Athen: Von anarchistischen Luftlandetruppen und anderen Surrealitäten

Bild: W. Aswestopoulos

Ausschreitungen und Polizeigewalt zum Jahrestag der Ermordung des Schülers Alexis Grigoropoulo

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"Aerometaferomenes monades tagmaton anarchikon" - übersetzt Luftlandetruppen der Anarchisten haben nach Ansicht des griechischen TV-Senders ANT1 in der Nacht von Samstag auf Sonntag die Athener Innenstadt unsicher gemacht. Wie in jedem Jahr seit dem 6. Dezember 2008 wurde in Athen der Ermordung des fünfzehnjährigen Schülers Alexis Grigoropoulos gedacht (Athen brennt nicht).

Bild: W. Aswestopoulos

Wie zu jedem Jahrestag wollte auch dieses Mal die Jugend des Landes ob der Perspektivlosigkeit und immer noch vorhandenen blinden Polizeigewalt ihre Wut in Demonstrationen zeigen. Dieses Jahr gab es einen weiteren Grund für Aufruhr. Der engste Freund Grigoropoulos, Nikos Romanos, befindet sich im Hungerstreik.

Nikos hatte an jenem denkwürdigen 6. Dezember seinen Namenstag zusammen mit seinen Freunden gefeiert, als es zum Zwischenfall mit der Polizei kam. Grigoropoulos starb buchstäblich in den Armen seines Freundes. Was folgte, ist die nahezu klischeehafte Entwicklung einer Verkettung ungünstiger Umstände und Entscheidungen. Der seinerzeit fünfzehnjährige Bub, ein Sprössling einer begüterten Familie, rutschte ab.

Romanos Großvater mütterlicherseits war vor Jahrzehnten Präsident einer Schriftstellervereinigung. Wegen Mordes an einem Kollegen wurde er in Haft genommen Die getrennten Eltern eint der gemeinsame Linksliberalismus. Sie zählen lieber zu den Intellektuellen, als zu den Reichen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Tatsache, dass Romanos Vater mit einem einfachen Handy für 15 Euro telefoniert, während neben ihm in der Solidaritätsdemo der Anarchisten die vermummten Kids mit iPhones oder ähnlichen Smartphones neuester Generation hantieren.

Romanos Drama in Kürze

Nikos erlebte als traumatisierter Jugendlicher die Euro-Krise, die Jugendarbeitslosigkeit, die allgemeine Perspektivlosigkeit und die Straflosigkeit der verantwortlichen Politiker. Sein Vater berichtet in Interviews dass sein "Sohn die Welt verbessern möchte".

Irgendwann in der Kette von Ereignissen, die mit oft von Seiten der Polizei in Gewaltorgien mündenden Demonstrationen gespickt waren, beschloss Nikos, den bewaffneten Kampf gegen das System aufzunehmen. Er ging in den Untergrund, schnappte sich eine Kalaschnikow und attackierte zusammen mit ein paar Kumpels eine Bank in der griechischen Provinz. Mit dem erbeuteten Geld wollten die Kids weitere Waffen kaufen und die Welt retten.

Sie wurden erwischt, windelweich geschlagen, inhaftiert und verurteilt. Wie üblich bekam er als linker Gesinnungsgenosse die volle Härte des Gesetztes zu spüren, sechzehn Jahre Haft als Urteil. Dennoch blieb den Kumpels, die allesamt irgendwie mit Alexis Grigoropoulos verbunden waren, eine Verurteilung als Terroristen erspart. Offiziell mussten sie daher nicht die Haftbedingungen in "Sonderzellen Typ Gamma" erleiden.

In Haft begann der wegen versuchten Raubes verurteilte Romanos wieder in Richtung bürgerliches Leben zu denken. Er nahm das Angebot der Haftanstalt an, sich an den zentralen Abiturprüfungen zu beteiligen. Nikos gewann mit seinen Noten die Anerkennung der Lehrer und einen Studienplatz an einer Fachhochschule. Es winkte die Resozialisierung. Krankenhausmanagement, Romanos Studienplatz, klingt wenig anarchistisch. Eigentlich würde der gescheiterte Bankräuber nun als Freigänger zumindest an einigen Tagen in der Woche an seiner Hochschule studieren. Eigentlich.

Denn obwohl er zu Beginn des Schuljahrs vom Staatspräsidenten und vom Justizminister ob seines Prüfungserfolgs einen Belobigung und einen Geldpreis erhalten sollte, darf Nikos nicht studieren. Mit den 500 Euro, die jeder frische, inhaftierte Student als Prämie erhält, möchte der Staat die Resozialisierung weiter fördern. Romanos lehnte Geld und Auszeichnung ab. Beides entspräche nicht seiner Ideologie. Ein Affront?

Tatsächlich brachte sich der Junge damit in eine Reihe mit ebenfalls inhaftierten linken Terroristen, die unter heftigen Einschränkungen ihre Haft erdulden müssen. Der schwer behinderte, fast blinde Savvas Xiros bekommt keine ausreichende medizinische Versorgung. Der gelernte Ikonenmaler, dessen Lunge bei einer missglückten Bombenexplosion erheblich und dauerhaft verletzt wurde (Kriminalität und Waffen beherrschen die Schlagzeilen Griechenlands zum Jahresausklang), droht in seiner kühlen und feuchten Zelle buchstäblich zu vermodern.

Iraklis Kostaris, ein ehemaliger Mitstreiter Savvas Xiros wählte wie Romanos den Hungerstreik als Protest. Kostaris hatte seit mehr als drei Jahren erfolgreich studiert. Der Musterhäftling hat der Terrororganisation 17. November lange abgeschworen und steht kurz vor dem Diplom, darf aber ebenfalls nicht mehr studieren.

Ihnen allen wurde die Flucht von Christodoulos Xiros zum Verhängnis. Dieser nutzte Anfang Januar einen Hafturlaub für die Flucht. In der Folge gab es seitens der Regierung Rügen für die Richter und Staatsanwälte, welche den Urlaub ermöglicht hatten. Für das Justizpersonal ist damit die weitere Karriere schlicht verbaut. Als weiteren Eingriff in den Strafvollzug verschärfte das Justizministerium mit einer Sonderregel das System der Hafturlaube. Seitdem kommen Drogenhändler, korrupte Beamte und Unternehmer frei.

Antonis Kantas, der bei Waffendeals mindestens fünfzehn Millionen Euro Schmiergeld erhalten hatte, wurde im November nach knapp elf Monaten Haft freigelassen. Dass ihm bei einer Verurteilung sogar die lebenslange Haft droht, scheint zu keiner Fluchtgefahr zu führen. Um 250 Millionen Euro prellte ein halbes dutzend Unternehmer den Staat mitten in der Krise. Die Inhaber des mittlerweile erloschenen privaten Stromunternehmens Energa - Hellas Power hatten wie üblich Immobiliensteuern zusammen mit der Stromrechnung kassiert, diese aber schlicht in die Schweiz verbracht. Die Gelder sind immer noch weg. Den Unternehmern macht das Leben trotzdem Spaß. Sie feiern teure Partys auf Mykonos.

Kunststück, denn ihr Verteidiger ist der amtierende Gesundheitsminister Makis Voridis. Zu einem entscheidenden Prozesstermin war zudem der damalige Finanzminister Yannis Stournaras nicht erschienen und hatte auch keinen Vertreter des Staats für die Verteidigung der Nebenklage geschickt. Mit einer Sonderregelung für Drogenhändler hatte Justizminister Athanassiou zudem geregelt, dass alle verurteilten Drogenhändler, welche Strafen von bis zu fünfzehn Jahren aufgebrummt bekommen haben, nach dem Verbüßen eines Drittels der Zeit frei kommen.

Zusammen mit einer weiteren Regel, welche die Ausübung eines Jobs während der Haft als Verdopplung der angerechneten Zeit entlohnt, sind fünfzehn Jahre Haft für Heroin damit innerhalb von knapp 30 Monaten um. Bei Anarchisten gilt diese Erleichterung, die vorgeblich die Justizanstalten entlasten soll, natürlich ebenso wenig wie für Ladendiebe.

Kurz, nicht nur linke, terroristische oder anarchistische Kreise in Griechenland sind der Ansicht, dass der Staat das Recht nach Gusto einsetzt und ändert. In diesem Zusammenhang fand der 6. Dezember als Symboltag eine breite Anerkennung in der Bevölkerung und vor allem unter Schülern. Weil nun gegen Massendemonstrationen in Griechenland immer die Polizeigewalt eingesetzt wird, hatte Bürgerschutzminister Kikilias mit landesweit 18.000 Einsatzpolizisten die gesamte Mannschaft zur Demonstrationsauflösung im Einsatz.