Arm stirbt früher

Seite 2: Zunahme der Ungleichheit in der Krankheitslast und der Lebenserwartung

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Ein Indiz dafür ist beispielsweise, dass der Rückgang beim Tabakkonsum, einem wesentlichen Risikofaktor, fast ausschließlich auf die oberen Schichten beschränkt sei. Rolf Rosenbrock, Vorstandsmitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, glaubt ebenfalls, dass die Kluft bei der Gesundheit größer wird. Schließlich gehe die Schere bei den Einkommen und den Vermögen in Deutschland weiter auseinander, was sich erst mit einiger Verzögerung in der Krankheitslast und der Lebenserwartung zeige.

Da in Deutschland die Verteilung der Bildungschancen ziemlich konstant der sozialen Position der Eltern folgt und die Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland kontinuierlich zunimmt, überwiegen die Faktoren, die eine Zunahme der Ungleichheit verursachen.

Damit verstetigt sich ein langfristiger Trend. Bereits in den 1980er und 1990er Jahren ist der Einfluss der Klassenzugehörigkeit auf die Gesundheit gewachsen. Eine europäische Vergleichsstudie hat ermittelt, dass Angehörige der unteren Einkommensgruppen doppelt so häufig unter einem mittelmäßigen bis schlechten Gesundheitszustand leiden wie Angehörige der höheren Einkommensgruppen. Dabei lag das relative Risiko gesundheitlicher Probleme von Männern in den 1980er Jahren bei 1,79, in den 1990er Jahren schon bei 2,05. Bei Frauen stieg der Wert von 2,11 auf 2,4. Mit Ausnahme von Finnland wuchs der Einfluss der sozialen Lage auf die Gesundheit in diesem Zeitraum überall in West- und Nordeuropa.

Eine statistische Auswertung der Deutschen Rentenversicherung kam dann vor fünf Jahren zu dem Schluss:

Soziale Ungleichheit in Hinblick auf die unterschiedliche Entwicklung der Sterblichkeit aufgrund der Einkommensverhältnisse bleibt im Zeitraum (1994 bis 2006) erhalten und verstärkt sich sogar.

Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sich die durchschnittliche Lebenszeit in den unteren Klassen verkürzen würde, sondern nur, dass sie weniger als die anderen an der Erhöhung der Lebenserwartung teilhaben. Dies gilt beispielsweise nicht für die USA, wo in bestimmten Gruppen die Zahl der erwartbaren Jahre auch absolut zurückgeht. Eine Studie des Demographen Jay Olshansky und Kolleginnen von 2011 ermittelte, dass besonders bei Menschen mit geringer Bildung die Lebenserwartung schrumpft! Die größten Einbußen verzeichneten laut dieser Untersuchung weiße Frauen ohne Abschluss einer weiterführenden Schule. Ihre Lebenserwartung sank zwischen 1990 und 2008 um fünf Jahre. Männliche Angehörige dieser Bildungsgruppe verloren im selben Zeitraum drei Jahre.

Gleichzeitig wuchs die Lebenserwartung in den oberen Bildungsgruppen. Soziale Unterschiede führen mittlerweile zu einer Differenz von 13 Jahren zwischen der höchsten und niedrigsten Statusgruppe der männlichen amerikanischen Bevölkerung und etwa zehn Jahren bei den Frauen, weshalb Jay Olshansky von "zwei Amerikas" spricht. Michael Marmot, Direktor des Londoner Institute of Health Equity und einer der herausragenden Gesundheitswissenschaftler kommentierte diese Ergebnisse, indem er an den Absturz der Lebenserwartung russischer Männer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnerte. Diese fiel damals um fünf Jahre und hat erst heute ungefähr das alte Niveau erreicht.

So weit ist es in Deutschland nicht, jedenfalls noch nicht. Sollte der Trend zur wachsenden Ungleichheit allerdings anhalten, ist eine ähnliche Entwicklung auch hierzulande möglich.