Auch 2021 nur mäßige Übersterblichkeit in Deutschland?
Seite 3: Gründe für die moderat ausgefallene Übersterblichkeit
- Auch 2021 nur mäßige Übersterblichkeit in Deutschland?
- Umstrittener Erwartungswert
- Gründe für die moderat ausgefallene Übersterblichkeit
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Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind seit Beginn der Pandemie bis November 2021 rund 102.000 Menschen an oder mit dem Coronavirus gestorben; für den Dezember 2021 ist noch einmal mit ungefähr 10.000 Todesfällen zu rechnen, sodass es für beide Jahre am Ende 110.000 sein werden, wovon circa 40.000 auf 2020 und 70.000 auf 2021 entfallen.
Das sind hochgerechnet auf 2020 und 2021 etwa vier respektive sieben Prozent aller Todesfälle – mithin deutlich mehr, als ich hier in Tabelle 1 als Übersterblichkeit ausgewiesen habe (0,7 respektive 2,6 Prozent). Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Sterblichkeit nach Monaten, Geschlecht und Altersgruppen
In der fünften Abbildung werden Todesfälle und Erwartungswerte für alle Alters- und Geschlechtsgruppen zusammen monatsweise über den Verlauf der Pandemie verglichen.
Zunächst fällt auf, dass der Beginn des Jahres 2020 von einer Untersterblichkeit geprägt ist, die man noch nicht auf Hygienemaßnahmen zurückführen kann.
Die erste Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 fällt bei der Sterblichkeit noch kaum ins Gewicht; lediglich der April weist eine geringe Übersterblichkeit auf. Die leichte Übersterblichkeit im August 2020 ist wahrscheinlich auf eine ausgeprägte Hitzewelle zurückzuführen. Das Hauptgewicht der Übersterblichkeit entfällt auf die Monate November 2020 bis Januar 2021 und ist mit deutlich erhöhter Covid-Sterblichkeit assoziiert.
Demgegenüber sind die beiden Folgemonate Februar und März 2021 trotz einer beträchtlichen Zahl von Covid-Toten von Untersterblichkeit geprägt.
Das kann man als Effekt vorweggenommener Sterblichkeit ("displaced mortality") interpretieren: Viele entsprechend geschwächte Personen, die in anderen Jahren im Februar und März der Grippe zum Opfer gefallen wären, wären nun bereits zwei Monate zuvor mit Corona gestorben.
Man kann es auch mit dem verringerten Aufkommen von Influenza-Infektionen ("Grippe") in Verbindung bringen, sei es, dass diese wegen der Hygienemaßnahmen, oder – wie auch schon 2019 – zufällig ausgeblieben wären.
Gegen Ende des Jahres 2021 gibt es dann noch einmal eine leichte Übersterblichkeit, die offenbar fast vollständig mit Covid (und den diesbezüglich zu erwartenden Nachmeldungen) assoziiert ist.
Die jüngste Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes, wonach hier eine nicht durch Covid bedingte Übersterblichkeit aufträte, lässt sich also nicht bestätigen. Sie erscheint eher als Fehlschluss aus den zu niedrig angesetzten Erwartungswerten.
Ähnliche Muster wie in Abbildung 5 sind in allen höheren Altersgruppen (über 60 Jahren) weitgehend unabhängig vom Geschlecht zu finden. Bei den Jüngeren (unter 60 Jahren) ist insgesamt fast über alle Monate hinweg Untersterblichkeit zu beobachten; lediglich bei den 40- bis 59-jährigen Männern sind Covid-assoziierbare Übersterblichkeiten zum Jahreswechsel 2020/21 sowie im April und Mai 2021 zu konstatieren.
Bei den Männern unter 40 Jahren gibt es Monate (12/20, 06/21, 09/21) mit leichten Übersterblichkeiten, die nicht mit Covid assoziiert sind; diese Beobachtung sollte man aber angesichts der ohnehin niedrigen und daher sprunghafteren Todeszahlen in dieser Altersgruppe nicht vorschnell interpretieren.
Insgesamt ist das Bild von der Beobachtung dominiert, dass Monate mit Übersterblichkeit durch Covid – Dezember 2020 und Januar 2021 – Monaten mit Untersterblichkeit wegen ausbleibender Grippe – Februar und März 2020 und 2021 – gegenüberstehen und sich diese Übersterblichkeiten und Untersterblichkeiten teilweise gegeneinander aufwiegen. Entsprechend ist nur ungefähr ein Drittel der Covid-Sterblichkeit als Übersterblichkeit zu verbuchen.
Deutschland im Vergleich mit anderen OECD-Ländern
Die Übersterblichkeit in Deutschland liegt trotz der Pandemie erfreulich niedrig; deutlich niedriger als zum Beispiel in den USA und Polen, aber höher als in Australien oder Neuseeland, die für 2020 eine deutliche Untersterblichkeit ausweisen (Abbildung 6).
Es liegt nahe, die internationalen Übersterblichkeitswerte in Abbildung Nummer sechs auf mehr oder weniger stringente staatliche Maßnahmen zurückzuführen. Um diese Annahme zu überprüfen, habe ich den Oxford COVID-19 Government Response Tracker herangezogen, der die "Strenge" der staatlichen Reaktionen auf der Grundlage von neun Reaktionsindikatoren, wie etwa Schulschließungen, Arbeitsplatzschließungen und Reiseverboten, täglich misst und in einem Index bündelt.
Die Werte aus diesem Index habe ich für 2020 aufsummiert und mit den Übersterblichkeitszahlen verknüpft. Wie wir in Abbildung 7 sehen können, weisen die Länder mit der höheren Stringenz amtlicher Maßnahmen tendenziell höhere Übersterblichkeitszahlen aus. Das empirische Ergebnis widerspricht der intuitiven Erwartung also diametral.
Je stringenter die Maßnahmen, umso höher die Übersterblichkeit?
Dieser kontra-intuitive Befund sollte nicht so interpretiert werden, dass eine größere Strenge zu mehr Übersterblichkeit führt. Plausibler erscheint es, hier eine umgekehrte Kausalität anzunehmen, nämlich dass in Ländern, die von schweren Infektionswellen getroffen wurden, der Staat mit deutlich sichtbaren Maßnahmen Handlungsfähigkeit demonstriert hat – meist wohl zu einem Zeitpunkt, als die Infektionswellen schon von selbst abgelaufen waren und die Maßnahmen daher auch nicht mehr viel bewirken konnten.
Auch sonst ist zu fragen, ob amtliche Maßnahmen immer nur aufgrund ihrer infektionsbiologischen Angemessenheit erfolgen. Viele werden offenbar eher nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt, etwa im Hinblick auf leichte Umsetzbarkeit, Überprüfbarkeit und Sichtbarkeit – wie etwa die vielfach erlassenen Maskenpflichten im Freien.
Außerdem stehen die Regierungen vor der Aufgabe, widerstreitende Meinungen in der Gesellschaft zufriedenzustellen – für diejenigen, die Angst haben, erlässt man scharfe Maßnahmen, und diejenigen, die diese Angst für übertrieben halten, beruhigt man damit, dass man die Umsetzung der Maßnahmen nicht kontrolliert.
Aber in jedem Fall ist es zu einfach, zwischen staatlichen Maßnahmen und Übersterblichkeit einen unmittelbaren Zusammenhang anzunehmen. Zunächst kommt es auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger an, die Maßnahmen zu befolgen beziehungsweise auch ohne staatliche Vorschriften von selbst Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.
Zweitens spielt Resilienz des Gesundheitswesens eine erhebliche Rolle – Krankenhauskapazitäten waren im Zuge neoliberaler Reformen in vielen Ländern abgebaut worden und werden in Deutschland trotz Pandemie weiter abgebaut.
Drittens kommt es auf die Anfälligkeit gegenüber dem Virus und die Abwehrkräfte des Immunsystems an – hier scheint es erhebliche Unterschiede zwischen Ländern zu geben, sei es aufgrund der Verbreitung von Risikofaktoren, der Existenz von Kreuzimmunitäten infolge der Begegnung mit anderen Coronaviren, oder aufgrund unterschiedlicher genetisch bedingter Vulnerabilität.
Und schließlich ist auch an die Eigendynamik des Virus zu denken, die darin sichtbar wird, dass Nachbarländer oft ähnliche Dynamiken im Auf und Ab der Wellen erleben, obwohl sie teilweise sehr unterschiedliche Politiken verfolgen. Es handelt sich also um ein komplexes Geschehen, dessen Zusammenhänge nur schwer zu entwirren sind. Insofern muss man wohl sagen: Im Hinblick auf die Übersterblichkeit hat Deutschland bisher vielleicht einfach Glück gehabt.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Wie wir gesehen haben, ist die Übersterblichkeit als Maß für die Schwere einer Krise nicht ganz einfach und sicher zu ermitteln. Ich habe zwar ziemlich exakte Werte genannt – 0,7 Prozent gleich 7.000 Todesfälle für 2020 und 2,6 Prozent gleich 26.000 Todesfälle für 2021; gleichzeitig ist aber darauf hinzuweisen, dass hier ein Unsicherheitsfaktor besteht, sodass die Zahlen auch rund ein Prozent höher oder tiefer liegen können.
Zurückzuweisen sind aber in jedem Fall die Angaben, die das Statistische Bundesamt regelmäßig zur Übersterblichkeit macht. Sie beziehen die Alterung in der Gesellschaft nicht ein und sind daher weit überhöht. Das Bundesamt weiß sich dabei zwar in "guter Gesellschaft" mit dem, was in der wissenschaftlichen Literatur teilweise angenommen wird.
Aber man muss hier fragen, wie diese Literatur Übersterblichkeit definiert: Als eine Sterblichkeit über dem demografisch erwartbaren Durchschnitt (so wie ich es hier tue), oder als Sterblichkeit, die schon in der Vergangenheit fast immer überhöht war und bei der bereits vor Corona neun Monate im Jahr die Alarmglocken hätten läuten müssen.
Gleichzeitig ist zu überlegen, wie die geringe Übersterblichkeit mit dem Faktum zusammen passt, dass das RKI in Deutschland seit Beginn der Pandemie 110.000 Coronatote gezählt hat. Die einen verweisen hier auf das hohe Alter der Sterbefälle und schreiben die Todesfälle entsprechend auf allgemeine Hinfälligkeit zu, verbuchen sie also unter "Sterben mit Corona".
Die anderen führen den Rückgang der übrigen Atemwegserkrankungen ins Feld und sinnieren bereits darüber, ob und wie man die aktuell getroffenen Vorbeugemaßnahmen auf Dauer stellen kann, um Atemwegserkrankungen auch zukünftig zu vermeiden.
Beide Ursachen, Hinfälligkeit und das zufällige oder präventionsbedingte Ausbleiben der Wintergrippe, mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die relativ hohe Zahl von Coronatoten mit einer relativ niedrigen Übersterblichkeit einhergeht. Auf der Basis der hier vorliegenden Daten lässt sich aber nicht quantifizieren, welcher Mechanismus stärker und welcher schwächer wirksam ist.
Wir können auch nicht ableiten, wie wirkungsvoll staatliche Abwehrmaßnahmen in der Coronapandemie gewesen sind. Denn das Präventionsparadoxon, auf das sich die Maßnahmenbefürworter gerne berufen, entfaltet seine Logik nach beiden Seiten: Es mag schon sein, dass das Ausbleiben von Folgen auf die Wirksamkeit ergriffener Maßnahmen zurückzuführen ist.
Aber mit diesem Argument kann man die Wirksamkeit jeglicher Art von Maßnahmen behaupten: Es gibt keine Krokodile am Nordpol – das liegt daran, dass Norwegen am Polarkreis Verbotsschilder aufgestellt hat, die den Krokodilen untersagen, dorthin zu schwimmen.
Jedes Mal, wenn "die Zahlen" hochgehen und die Angst, medial getrieben, entsprechend um sich greift, werden alsbald, meist mit einigem Zeitverzug, "Maßnahmen" ergriffen. Wenn die Zahlen dann sinken, wird das den Maßnahmen zugeschrieben – obwohl es an der natürlichen Eigenart von epidemischen Wellen liegen könnte, auch ohne äußere Eingriffe zu brechen.
Nur wenn es, wie in einem experimentellen Setting, Vergleichsfälle gibt, die sich nur in den Interventionen und in sonst nichts unterscheiden, kann man Wirksamkeitsbehauptungen sinnvoll überprüfen.
Da aber alle Länder irgendwann ein heterogenes, wenig vergleichbares Bündel von Maßnahmen ergriffen haben, und auch die Kontextbedingungen komplex und wenig vergleichbar sind, ist es schwer, Wirkungen dingfest zu machen.
Nur in Modellstudien sind Wirkungen eventuell klar ableitbar, aber das liegt dann daran, dass man sich hier "die Ostereier selbst versteckt", das heißt Annahmen getroffen hat, die sich zirkulär bestätigen.
Ohnehin ist es noch zu früh, Bilanz zu ziehen, welche Länder besser oder schlechter durch die Pandemie kommen. Denn diejenigen, die am Anfang nur mit wenigen Infektionen und überhaupt nicht mit Übersterblichkeit konfrontiert waren, sehen sich dann später eventuell mit umso größeren Problemen konfrontiert.
Sei es, weil sie aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen ihre Länder wieder öffnen müssen. Oder sei es, weil sie mit den über die Zeit hinweg absehbar immer infektiöser werdenden Mutanten des Virus konfrontiert sind, gegen die sie immer restriktivere nicht-pharmazeutische Abwehrmaßnahmen ergreifen müssten.
Zwar können Sie dann eventuell auf pharmazeutische Mittel wie Impfungen oder Medikamente zurückgreifen, die unterdessen entwickelt wurden und ihre Todeszahlen damit weiterhin im Normalbereich halten. Mit der Zeit werden die Toten, zumal im hohen Sterbealter, jedoch vergessen werden, während die Langzeitfolgen drakonischer Abwehrmaßnahmen eventuell immer stärker zutage treten.
Bernhard Gill ist ein deutscher Soziologe und Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, Fachgebiet Umwelt-, Technik- und Risikosoziologie.
Auszüge aus den zugrunde liegenden Rechnungen stehen auf einer Website des Autors zusammen mit den ausführlicheren methodischen Erläuterungen zum Download bereit.