Anschlag in Berlin: Auf der falschen Spur?

Seite 2: Diskussionen in Frankreich

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Es gab bis vor wenigen Monaten eine sehr intensive Diskussion darüber, bei der sich etwa Sarkozy mit Ambitionen als Präsidentschaftskandidat damit hervortat, dass er eine Internierungsanstalt für die besonders gefährlichen Gefährder vorschlug. Der Vorschlag fand keine Mehrheit, weil dies schwerlich mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist und praktisch auch große Probleme stellt.

Der FDP-Chef Christian Lindner forderte nun als "ultima ratio" zur Kontrolle und zum besseren Schutz der Bevölkerung, dass der Staat auch elektronische Fußfesseln einsetzen können muss. Dies soll hier nicht weiter bewertet werden, sondern nur als Indiz dafür herhalten, dass in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach ähnliche Vorschläge und Diskussionen aufkommen werden, wie man sie aus Frankreich kennt.

Daraus ist zunächst eine Schlussfolgerung zu ziehen: Den Anschlags-Terror hauptsächlich der Politik Merkels anzuheften, ist ein deutscher Sonderweg, der mehr mit Wahlkampf zu tun hat als mit einer Ursachenforschung, die danach ausgerichtet ist, gegenüber dem Terror mehr als nur Angst zu empfinden und Slogans herumzutragen, sondern Gegenmaßnahmen aufzustellen.

Fehleinschätzungen

Um Erfolg zu haben, gehört dazu auch, Fehleinschätzungen auszuräumen, z.B. was den dschihadistischen Terror angeht. In Frankreich wurde vor ein paar Monaten ein größerer Anschlag vereitelt. Dies wurde als Anzeichen dafür gewertet, dass die Ermittler besser arbeiten, genauer Bescheid wissen über die Netzwerke, wie deren Kommunikation funktioniert und auch, wie die Extremisten "ticken".

Das ist beispielsweise an der Diskussion über das Buch "Die Wiederkehrer" (Le Revenants) von David Thomson abzulesen. Es geht darin um Personen, die in den Dschihad nach Syrien oder in den Irak gereist sind und um die Frage, warum sie den Dschihad gewählt haben und wie ihre Einstellungen aussehen.

Bemerkenswert ist, dass Thomson auf sein mehrjähriges Recherchegebiet 2011 in Tunesien stieß, als er mitbekam, dass Tausende Tunesier im Zuge des Aufstands gegen den Autokraten Ben Ali sich dazu entschlossen, ihrer Begeisterung für den Dschihad nachzugehen. Tunesien stellte einen großen Teil des Nachschubs der Dschihadisten. Thomson hörte jahrelang ihnen zu, um ihre Motive und ihre Ansichten kennenzulernen.

Bemerkenswert ist auch, dass sich die Experten, Soziologen, empirische Forscher usw. heftig über den Mann aufregten, der Neues in die Diskussion brachte. Die etablierten Experten taten dies ab, das sei nicht seriös nicht valide genug, nur weil Thomson mit "ein paar Dschihadisten gesprochen habe", könne er nicht alles in Frage stellen, womit sie sich seit Jahren wissenschaftlich beschäftigen.

Wichtige Unterscheidungen und ein gefährliches, wenig erfasstes Phänomen

Heute gilt Thomson weltweit als einer der wenigen Experten, die das Phänomen vom Dschihad Erfassten nicht vom Büro oder der Studierkammer aus, sondern aus eigener Anschauung kennen. Das Neue bestand darin, dass er eine Strömung des Islam als gefährliche Entwicklung erkannte und genau kenntlich machte.

Seine Kritiker sahen darin vor allem einen pauschalen Angriff auf den Islam insgesamt oder wollten es so sehen. Sie polemisierten gegen ihn, nach dem Motto "Wer den Islam auf diese Weise schildert, setzt ihn Verunglimpfungen und Diskreditierungen im öffentlichen Gespräch aus und leistet damit genau der Radikalisierung Vorschub, die uns bekämpft."

Thomson verwies dagegen auf seine Erfahrungen mit den Radikalisierten, die ihm eine Wirklichkeit aufzeigten, die man in der Öffentlichkeit und in der Politik noch nicht begriffen habe.

Dass Thomson dabei sehr wohl genau zwischen denen unterscheidet, die ihren muslimischen Glauben leben oder in diesem Glauben aufgewachsen sind und den Salafisten/Dschihadisten-"Abfahrern", ist Voraussetzung dafür, um das Problem, das sich nach bisherigem Informationsstand bei dem Berliner Anschlag zeigt, genau zu erkennen.

Nachtrag: Wie sehr es in Deutschland einer Schärfung der Wahrnehmung des Dschihadismus bedarf, zeigt sich nicht zuletzt an der Romantisierung der Dschihadistengruppen in Syrien als Rebellen.