Anklage mit Kalkül

So schnell wie er ganz nach oben kam, so verschwand er auch wieder. Kosovos Premier Ramush Haradinaj muss sich nun in Den Haag für schwerste Verbrechen verantworten

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Noch vor wenigen Tagen gab sich Ramush Haradinaj unbeeindruckt. Offiziell zumindest. Denn eine Anklage gegen ihn - den erst seit wenigen Monaten amtierenden Ministerpräsidenten des Kosovo - wies er als unbegründet zurück. Nun ist jedoch eingetreten, was man ihm bereits vor seinem Amtsantritt vorausgesagt hatte: Haradinaj ist wegen Verbrechen im Kosovo angeklagt worden, für die er sich vor dem Den Haager Jugoslawien-Tribunal verantworten muss. Sollte es im Kosovo in den nächsten Wochen friedlich bleiben, könnte die Anklage die Chance der Kosovo-Albaner nach einem eigenen unabhängigen Staat dennoch erhöhen und die Macht des Präsidenten Ibrahim Rugova vergrößern.

Fehler darf sich in Sachen Kosovo derzeit keiner der Betroffenen leisten. Während sich Belgrad weiterhin über die geeignete Strategie entzweit und zunehmend nur noch am Rande wahrgenommen wird, hatte Pristina nach dem Wahlboykott der serbischen Minderheit bei den letzten Parlamentswahlen hoch gepokert und präsentiert sich nun gewinnbringend als kooperationswilliger Partner. Ramush Haradinaj, der vormalige UCK-Kommandant im West-Kosovo, hat dabei die prominente Opferrolle übernommen und zog sofort nach Verkündung der Anklage am Mittwoch umgehend und freiwillig gen Den Haag.

Ramush Haradinaj und Ibrahim Rugova auf einer Nato-Konferenz im April 2004. Foto: Nato

Dem vorausgegangen war ein ungewöhnlicher politischer Deal im vergangenen Herbst. Kosovos Präsident und damalige LDK-Vorsitzende Ibrahim Rugova hatte nach dem Wahlsieg seiner Partei (ca. 45 % der Stimmen) seinem kleinen Koalitionspartner AAK (ca. 8 % der Stimmen) und damit Ramush Haradinaj das Amt des Premiers überlassen. Sollte man etwa den Warnungen zu wenig Beachtung geschenkt haben, die von seiner baldigen Anklage ausgingen? Hatte man vielleicht übersehen, dass im so wichtigen Entscheidungsjahr für das Kosovo, die Folgen einer solchen Personalbesetzung die Regierung ernsthaft schwächen könnten? Oder wurde dieses Szenarium einfach bewusst in Kauf genommen?

Rugova brauchte sich bei seiner Entscheidung um ein möglicherweise schlechtes Gewissen jedoch nicht zu kümmern, schließlich war es die lokale Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft, die alles abnickte. Sören Jessen-Petersen, der erst kurz zuvor neu ins Amt gewählte Chef der UN-Mission im Kosovo UNMIK (Personalwechsel in Pristina) brüskierte damit sogar den EU-Außenbeauftragten Javiar Solana, der Haradinajs Ernennung offen kritisiert hatte.

Jessen-Petersen sprach hingegen von einer demokratischen Entscheidung die zu akzeptieren sei und war schon allein dadurch beruhigt, dass alles ganz ohne offizielle internationale Vermittlung zustande gekommen sei. Bei der ersten Parlamentswahl im Jahr 2001, hatte noch der deutsche UNMIK-Chef Michael Steiner über die Amtsvergabe eine Entscheidung getroffen und so Ibrahim Rugova zum Präsidenten und Bajram Rexhepi (PDK) zum Amt des Premiers verholfen. Die ungewöhnliche Konstellation dem kleineren Koalitionspartner das Amt des Premiers zu überlassen, wurde nun auch in der zweiten Amtszeit beibehalten.

Wem nützt die Anklage?

So ungewöhnlich das jetzige Szenario ist, so nützlich ist es dennoch für viele Beteiligte. Das Tribunal kann nun erneut den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die Den Haag Einseitigkeit vorwerfen. UNMIK und KFOR können zeigen, dass man ein Jahr nach der antiserbischen Gewaltwelle (Terror im Kosovo) in einer Krisenzeit wieder alles unter Kontrolle hat. Die unmittelbar kurz vor der Anklage und als Routine deklarierte Aufstockung der NATO-Einsatzkräfte auf nunmehr 19.000 Soldaten und entsprechende Veränderungen der Kampfausrüstungen (Heimliche Aufrüstung in Berlin), dürften zudem genügend Respekt verschaffen.

Ob auch die Kosovo-Albaner profitieren können, wird von der künftigen innenpolitischen Situation abhängen. Die Zusammenarbeit mit Den Haag und das Ausbleiben der befürchteten Gewalt könnten die Überprüfung von Vorraussetzungen vor den so wichtigen Statusverhandlungen positiv beeinflussen. Denn gerade die Zusammenarbeit mit Den Haag könnte eine Reife signalisieren, an denen selbst potentielle EU-Kandidaten wie Kroatien derzeit straucheln. Der einzige Preis dafür trifft vor allem die Anhänger der UCK, die ihre Befreiungskämpfer nicht mit der jugoslawischen Armee gleichgestellt wissen möchten.

Innenpolitisch könnte zudem Präsident Rugova die jetzige Situation für sich nutzen und den Einfluss seiner Partei vergrößern. Die Zukunft der AAK ohne Haradinaj ist nicht sicher. Rugova war erst im Februar von seinem Amt des Parteivorsitzenden zurückgetreten, um dem Verdacht der Machtkonzentration zu entgehen, so die Spekulationen. Beobachter gehen davon aus, dass sich die LDK nun den kleinen Koalitionspartner einverleiben und damit noch mehr Einfluß sichern könnte.

Negativ fällt die jetzige Situation lediglich für Belgrad aus. Ein Teilerfolg ist zwar die Erkenntnis Den Haags, daß sich nun auch die einstigen NATO-Alliierten der kosovo-albanischen UCK für Verbrechen verantworten müssen. Doch der Teufel steckt im Detail und der kleine Vorteil dürfte sich bald erschöpfen, wenn Brüssel, Den Haag und Washington ihren, durch die jüngste Auslieferung von vier angeklagten Generälen besänftigten Erwartungsdruck, wieder auffrischen werden. Das Detail im Falle Haradinajs ist die konkrete Anklage selbst.

Was wird Haradinaj vorgeworfen?

So muss er sich in 20 Fälle für Kriegsverbrechen und 17 Fällen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Unter seinem Kommando sollen UCK-Kämpfer Einwohner des Kosovo gezielt deportiert bzw. ermordet oder vergewaltigt haben, darunter Serben, aber auch Albaner und Roma, die mit Serben kooperiert hätten. Er soll für den Tod von insgesamt 39 Serben verantwortlich sein. Mitangeklagt seien ebenso zwei weitere Kommandeure, die zusammen mit Haradinaj in Den Haag inhaftiert wurden.

Wie der Belgrader Sender B92 bemerkte, wurden in der Anklage jedoch lediglich Verbrechen vom März bis September 1998 aufgelistet, als es formal noch keinen Krieg im Kosovo gab. Dem früheren (2001-2003) serbischen Justizminister Vladan Batic lägen jedoch auch Beweise für Verbrechen Haradinajs während des NATO-Krieges 1999 vor, die er bereits 2001 an das Tribunal gesandt hatte, so B92. Dies wäre insoweit brisant, da es in dieser Zeit offizielle Kontakte zwischen UCK und NATO gab.

Trotz der schweren Vorwürfe Den Haags gab es keinerlei moralische Appelle westlicher Spitzenpolitiker, die stattdessen das Verhalten Haradinajs gegenüber dem Tribunal lobten. Auch im Kosovo zeigte sich die internationale Gemeinschaft tief dankbar. So sprach UNMIK-Chef Jessen-Petersen in seinem Statement zum Rücktritt Haradinajs, von einer großen Lücke, die er hinterlassen würde. Das Kosovo sei Dank seines dynamischen Führungsstils, seines Engagements und seiner Visionen näher an der Bestimmung seines künftigen Status denn je zuvor. Haradinaj bezeichnete er als nahen Partner und Freund. Mit der Entscheidung sich freiwillig nach Den Haag zu begeben, habe er die Interessen Kosovos über seine eigenen Interessen gestellt.

Jessen-Petersen zufolge sei Haradinaj ein Beispiel für Kosovos wachsende politische Reife als verantwortliches Mitglied der Internationalen Gemeinschaft und er gab sich überzeugt, dass Haradinaj erneut in der Lage wäre, dem Kosovo dienen zu können. Der UNMIK-Chef wolle mit der Regierung zusammenarbeiten, um eine Überprüfung der Standards im Sommer und Gespräche über den künftigen Status für Ende des Jahres zu erreichen. Gemeinsam müsse man den europäischen Weg zu einem freien, demokratischen, multi-ethnischen, stabilen und erfolgreichen Kosovo fortsetzen. Salbende Worte für einen möglichen Schwerverbrecher und Terroristen.