Armenien im Umbau: Auf dem Weg zur Demokratie

Seite 2: Das armenische Viertel in Aleppo

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Sie hatten Glück und überlebten, weil eine arabische Familie sie aufnahm. Ob dies aus humanitären Engagement oder Teil des Assimilierungsprogramms der Türken war, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Fakt ist jedoch, dass es für armenische Waisenkinder ein Assimilierungsprogram gab, das die Kinder in türkische und arabische Familien in der Türkei und Syrien vermittelte. Auch Atatürk adoptierte eine junge armenische Waise, Sabiha Gökcen, nach der der zweite Flughafen in Istanbul benannt ist.

Die arabische Familie versuchte, die Kinder muslimisch zu erziehen, aber der Junge, der als 10-Jähriger mitansehen musste, wie sein Bruder von den muslimischen Schergen im Dorf erschossen wurde, ließ sich nicht bekehren. Stattdessen entführte er als junger Mann die Großmutter von Frau Z. und flüchtete mit ihr ins armenische Viertel von Aleppo.

Dort konnten sie sich eine Existenz aufbauen. Es reichte über die Jahrzehnte sogar für ein Sommerhaus im Nordwesten Syriens, an der syrischen Grenze zur türkischen Hatayprovinz. Hier wuchsen drei Generationen in Folge auf: Die Eltern von Frau Z. und sie selbst mit ihren Geschwistern und deren Kinder. Aber das erlebte Trauma der Großeltern war immer präsent und prägte auch die nachfolgenden Generationen. Frau Z. erinnert sich, wie ihr Großvater jeden Abend beim Abendgebet murmelte : "Und die Türken haben alle ermordet, sie haben sie alle getötet. Ich hab’s gesehen… "

Z., damals noch ein Kind, traute sich nicht, den Opa zu fragen, was er gesehen hat. Jahre später, Z. hatte einen guten Job an der veterinärmedizinischen Universität in Aleppo, erlebte die Familie erneut Traumatisches. Plötzlich wurde im armenischen Viertel von Aleppo geschossen und gebombt. Al-Nusra hätte das Viertel zum Ziel gemacht, sagt die Familie.

Wieder verlor die Familie ihr Hab und Gut und ein Teil der Familie migrierte nach Armenien. Frau Z. blieb noch in Aleppo bis vor knapp einem Jahr. Dann wurde die Firma ihres Mannes durch die Kämpfe zerstört, ihre über 90-jährigen Eltern verloren ihr Haus. Sie leben nun in Jerewan im Haus eines nahen Verwandten, der sich über die Jahre ein Haus am Rande Jerewans bauen konnte mit einem kleinen Motel als Zubrot.

Vor einem halben Jahr starb der Mann von Frau Z. überraschend in Jerewan. Frau Z., mittlerweile kurz vor der Rente, muss nun allein auf sich gestellt, mitten in den Kriegswirren in Aleppo die Geschäfte richten. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht, denn es ist keine Dauerlösung für sie und ihre alten Eltern bei ihrem Bruder K. in Jerewan. Ihre Eltern wollen in Armenien bleiben.

Wenn er jünger wäre, würde er sein Haus in Aleppo wieder aufbauen, erklärte der Vater, aber nun sei er zu alt. Alle ihre Kinder seien auf der Welt verstreut. Ein Sohn lebt mit seiner Familie in den USA, die eine Tochter in Beirut. Die Tochter Z. sei in Syrien geblieben, aber nun auch in Armenien, weil ihr Zuhause zerstört sei. Der alte Mann schaut verbittert ins Leere. Ob er jemals die Heimat seiner Eltern besucht hätte, frage ich. Nein, antwortet er in altmodischem Türkisch. Obwohl er nie in der Türkei war, spricht er türkisch.

Die Eltern hätten immer türkisch gesprochen, wenn sie als Kinder etwas nicht mitbekommen sollten. Das spornt zum Sprachenlernen an, sagte er schmunzelnd. Der alte Mann spricht auch noch neben seiner Muttersprache arabisch, türkisch und französisch, weil er die Franzosen in Syrien bis 1945 miterlebt hat. In Syrien sei es ihnen gut gegangen.

Assad hätte die Armenier beschützt, berichtet er. Enkelsohn G., ein Mittdreißiger, hat mittlerweile ebenfalls Frau und Kind. G. ist in Aleppo aufgewachsen. Sein Vater K. entschied, als G. 18 Jahre alt war, nach Armenien zu gehen, um sich dort eine Existenz aufzubauen, damit sein Sohn studieren kann. Heute ist G. ein in Jerewan angesehener Mediziner.

Eine Rückkehr nach Syrien ist für ihn ausgeschlossen. Obwohl er wohlwollend über seine Kindheit in Aleppo spricht. Und über den Präsidenten Baschar al-Assad, der das Bildungssystem für alle ausbaute. Wo er in der Schule neben der Hauptsprache Arabisch auch Russisch und Armenisch lernen konnte. Wo sie als armenische Minderheit anerkannt und nicht diskriminiert wurden. Wo Strom und Wasser in Staatsbesitz war und für alle zugänglich war.

Der Krieg in Syrien hat alle Gedanken an eine eventuelle Rückkehr in sein Geburtsland zunichte gemacht. "Syrien ist von Feinden umgeben: die Türkei, der Irak, Jordanien, Israel. Wie soll ein Land so existieren können?" Auch die USA und Europa ständen Syrien feindlich gegenüber, sie hätten den IS erst stark gemacht.

Ezidischer Tempel in Aknalitsch bei Jerewan. Foto: Elke Dangeleit

Für die junge Generation ist weder die Türkei, das Siedlungsgebiet ihrer Großeltern, noch Syrien eine Option. Wer kann und dort Verwandte - Nachfahren der Genozid-Überlebenden - hat, versucht sein Glück in Europa oder den USA. Aber auch diese Möglichkeiten schrumpfen angesichts der weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Probleme.

So bleibt dieser Generation nichts anderes, als sich in Armenien mit einem korrupten System zu arrangieren. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Russland 1991 wurde ein Präsidialsystem eingeführt. Korruption durchzog alle Bereiche des Landes, Mitglieder der Regierungspartei wurden mit einflussreichen Positionen in der Wirtschaft bevorzugt.