Anpassung an die politischen Wirklichkeiten
WHO-Direktorium empfiehlt, die Vernichtung der Pockenvirenkulturen in Russland und den USA noch einmal aufzuschieben
Am Donnerstag der vergangenen Woche hat das Direktorium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen, die letzten Bestände an Pockenviren nicht wie geplant in diesem Jahr zu vernichten. Angesichts der Terroranschläge und der mit Anthrax verseuchten Briefe soll weitere Forschung an den gefährlichen Viren möglich sein. Offiziell sind die Pocken seit 1979 als ausgerottet erklärt worden.
Die Pocken waren eine der am meisten gefürchteten Virenepidemien, die vor 5000 Jahren in Indien und Ägypten entstanden sein soll. Solange es keine Impfung gab, starben bis zu 30 Prozent der Erkrankten an der Seuche, die Überlebenden behielten meist die pockennarbige Haut, viele wurden auch blind. In den frühen 50er Jahren erkrankten jährlich noch 50 Millionen Menschen an der Seuche, obwohl seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts ein Impfstoff zu Verfügung stand, nachdem Edward Jenner 1798 zeigen konnte, dass eine Impfung mit Kuhpocken die Menschen vor der Infektion schützen kann. Als die WHO 1967 mit einer weltweiten Impfkampagne zur Ausrottung der Seuche begann, standen noch 60 Prozent der Menschheit in Gefahr, an Pocken zu erkranken. Und jeder vierte tatsächlich Infizierte starb daran.
Die Möglichkeit, die Pocken tatsächlich ausrotten zu können, lag darin, dass sie nicht wie etwa die Pest von Tieren übertragen wurde und sich nur bei Menschen fand. Die Ausrottung der Pocken wurde daher zu einer Erfolgsgeschichte der modernen Medizin und ließ die Hoffnung entstehen, man könne auf ähnliche Weise auch andere Seuchen vernichten. Die Pocken wurden bis Mitte der 70er Jahre auf das Horn von Afrika zurückgedrängt. In Somalia entdeckte man 1977 die letzte Pockeninfektion. Eine Kommission erklärte schließlich 1979 die Seuche für ausgerottet, was die WHO 1980 offiziell verkündete.
In den USA wurde bereits seit 1972 die Pflichtimpfung eingestellt, in Deutschland 1975. Man kann davon ausgehen, dass hierzulande ebenso wie überall auf der Welt ein Impfschutz kaum mehr vorhanden ist. Das aber ist nach den Anthrax-Briefen und der im letzten Jahr sich panikartig verbreitenden Angst vor Angriffen mit Biowaffen zu einem Problem geworden, da die gelagerten Impfbestände keineswegs für einen wirklcihen Schutz ausreichen, es aber noch immer keine wirksame Behandlung der Infektion gibt. Die Regierungen kauften daher unter dem frischen Eindruck der Anthrax-Briefe Vorräte an Impfstoffen auf und warfen teilweise auch die Produktion wieder an. Sechs Millionen Dosen Impfstoff hatte so die Bundesregierung im vergangenen November gekauft, schon im Oktober begann man in Frankreich wieder mit der Herstellung des Impfstoffs. Die USA haben in Großbritannien 50 Millionen Impfstoffdosen im November bestellt, um gegen einen Angriff mit dem Erreger gewappnet zu sein (Bioterror: Die Pockenpanik).
Die Impfung ist allerdings selbst nicht ungefährlich, weswegen Experten auch von einer umfassenden Impfung warnen. Die beste Möglichkeit, auch bei einem möglichen Anschlag gegen die Seuche vorzugehen, ist wahrscheinlich die rechtzeitige Identifizierung der Erkrankten, um sie in Quarantäne zu stellen. Wie sich gerade an den Anthrax-Briefen gezeigt hatte, die aus einer vom US-Militär gezüchteten Entwicklung stammen, muss die Gefahr eines Anschlags mit Biowaffen nicht unbedingt von (arabischen) Terroristen ausgehen, die man zu Beginn in Verdacht hatte, während anschließend die Suche nach dem vermutlich heimischen Täter offenbar erheblich nachgelassen hat, sondern sie kann möglicherweise auch von Wissenschaftlern an den US-Forschungsinstituten selbst kommen, in denen geeignete und vielleicht auch besonders virulente Stämme vorhanden gezüchtet wurden.
Nach der Ausrottung der Pocken wurden alle Kulturen weltweit vernichtet oder an zwei Forschungszentren geschickt - glaubt man zumindest. Bekannt ist, dass sowohl Russland (Staatliches Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie) und USA (Centers for Disease Control and Prevention) noch Kulturen besitzen. Diese sollten erst 1993, dann 1996, noch einmal 1999 und schließlich spätestens 2002 endgültig vernichtet werden. Die Regierungen beider Staaten und manche Wissenschaftler haben die Vernichtung immer wieder verhindert, da ansonsten die Struktur des Virus sowie mögliche Behandlungen nicht weiter erforscht werden könnten. Andere fürchten allerdings, dass aus dieser Forschung noch gefährlichere Stämme entstehen oder dass auch Viren einfach zufällig, aber mit verheerenden Folgen ins Freie gelangen könnten.
Schon im November des letzten Jahres hatte der amerikanische Gesundheitsminister Tommy Thompson bekannt gegeben, dass die US-Regierung die Pockenstämme nicht vernichten werden. Anzunehmen ist auch, dass Russland gleichfalls nicht gerne das Virus vernichten wird, an dem solange Biowaffen-Forschung betrieben wurde, zumindest wenn dies einseitig geschehen müsste. Das Direktorium der WHO hat sich also angesichts der Lage nur realistisch verhalten und eine Entscheidung der Vollversammlung empfohlen, die die Organisation nicht blamieren wird. Thompson erklärte die Haltung der Regierung so: "Die Ausrottung der Pocken 1997 war einer der größten Erfolge der Medizin. Unsere Absicht ist zur Zeit diesen Erfolg aufrecht zu erhalten, indem wir die Pockenvirusbestände weiter aufbewahren." Es sei nämlich möglich, dass es solche Stämme nicht nur in Russland und in den USA gebe, sondern auch andere Regierungen noch Pockenviren haben. Die US-Regierung will einer Vernichtung nur zustimmen, wenn es mindestens zwei Medikamente zur Behandlung und einen neuen Impfstoff für die gesamte Bevölkerung gibt.
Auf einer Tagung Ende des letzten Jahres schlossen amerikanische Wissenschaftler nicht aus, dass andere Virenarten der Familie Poxviridae, zu denen auch die Pockenviren gehören, mutieren und für den Menschen gefährlich werden könnten. Hingewiesen wurde hier beispielsweise auf den Affenpockenvirus. Überdies hat der Pockenvirus es selbst nicht nur geschafft, das Immunsystem immer wieder auszutricksen, er kann sich auch nicht Makrophagen oder Fresszellen einnisten, ohne durch diese gefährdet zu werden. Die beteiligten russischen Wissenschaftler wandten gegen Zerstörung der Kulturen ein, dass durch die globale Erwärmung bislang vom Eis eingeschlossene Pockentote in Sibirien auftauen und so noch ansteckende Viren freisetzen könnten.
Gewichtiger scheint allerdings zu sein, dass die Russen sowohl nach der Unterzeichung des Abkommens zum Verbot von Biowaffen (1972) als auch wegen der Ausrottung des Pockenviren just die Forschung an diesen im Rahmen ihres ausgedehnten Biowaffenprogramms verstärkt haben. Der 1992 in die USA geflüchtete stellvertretende Direktor von Biopreparat Ken Alibek berichtete, dass man zumindest 1989 jährlich einige Tonnen Pockenviren hergestellt und teilweise in Sprengköpfe von Langstreckenraketen eingefüllt haben soll. Ob diese Biowaffen alle vernichtet wurden, ist unbekannt und darf bezweifelt werden. Auch der Irak soll mit Kamelpocken experimentiert haben, um daraus eine Virenlinie zu erzeugen, die für den Menschen gefährlich werden könnte. Dass auch die USA sich mit der Züchtung von gefährlichen Biowaffen beschäftigen, wurde vom Pentagon erst im September 2001 bestätigt (Pentagon bestätigt nach Pressebericht Forschung an biologischen Kampfstoffen). Man experimentiere mit einem russischen Stamm von Anthrax, bekannte die Defense Intelligence Agency, um angeblich ein wirksames Mittel gegen jede Form von Milzbrand zu entwickeln. Ob so an Biowaffen oder am Schutz vor dem Einsatz von Biowaffen geforscht wird, bleibt letztlich unentscheidbar.
Erst letztes Jahr sind australische Wissenschaftler, die genetisch veränderte Mäusepockenviren zur Bekämpfung der Kaninchenplage geschaffen haben, zufällig über eine Möglichkeit gestolpert, möglicherweise auch die für Menschen gefährlichen Pockenviren noch gefährlicher zu machen. Die veränderten Viren hatten selbst die meisten der Mäuse getötet, die gegen Mäusepocken geimpft waren. Dabei wurde nicht der Virus selbst verändert, sondern die Weise, wie der das Immunsystem verändern kann (Tödliche Biowaffe). Mit genau solchen Viren, die das Immunsystem lahm legen, sollen auch die Wissenschaftler in der ehemaligen Sowjetunion gearbeitet haben, um Biowaffen herzustellen, gegen die es keine Impfung gibt. Inwieweit nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Niedergang der Biowaffenforschung, an der 60.000 Wissenschaftler beteiligt gewesen sollen, nicht nur das Wissen, sondern auch die gezüchteten Stämme von Viren und Bakterien an andere Länder weiter verkauft worden sind, weiß man nicht.
Es könnte also wirklich unvorsichtig sein, die in den russischen und amerikanischen Labors noch existierenden Pockenkulturen zu vernichten, wenn es weitere Kulturen noch anderswo gibt, weil man sich dann der Möglichkeit berauben würde, wirksame Gegenmittel zu entwickeln. So scheint Peter Jahrling vom U. S. Army Medical Research Institute gerade ein erfolgversprechendes Tiermodell für Pocken zu entwickeln, das ein Testen von Gegenmitteln möglich machen würde. Genauso berechtigt ist allerdings die Forderung nach Vernichtung, denn wer garantiert, dass Russland oder die USA nicht biowaffenfähige Pockenviren entwickeln könnten oder dass diese nicht zufällig oder intendiert wie im Fall der Anthrax-Briefe ins Freie gelangen? Noch freilich handelt es sich um eine Empfehlung des WHO-Direktoriums, im Frühjahr wird die Vollversammlung darüber entscheiden. Ob aber Russland und vor allem die USA sich einem Vernichtungsschluss beugen würden, scheint sehr fraglich zu sein.