Argentinien am Scheideweg: Die Herausforderungen des radikalen Liberalismus
Mit Javier Milei hat Argentinien einen libertären Präsidenten bekommen. Sein Programm wird hierzulande gelobt. Aber es ist zum Scheitern verurteilt. Ein Kommentar.
Man kann gar nicht radikal genug sein, wenn man nur liberal oder libertär ist. In einer Gesellschaft, die vor jeder Art von Radikalität zurückschreckt, wird der radikale Liberalismus doch wenigstens klammheimlich bewundert.
Argentiniens Kampf mit radikalem Liberalismus und Libertarismus
Argentiniens neuer Präsident, den viele in seinem Land den "Verrückten" nennen, wird auf diese Weise auf einmal zu einem ernst zu nehmenden Politstrategen. Super-liberale Medien wie das Handelsblatt oder die Neue Zürcher Zeitung bemühen sich, "Experten" zu finden, die ihnen das Lob für Argentiniens neuen Präsidenten leicht machen, weil sie vom gleichen Holz wie Milei selbst geschnitzt sind.
Kiel (das radikalliberale Institut für Weltwirtschaft in Deutschland) und FIEL (das nicht minder radikale Institut in Argentinien) sind dabei einschlägige Adressen. Auch der Chefredakteur der Welt bescheinigt Milei "ökonomische Kompetenz" und schaut mit unverhohlener Bewunderung auf diesen revolutionären Versuch.
Die Rolle des IWF in Argentiniens Wirtschaftspolitik
Nun werden alle liberalen "Experten" und ihre Medienanhänger dadurch geadelt, dass sich Argentinien mit dem ebenfalls radikalliberalen Internationalen Währungsfonds (IWF) auf die Auszahlung eines Kredites geeinigt hat, der unter dem vorherigen Präsidenten blockiert war.
Dieser Erfolg wird "Mileis Plan" zugeschrieben, das massive Haushaltsdefizit in einen Überschuss von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu verwandeln. Das Handelsblatt zitiert den Chefvolkswirt von FIEL, der mutmaßt, Mileis Strategie scheine darin zu bestehen, das Haushaltsproblem rasch zu lösen, einige der ererbten relativen Preisungleichgewichte zu korrigieren und Strukturreformen voranzutreiben.
Die Gefahren einer extremen Sparpolitik: Argentiniens Erfahrungen
Das ist wirklich ein guter Plan. Nichts ist leichter als das. Mitten in einer schweren Wirtschaftskrise löst man mal schnell das staatliche Haushaltsproblem, indem man einfach die staatlichen Ausgaben mit Gewalt zusammenstreicht.
Schon erzielt man Überschüsse und gewinnt man das Vertrauen aller liberalen und libertären Experten sowie des IWF, der, man sollte das nie vergessen, auch von der deutschen Regierung und ihren europäischen Partnern getragen wird. Die Europäer sind schließlich die größten Experten im Kürzen von Staatsausgaben mitten in einer Rezession.
Vergleich der Wirtschaftspolitik: Argentinien und die USA
Toll ist es allerdings, dass der IWF primär von dem Land dirigiert wird, das wie kein anderes auf der Welt in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten staatliche Schulden gebraucht hat, um über die Runden zu kommen.
Die USA dirigieren zwar den IWF, aber die Rezepte, die sie anderen verschreiben, wenden sie selbst niemals an. Staatliche Defizite zu verringern oder gar Überschüsse im Staatshaushalt auszuweisen, kommt ihnen nicht in den Sinn. Einen "Plan" wie den von Milei in die Tat umzusetzen, käme in den USA einer Revolution gleich und würde die Wirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern.
Die USA haben es geschafft (wie hier gezeigt), ihre Staatsverschuldung von 2007 bis heute mehr als zu verdoppeln, weil es dem Land offenbar vollkommen unmöglich ist, mit den berühmten "Strukturreformen" sein Wachstum anzukurbeln.
In jeder Schwächephase benötigt man den Staat, der mit immer neuen Schuldenrekorden dafür sorgt, dass die Wirtschaft läuft. Derzeit liegt das staatliche Defizit (also die laufende Neuverschuldung im Jahr 2023) bei sage und schreibe über sieben Prozent des BIP und hatte 2020 sogar den Rekordwert von fast 15 Prozent erreicht.
Liberalität und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaftskrise
Liberalität ist gut und schön, weil sie aber regelmäßig das Denken behindert, ist sie ungeheuer gefährlich. Wer sagt, man könne mit einem ausreichend großen politischem Willen die staatlichen Ausgaben kürzen und auf diese Weise Überschüsse im Staatshaushalt erzielen, hat ohne Zweifel das Gehirn ausgeschaltet.
Man muss nur ein ganz klein wenig über den Horizont der schwäbischen Hausfrau hinausschauen, um zu erkennen, dass die Kürzung der Staatsausgaben nicht ohne Folgen bleiben wird. Alle diejenigen, die von der Kürzung auf die eine oder andere Weise betroffen sind, müssen unmittelbar ihre eigenen Ausgaben ihren nunmehr durch den Staat verringerten Einnahmen durch Kürzung nach unten anpassen. Doch damit ist die Sache keineswegs zu Ende.
Denn wer bekommt die Kürzung der Ausgaben der von den Staatskürzungen Betroffenen zu spüren? Diese Frage können liberale Ökonomen niemals beantworten, weil die Antwort mit einem Schlag der eigenen Klientel der Liberalen zeigt, wie abwegig die volkswirtschaftliche Theorie dieser Spezies ist. Wenn das Arbeitslosengeld gekürzt wird, die Sozialhilfe zusammengestrichen oder "Subventionen" abgebaut werden, schlägt das immer und sofort auf die Gewinne der Unternehmen durch.
Weil die Unternehmen das sogenannte Residualeinkommen beziehen, also das, was übrigbleibt, wenn alle vertraglichen Ansprüche abgegolten sind, sind sie diejenigen, die unmittelbar und andauernd unter einer Kürzung staatlicher Ausgaben leiden.
Dass die Unternehmen darauf wiederum mit einer Kürzung ihrer Ausgaben und der Investitionen reagieren, versteht sich von selbst. Das vertieft die Rezession, erhöht die Armut und die Arbeitslosigkeit und zwingt den Staat schließlich sogar noch mehr Schulden zu machen, weil er einen permanenten Absturz nicht verkraften kann.
Liberale Programme, die sich auf Kürzungen kaprizieren, schaden genau denen, die man eigentlich begünstigen will. Milei will, das hat er in Davos explizit gesagt, der "Verbündete" der Unternehmer werden. Doch was nützt ein Verbündeter, wenn der nicht versteht, was seinen Verbündeten hilft und was ihnen schadet.
Die Illusion der radikalen Wirtschaftsreformen: Ein Blick auf Argentinien
Eine Wirtschaft, die immer noch in einer tiefen Rezession steckt und mit einer extrem hohen Inflation zu kämpfen hat, kann man mit liberaler Radikalität weder bei der Fiskal- noch bei der Geldpolitik heilen. Das haben viele versucht, zuletzt Mileis Bruder im Geiste aus Brasilien namens Bolsonaro, aber es ist noch nie gelungen.
Wenn Länder, die sich dem IWF ausgeliefert hatten, wirtschaftlich wieder auf die Beine kamen, dann nur, weil ihre Währungen massiv abgewertet wurden und die Exportnachfrage das mehr als ausglich, was anderswo durch die vom IWF verordnete Austeritätspolitik vernichtet wurde.
Die Realität der Staatsverschuldung: Argentinien im globalen Kontext
Alle Regierungen der USA in den vergangenen 20 Jahren haben offenbar verstanden, welch entscheidende Rolle der Staat bei der Stimulierung der Wirtschaft dann zu übernehmen hat, wenn die Unternehmen wegen hoher Zinsen oder allgemeiner Nachfrageschwäche abwarten, anstatt voranzugehen. Haben sie den anderen Ländern und dem IWF verboten, mindestens genauso klug zu sein?
Offenbar, denn den Zusammenhang von Nachfrage und den Gewinnen der Unternehmen darf ein richtiger Liberaler niemals ins Auge fassen, geschweige denn darüber reden. Er müsste ja zugeben, dass die Nachfrage für die Unternehmen eine Rolle spielt – und das, der Himmel behüte, wäre ja geradezu links.
Also machen die Radikalliberalen der Welt die Augen fest zu, schalten das Gehirn aus und marschieren durch, genau wie das der Spiritus Rektor von Milei, der damalige Präsident Macri zwischen 2015 und 2019 schon versucht hat. Dass Macri mit der Unterstützung des IWF kläglich gescheitert ist (siehe dazu dieses Papier), will heute keiner der Beteiligten zur Kenntnis nehmen.
Javier Milei wird nicht nur politisch scheitern, sondern auch wirtschaftlich. Dass ihm Libertäre rund um den Erdball zujubeln, hilft ihm nicht, weil die gesamte libertär-liberale Bewegung darunter leidet, ein Weltbild zu haben, in dem ausgerechnet die engsten "Verbündeten" der Liberalen, die Unternehmen, gründlich missverstanden werden.
Wer aus ideologischen Gründen systematisch die Gesamtwirtschaft mit allen Rückkopplungen aus den eigenen wirtschaftspolitischen Überlegungen ausblendet, ist ein schlechter Ratgeber.
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