Armutslöhne als politischer Erfolg?
Die Kritik am veränderten Armutsbericht der Bundesregierung war vorhersehbar, ist aber heuchlerisch
Als parteipolitisch motivierte Manipulation kritisiert das Bündnis Umfairteilen - Reichtum besteuern! die massiven Streichungen im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. "Der zum Teil schonungslosen Analyse im ersten Entwurf der Bundesarbeitsministerin wurden offensichtlich in zentralen Passagen sämtliche Zähne gezogen", kritisiert Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Auch der DGB und sämtliche Oppositionsparteien monieren, dass die aktuelle Fassung des Armuts- und Reichtumsbericht (Der Staat wird ärmer) in wesentlichen Teilen von der Fassung abweicht, der Ende September vom Bundesarbeitsministerium vorgelegt und sogleich von dem FDP-Vorsitzenden und Teilen der Union heftig kritisiert wurde (Rösler und der Romneyeffekt).
Es bestehe die Gefahr, dass aus einigen Formulierungen in dem Bericht Argumente für eine stärkere Vermögensbesteuerung gezogen werden könnten, lautet ein Argument der Kritiker. Dabei stieß sich Rösler vor allem an dem Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, "ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann".
In den nun mit allen Ministerien abgestimmten Bericht sind solche inkriminierten Passagen nicht mehr enthalten. Wo in der ersten Fassung noch von einer zunehmenden Armutsspreizung und einer wachsenden Kluft zwischen arm und reich die Rede war, wird jetzt in Loblied auf den Niedriglohnsektor angestimmt, der Deutschland eine stabile Wirtschaft beschere und die Arbeitslosigkeit sinken lasse.
Klingt wie Gerhard Schröder
Doch ist die Aufregung wirklich berechtigt? Bei vielen der Betroffenenverbände ist der Ärger über die Umformulierungen verständlich. Sie hatten seit Jahren dafür gekämpft, dass gesellschaftlich anerkannt wird, dass eine Politik, wie sie in der Agenda 2010 deutlich wird, zu wachsender Armut in der Bevölkerung führt. Wenn diese Version zumindest in Ansätzen im Armutsbericht festgehalten worden wäre, hätte man zweifellos von einem Erfolg für diese Initiativen sprechen können. Doch SPD und Grünen darf man ihre Empörung nicht abnehmen. Das ist eben Wahlkampf. Denn sie haben nicht nur die Agenda 2010 auf den Weg gebracht, sondern genau die gleichen Argumente dafür verwendet, wie sie jetzt in dem Armutsbericht kritisieren.
Daran mögen führende Politiker dieser Parteien im anstehenden Wahlkampf nicht so gerne erinnert werden. Aber gerade ein Kandidat wie Steinbrück kann sich gar nicht so sehr verbiegen, dass er nicht immer als Agenda2010-Politiker identifiziert wird. Und er will es auch gar nicht. Wenn nun die Sozialdemokratie wie am Wochenende auf dem Parteitag kosmetische Veränderungen fordert, dann meldet sich prompt Alt-Kanzler Schröder zu Wort und verteidigt die Agenda-Politik vehement. Schon zum 10. Jubiläum bezeichnete er die maßgeblich zu den sozialen Verwerfungen führende Reform, die in der ersten Fassung des Armutsbericht noch zaghaft benannt wurden, als Gewinn für die Gesellschaft. Dass ein großer Teil der SPD dazu keinen Widerspruch hat, zeigt sich schon daran, dass sie Schröders Wunschkandidaten zum Kanzleraspiranten ernannten. Wenn SPD-Generalsekretärin Nahles nun der Regierung vorwirft, mit der neuen Version des Armutsberichts Realitätsverweigerung zu betreiben, so müsste sie die Kritik auch an große Teile der eigenen Partei zu richten.
Daher kann die Bundesregierung mit dieser Kritik gut leben. Interessanter ist für sie die Frage, wie lange relevante Teile der Bevölkerung einen wachsenden Niedriglohnsektor bei gleichzeitigem Ansteigen von gesellschaftlichem Reichtum akzeptieren. Diese Frage wurde in der ersten Version des Berichts noch gestellt. Die bisher geringe Beteiligung der Bevölkerung in Deutschland an den europäischen Protesttagen gegen die Folgen der Wirtschaftskrise zeigt, dass das Bekenntnis zum Standort Deutschland in großen Teilen der Bevölkerung noch intakt ist.