"Angst vor der Unzufriedenheit Russlands"
Der türkische Außenminister beklagt in der Bild-Zeitung, Paris und Berlin würden den NATO-Beitritt Georgiens blockieren
Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat sich in der deutschen Bild-Zeitung darüber beschwert, dass man in Paris und Berlin einen Beitritt des nördlichen Türkei-Nachbarn Georgien zur NATO "aus Angst vor der Unzufriedenheit Russlands" blockieren würde.
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte dagegen bei seinem Georgien-Besuch im Oktober verlautbart, man werde das Land "bei dessen Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der EU und der NATO weiter unterstützen", auch wenn man sich "sehr bewusst [sei], dass Georgien in keiner einfachen Nachbarschaft lebt". Damit spielte er auf die Territorialstreitigkeiten in Südossetien und Abchasien an, in die auch Russland verwickelt ist.
Abchasien
Abchasien, das von 1931 bis zum Ende des Kalten Krieges als Autonome Republik zur Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörte, wurde bei der Auflösung der Sowjetunion vom damaligen Vorsitzende des Obersten Sowjets der Autonomen Republik für unabhängig erklärt. Danach kam es zu einem Krieg gegen Georgien, an dem sich auf Seiten der großteils moslemischen Abchasen auch tschetschenische Wahhabiten unter Führung des Terroristen Schamil Bassajew beteiligten.
Sie gelten als Hauptverantwortliche für den Bruch eines von der UN und von Russland garantierten Waffenstillstandes und für ein Massaker, bei dem am 27. September 1993 ein großer Teil der georgischen Bewohner der abchasischen Hauptstadt Suchumi systematisch und teilweise auf extrem sadistische Weise ermordet wurde.
Dieses und andere Massaker hatten zur Folge, dass die Bevölkerung Abchasiens durch Flucht und Vertreibung von über 525.000 auf 240.000 zurückging. Während 1989 noch fast 240.000 Georgier in Abchasien lebten, sind es heute lediglich 46.000. Die Zahl der Russen sank von 75.000 auf 22.000, die der Armenier von 77.000 auf 42.000. Und von den ursprünglich knapp 15.000 Pontosgriechen verblieben nur gute tausend in einem Land, in dem aktuell 122.000 Abchasen eine recht knappe absolute Bevölkerungsmehrheit von 50,8 Prozent stellen.
Von 1994 bis 2009 versuchte eine United Nations Observer Mission in Georgia (UNOMIG), der neben russischen auch deutsche Soldaten angehörten, einen neuen Waffenstillstand zu sichern. 2006 und 2008 wurde dieser Waffenstillstand gebrochen, was letztendlich zur Folge hatte, dass die Abchasen ihr Territorium um das Kodorital vergrößerten. Danach erkannten Russland und eine Handvoll weiterer Länder Abchasien als unabhängig an, wobei explizit auf das Vorbild des Kosovo verwiesen wurde.
Südossetien
Auch das christliche Südossetien, dessen Bewohner eine indoeuropäische Sprache sprechen, hatte sich beim Zerfall der Sowjetunion für unabhängig erklärt. Bis 2008 sorgte dort eine Kontrollkommission, in der Vertreter der georgischen und der russischen Regierungen sowie Süd- und Nordosseten mitarbeiteten, zusammen mit etwa 1.500 russischen, südossetischen und georgischen Soldaten für einen relativen Frieden, der vom inzwischen staatenlosen georgischen Rosenrevolutionspräsident Saakaschwili beendet wurde (vgl. Krieg als Rätsel). Den daraus resultierenden Krieg mit russischer Beteiligung verlor Saakaschwili ähnlich deutlich wie seine "Vereinte Nationale Bewegung" die Parlamentswahlen vier Jahre später.
Wegen dieser beiden Konflikte bewertet Moskau eine mögliche Aufnahme Georgiens in die NATO als Sicherheitsgefahr. Kern dieses Militärbündnisses ist nämlich eine Beistandsverpflichtung in Artikel 5 des NATO-Vertrages, die bezüglich Abchasiens und Südossetiens kriegsgefährliche Fragen aufwerfen würde. Luke Coffey vom Allison Center for Foreign Policy Studies an der Heritage-Stiftung schlug deshalb vor zwei Jahren vor, dass man diese beiden Gebiete in Artikel 6 des NATO-Vertrages ebenso von der Beistandspflicht ausnimmt wie die britischen Falklandinseln oder die amerikanische Pazifikinsel Guam (vgl. Nato drängt auf Beitritt von Georgien zur Osterweiterung). Dieser Vorschlag wird unter anderem vom ehemaligen dänischen NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen befürwortet.
Auch der aktuelle NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Norweger, steht einer Aufnahme Georgiens eher offen gegenüber. Bei einem Besuch im letzten Jahr lobte er das Land als "einzigartigen NATO-Partner", der sich nicht nur an der "Response Force" beteilige, sondern auch das größte Afghanistan-Kontingent aller Nichtmitglieder stelle und seine Streitkräfte und Militärinstitutionen "beeindruckend" modernisiert habe (vgl. Mit Blick auf Russland drängt die NATO auf einen Beitritt Georgiens).
Würde Georgien in die NATO aufgenommen, dann wäre es deren 30. Mitgliedsland. Im Kalten Krieg hatte das Militärbündnis nur gut halb so viele. Dass nach dem Ende des Ostblocks nicht nur ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten, sondern auch ehemalige Sowjetrepubliken aufgenommen wurden, kritisierte unter anderem der langjährige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher als Bruch von Zusagen gegenüber Russland. Weitere Kritik entstand durch die Subsumtion von Regime-Change-Operationen im Kosovo und in Libyen unter ihren Verteidigungsauftrag.