Armenien wendet sich von Russland ab

Sieht das einseitige Bündnis mit Moskau inzwischen als "strategischen Fehler": Armeniens Premier Nikol Paschinjan. Foto: iravaban.net / CC BY 3.0

Armenien galt bis vor Kurzem als treuer Verbündeter Moskaus. Nun finden in der Kaukasus-Republik gemeinsame Manöver mit den USA statt. Wie es dazu kam.

Am 1. September hat die armenische Regierung dem Parlament einen Vorschlag zur Ratifizierung des Römischen Statuts übermittelt. Dadurch würde sich Eriwan verpflichten, den Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs Folge zu leisten. Das würde im Fall einer Einreise des russischen Präsidenten Wladimir Putin automatisch bedeuten: Verhaftung und Übergabe an das Gericht.

Weiterhin hat Armenien unerwartet seinen ständigen Vertreter bei der sogenannten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) abberufen. Russland spielt in dem Bündnis eine führende Rolle. Ob überhaupt ein neuer Vertreter benannt wird, ist noch nicht klar.

Als dritter Schlag gegen Moskau finden seit dem 11. September in Armenien gemeinsame Militärübungen mit den USA statt, die noch bis zum 20. dieses Monats andauern. Besonders unangenehm daran ist für die Russen, dass sich die Armenier im Januar geweigert haben, Manöver der OVKS auf ihrem Territorium durchzuführen. Die Krone setzte der armenische Premier Nikol Paschinjan der aktuellen Entwicklung auf, als er erklärte, Eriwan würde die OVKS verlassen, falls sie sich als "inkompetente Organisation" erweise.

Armenien sieht einseitiges Bündnis als "strategischen Fehler"

Die Bruchlinie zwischen Eriwan und Moskau ist offensichtlich; und es wird von armenischer Seite auch gar nicht versucht, sie zu kaschieren. Premier Paschinjan erklärte der italienischen Zeitung La Repubblica ganz offen, dass "Armeniens Sicherheitsarchitektur zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden ist" – und nannte das einen "strategischen Fehler".

Die armenische Führung versuche aktuell, ihre Strategie zum Schutz des Landes zu "diversifizieren". Der Kreml verbirgt seine Verärgerung über das armenische Verhalten nicht und vermutet Tricks westlicher, subversiver Beeinflussung, mit der versucht werde, Russland aus dem Südkaukasus zu verdrängen.

Entscheidender für die armenische Kehrtwende weg von Russland ist jedoch die zeitgleiche Verschärfung der Lage um die von Armeniern besiedelte Region Bergkarabach. Aserbaidschan, das diese als eigenes Staatsgebiet sieht, kann jederzeit eine Militäroperation in die nach Unabhängigkeit strebende Region starten, um die vollständige Kontrolle zu übernehmen. Sollte das geschehen, würden Tausende Armenier in Karabach gezwungen sein, ihre Häuser zu verlassen und nach Armenien zu fliehen.

Warum riskiert in dieser prekären Situation Armenien, die Unterstützung des großen Verbündeten Russland zu verlieren? Bereits 2020, im 44-tägigen Krieg um Karabach, sahen sich die Armenier mit einer großen Gleichgültigkeit des Verbündeten in Moskau konfrontiert, das dem kleineren Partner trotz großer Bedrängnis nicht wirklich zur Hilfe kam.

Erst mit dieser Nichteinmischung und fortgesetztem Schweigen ermöglichten die Russen den Aserbaidschanern, die fast vollständige Kontrolle über die in den 1990er-Jahren verlorene Region wiederzubekommen.

Passivität Moskaus provoziert ein Ende des Bündnisses

So ist es die Hauptmotivation für die Armenier für ihre demonstrative Abwendung, dem Kreml zu demonstrieren, dass Russland Armenien als Verbündeten verlieren wird, wenn Moskau die Aserbaidschaner nicht stoppt. Formal unterhält Moskau vor Ort Militär in Form von Friedenstruppen, die entlang der neuen Frontlinie nach dem Karabach-Krieg 2020 für fünf Jahre in Karabach stationiert wurden.

Doch Aserbaidschan spürt die aktuelle Schwäche der Russen in Folge des Ukraine-Kriegs und deutet mit türkischer Rückendeckung bereits an, dass die Russen 2025 die Region zu verlassen haben.7

Auch auf der armenischen Gegenseite sind die russischen Truppen aufgrund ihrer bisherigen Passivität nicht mehr beliebt. In Gjumri in Nordarmenien kommt es zunehmend zu Kundgebungen von Einheimischen gegen den dortigen russischen Militärstützpunkt. So könnte durchaus auch eine unzufriedene armenische Gesellschaft die russischen Soldaten letztendlich dazu zwingen, das Land zu verlassen.

So ist Armenien auf der Suche nach neuen Verbündeten - die mit den Aserbaidschanern verwandte Regionalmacht Türkei steht deutlich auf ihrer Gegenseite. Neue Partner hofft man nun in Form der westlichen Staaten zu finden. Die gemeinsamen Militärübungen mit den USA sind dabei nur eine Episode einer längerfristigen Annäherung.

Im vergangenen Jahr gab es zwischen Baku und Eriwan mehrere Verhandlungsrunden auf Vermittlung von Brüssel und Washington. In Belgien fand auch das letzte persönliche Treffen zwischen Paschinjan und seinem Kontrahenten Ilham Aliyev aus Aserbaidschan statt. Mit jeder dieser Aktionen verliert Moskau im Ringen um Frieden an Einfluss im Vergleich zu den Bemühungen der westlichen Staaten.

Am Ende gab Paschinjan mit der Anerkennung der aserbaidschanischen Oberherrschaft über Karabach den russischen Plan zur Lösung des Konflikts auf. Dieser sah jedoch nur vor, genau diese Lösung auf unbestimmte Zeit zu verschieben und alles an der aktuellen Frontlinie einzufrieren. Paschinjan wollte jedoch nicht als jemand in die Geschichte eingehen, der einen Krieg verloren hat, sondern einen dauerhaften Frieden erreicht.

Moskauer Unmut wird mit Provokation gekontert

Angesichts der Hinwendung der Armenier nach Westen ist aus Moskau ein deutliches Donnergrollen nicht zu überhören. Die stets kampflustige russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa bezeichnete die Rhetorik der armenischen Regierung als "Unhöflichkeit".

Die Antwort aus Eriwan war jedoch nicht höflicher, als der armenische Parlamentssprecher Sacharowa als "eine Art Sekretärin" bezeichnete. Auch die Taten die folgten, waren nicht weniger provokativ. Armenien schickte zum ersten Mal seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine humanitäre Hilfe nach Kiew und die Ehefrau des armenischen Premiers reiste in die ukrainische Hauptstadt zu einem Gipfeltreffen von First Ladies und Gentlemen.

All das sind auch Signale an den Westen, dass die Zeiten armenischer Loyalität gegenüber Moskau vorbei ist. Immer auch mit dem Ziel, die Russen zu überzeugen, im Südkaukasus massiver einzugreifen und einen drohenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan zu verhindern. Doch Russland ist durch die harte militärische Auseinandersetzung gegen die Ukraine beschäftigt und so wird wohl Russlands Präsenz und Einfluss im Südkaukasus weiter abnehmen.