in Richtung "Kalypso". Der Nebel erinnert mich an einen Film mit Jean Gabin.

Beim Griechen riecht es so sehr nach Altfisch, dass wir uns für einen doppelten Ouzo aus Lesbos entscheiden, was sie dazu veranlasst, die Lage der Flüchtlinge auf dieser sonst so schönen Insel zu erwähnen. Auch sonst stelle ich fest, dass die meisten Leute hier ohne erkennbares System durcheinanderreden.

Mitternacht. Endlich ist das Mysterium überwunden. Die meisten Menschen haben den Gabentischen, den zu Alten und zu Jungen den Rücken gekehrt und werfen sich jetzt mit zelotischer Konfusion in die Zukunft. Ich habe das Gefühl, einen viel zu langen Mittagsschlaf hinter mir zu haben. Frischluft. Ich lasse Sylvia bei dem kretischen Baggerverleiher, einem, wie sie weiß, Ex-Trotzkisten sitzen und finde mich wenig später in der "Schwabinger 7" wieder, in dem schon Andreas Baader mit entlaufenen Heimkindern Apfelkorn zechte. Hier holt mich immer das Gefühl ein, nächste Woche mit Polizeigewalt zum mündlichen Abitur vorgeführt zu werden, Thema Goethe und Iphigenie auf Taurus. Setzen, sechs.

Wie bestellt haut mir Antonio, ein Grieche, der aussieht wie ein Belgier, seine Pranke auf die Schulter, stellt eine gemeinsame Reise nach Baden-Baden in Aussicht, zum 2018-Frühjahrsmeeting der Galopper. "Kohle ohne Ende", sagt er mehrmals, was wenigstens dazu führt, dass ich das nervige Gelb der Reclamhefte aus meinem sadistischen Über-Ich-Sektor streichen kann. Viele junge Mädchen tanzen mittlerweile auf Tischen, eine von ihnen balanciert eine Flasche auf dem Kopf, hammerharter Rap dröhnt, Hysterie, Gekreische, das Übliche halt beim Exorzismus. Eine Blechkanone versprüht jetzt Kunstschnee und die mit frischem Bargeld ausgestatteten Hobby-Hedonisten werfen gierige Blicke um sich, wie Verfolgte der hausgemachten Selbstsucht.

Mitten in meine missmutige Laune fragt mich eine, ob ich jemanden gesehen hätte, an dessen Namen sie sich aber gerade nicht erinnern kann. Mir fällt schon wieder Eliot ein und ich antworte mit schwerer Zunge: "Du gar nichts? Siehst du gar nichts? Erinnerst du dich an nichts? Bist du lebendig oder nicht?" Dafür gibt es einen Kuss, der mein Trommelfell löchert.

Fünf Uhr. Fette, tintenschwarze Krähen gesellen sich zu dem Wanderer. Die Welt ist in großem Grau und der Eisbach rauscht wie Korsikas Wasserfälle. Das Haus der Kunst steckt im Rasen des Englischen Gartens wie ein gestrandetes Containerschiff. Es ist vollbracht.