Arabische Staaten: Die Hälfte der Unter-30-Jährigen denkt an Migration
Die Jugend in zehn MENA-Ländern zeigt im Spiegel des Arab Barometer deutliche Zeichen der Unzufriedenheit mit den Chancen, die sie in ihren Heimatländern haben
In Jordanien sind es knapp über 40 Prozent, die über Auswandern nachdenken, vor sechs Jahren waren es knapp über 20 Prozent. Im Irak und in Tunesien liegt die Quote der "Auswanderungswilligen" bei weit über 30 Prozent, wie die Grafiken zeigen. Auch bei diesen beiden Ländern ist ein deutlicher Anstieg gegenüber 2013 nicht zu übersehen. In Marokko sind es ähnlich wie in Jordanien mehr als 40 Prozent, die eine Auswanderung erwägen.
In Ägypten und Libyen denken in den Jahren 2018/2019 ebenfalls mehr als 2013 über Migration nach, wenn es auch weniger sind als in den genannten Länder - ungefähr jeder fünfte - und der Anstieg nicht so deutlich ausfällt. In den Palästinensergebieten und in Algerien liegt der Anteil ebenfalls knapp über 20 Prozent, er ist dort aber leicht zurückgegangen, im Sudan, im Libanon und im Jemen zeigt sich ein deutlicher Rückgang. Allerdings von einem zum Teil hohen Niveau. Im Sudan zum Beispiel von 60 Prozent auf etwa 50 Prozent.
Als News stellt das Arab Barometer diesen Zahlen auf Twitter die Generalaussage voran, dass "fast die Hälfte der Erwachsenen unter 30 Jahren darüber nachdenkt, ein Migrant zu werden". Verlinkt wird auf einen Beitrag der BBC, wo die arabische Welt in sieben Grafiken aufgeschlüsselt wird. Diese zeigen Ergebnisse einer Studie, basierend auf Interviews mit 25.000 Personen, die BBC News Arabic zusammen mit dem Arab Barometer research network (Princeton University) Ende 2018 und Anfang 2019 in zehn arabischen Ländern sowie in den Palästinensergebieten durchgeführt hat.
Der Guardian berichtet von 52 Prozent der Unter-30-Jährigen in Algerien, Ägypten, Jordanien, im Libanon, in Marokko, Tunesien und in den palästinensischen Gebieten, die über Auswandern nachdenken. Das sei eine Steigerung von 10 Prozent seit 2016.
Als Motiv für die Auswanderungsgedanken wurden von den Interviewten vor allem "ökonomische Gründe" angegeben, heißt es im BBC-Bericht, wo in einem Video zwar ausführlicher erklärt wird, wie die Interviews zustande kamen und durchgeführt wurden. Wie man am Beispiel Migration sieht, verfährt BBC bei den Erklärungen für die Antworten dagegen sehr lakonisch.
"Größte und ausführlichste Umfrage in Ländern des Nahen Ostens und Nordafrika"
Dennoch, die Arab Barometer-Umfrage wird als größte und ausführlichste Umfrage in Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas (Mena-Region) herausgestellt, und sie liefert denn auch ein paar Ergebnisse, die aufmerken lassen. In einem Interview reicht Amaney Jamal, Politik-Professorin in Princeton und federführend beim Arab Barometer dabei, einige Erklärungen nach. Die auffallend verbreiteten Auswanderungswünsche der Jugend in den Mena-Ländern bewertet sie als "depressive finding".
Seit 2016 beobachte man eine "dramatische Ausprägung" dieses Trends. Die Entwicklung mache deutlich, dass die Jugend sehe, dass ihre Möglichkeiten in den Heimatländern zu begrenzt sind und dass dies das ganze Leben betreffe. Die Jungen würden daraus schließen, dass sie außerhalb der Region wahrscheinlich größere Chancen haben.
Das muss übrigens nicht notwendigerweise bedeuten, dass alle nach Europa wollen, wie eine interaktive Grafik im BBC-Bericht darlegt. Doch zeigt sich dort auch, dass mehr und meist dickere Linien nach Europa führen als nach Nordamerika, den Golfstaaten oder den Mena-Staaten.
Detailliertere Grafiken zum sprunghaften Anstieg bei den Auswanderungswünsche 2016, wie diese hier zu Marokko, die erst am gestrigen Donnerstag veröffentlicht wurde, zeigen, dass da noch einiges an Studienergebnissen in petto ist. Anscheinend wird die Studie fragmentarisch veröffentlicht (wie auch der etwas ausführlichere Studienbericht im Guardian andeutet). Lücken, die zu schließen wären, gäbe es anhand des oben genannten Anspruchs genug.
Marokko: 49 Prozent sind für einen schnellen politischen Wechsel
So werden der Öffentlichkeit bislang nur ein paar interessante Teilstücke serviert und Marokko gehört in einer Frage zu den Überraschungen. Wer hätte nämlich gedacht, dass Marokko das Land ist mit dem größten Anteil der Bevölkerung, nämlich 49 Prozent, der für einen "schnellen politischen Wechsel" ist?
Erstaunlicherweise taucht Algerien hier gar nicht auf, wo seit dem 22. Februar wöchentlich Menschenmassen auf die Straße gehen, um unverdrossen gewaltlos für einen echten Systemwechsel eintreten, obwohl die Militärführung ständig die Dosis repressiver Maßnahmen erhöht. Dank dieser außergewöhnlichen Unbeirrbarkeit und Ausdauer hat die Opposition dort mittlerweile auch den nächsten politisch sehr wichtigen Schritt geschafft: Sie organisiert sich, hat einen Koordinator, und wird eine Konferenz abhalten, um einen "Fahrplan" auszuarbeiten.
Das Beispiel Algerien zeigt, leider weitgehend im Schatten der westlichen Aufmerksamkeit, wie sehr es in arabischen Gesellschaften mit hohem Jugend-Anteil gärt, in denen sich Jahre oder Jahrzehnte lang wenig oder gar nichts Entscheidendes getan hat, und dass sich dann jäh alles ändern kann.
Plötzlich ist dann der Aufstand da
Plötzlich ist dann der Aufstand da und nicht so einfach von der Straße wegzubringen, wenn die Macht derart erodiert ist, dass das Militär nicht bereit ist, im Inneren mit brutalen Mitteln vorzugehen wie etwa in Ägypten. Dort ist man mit der präventiven Verhaftung von Personen, die an einer politischen Opposition arbeiten, sehr avanciert. Zur öffentlichen Rechtfertigung genügt der gestreute Verdacht, dass die Personen irgendwie mit den Muslimbrüdern in Verbindung stehen.
Auch in Tunesien, das allgemein und auch an dieser Stelle mehrfach als einziges Land genannt wurde, wo die Aufstände von 2011 insgesamt eine Entwicklung zum Besseren angestoßen haben, sind die Verhältnisse "flüssig", wie der heutige Tag zeigte, an dem es zwei Attentate gab und Gerüchte über den Tod des greisen Präsidenten Essebsi.
Die Überlegungen zum Auswandern passen zum Eindruck, der daraus entsteht: Dass die seit Jahren stagnierenden Verhältnisse in den arabischen Staaten, Tunesien eingeschlossen, deren Führer in einer Machtblase leben, immer größere Schwierigkeiten bekommen, es mit den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Jugend aufnehmen zu können.
Dazu kommt, dass Wirtschaftsmodelle, wie sie westliche Länder, Konzerne und Institutionen (Weltbank, IWF) in den arabischen Ländern fördern und unterstützen (was viele Führer und Systeme an der Macht hält), wenig gute, einfallsreiche Lösungen für das "Jugendarbeitslosigkeitsproblem" anbieten, weil sie meist nur den ohnehin Gutgestellten, Besitzenden und Privilegierten nützen. Von den anderen fordern sie viele Härten und Anpassungsbereitschaft, was aber nicht unbedingt zum Erfolg bei der "Chancenauswertung" führen muss.
Dass in der Jugend laut Arab Barometer auch die Religion an Bedeutung verliert, macht es für die Alten und Anhänger alter Modelle (wozu auch die versteinerten Gruppen Hamas, die Hizbollah und die Muslimbrüder gehören) nicht leichter. Gigantische Reißblatt-Utopien, wie sie das reiche Saudi-Arabien aufstellt, erscheinen ebenfalls untauglich und gesellschaftlich sehr altmodisch neben der Spur (Saudische Giga-Moderne: Eine Entertainmentstadt für die Jugend).
Die Antwort: Mehr Beteiligung
Die Antwort, wie man es besser machen könnte, war bei den Protesten in Algerien herauszuhören: Mehr Beteiligung an der Gestaltung der Zukunft des Landes - und eben nicht am "Katzentisch" und nicht Vorgaben einer taktisch ausgebufften Politikerelite folgend, wogegen sich die Opposition auf der Straße seit mehreren Monaten zu wehren versteht.
Sie wollen in ihrem Land bleiben, sagten Teilnehmer der Demonstrationen, bei denen die Jüngeren die Hauptschubkraft lieferten, und algerische Unterstützer im Ausland sagten, dass sie zurück wollen, weil sich dort eine neue Perspektive auftut. Ob das der Fall sein wird, kann man in den nächsten Wochen beobachten. Was in Algerien passiert, ist ein bemerkenswertes Experiment.
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