Auch 2021 nur mäßige Übersterblichkeit in Deutschland?

Die erwartete Übersterblichkeit liegt 2020 bei 0,72 Prozent und 2021 bei 2,61 Prozent (siehe Tabelle 1)

Welche statistischen Probleme bei der angenommenen Sterblichkeit bestehen. Und wie Emotionalisierung einen sachlichen Blick vernebelt. Eine kommentierte Nachberechnung

Übersterblichkeit ist ein ins 19. Jahrhundert zurückreichendes Konzept, um die Schwere von Epidemien und anderen Bedrohungslagen zu bestimmen – jenseits von anekdotischen und häufig überzogenen Schreckensberichten. Wenn in einem bestimmten Zeitraum und Distrikt tatsächlich mehr Tote gezählt werden als üblich, spricht man von Übersterblichkeit. Man umgeht auf diese Weise zugleich das Problem, dass Todesursachen oft falsch zugeschrieben werden.

Im Falle von Covid besteht etwa das Problem, dass eventuell nicht ausreichend Tests zur Verfügung stehen, und daher Todesfälle nicht der Epidemie zugerechnet werden, oder umgekehrt, dass Menschen mit einem positiven Covid-Test sterben, die auch sonst im betreffenden Zeitraum aufgrund anderer Ursachen gestorben wären. Oder dass Menschen indirekt aufgrund der Epidemie sterben, etwa weil die Hospitäler überfüllt sind und deshalb Herzinfarkte oder Schlaganfälle nicht behandelt werden können.

Oder wegen der Lockdown-Maßnahmen sterben, die über das Land verhängt wurden. Oder aus weiteren oder ganz anderen Gründen. Der Tod ist eine unumstößliche Tatsache, während Todesursachen in vielen Fällen komplex, interpretationsbedürftig und daher auch strittig sein können.

Insoweit besteht in Fachkreisen allseits Einigkeit über den Sinn dieses Konzept, sodass manche Wissenschaftler:innen bezüglich der Übersterblichkeit sogar vom "Goldstandard" der Epidemiologie sprechen.

Bis vor kurzem war dieses Konzept allerdings nur in Fachkreisen geläufig. Erst mit der Corona-Epidemie fand es darüber hinaus Resonanz in der allgemeinen Öffentlichkeit. Allerdings in einer häufig emotionalisierten und verzerrten Weise: "Sterblichkeit" klingt schon schlimm und "Übersterblichkeit" klingt dann geradezu schreckenerregend, ganz unabhängig davon, wie hoch die Übersterblichkeit nun genau ist.

Da wir als Normalbürger:innen weder zur durchschnittlichen Sterblichkeit, noch gar zur Übersterblichkeit in der Vergangenheit Vergleichsmaßstäbe haben, reicht die pure Erwähnung des Wortes, um uns in Angst zu versetzen.

Im Laufe der Coronapandemie gab es in Deutschland vier Wellen der Infektion und der öffentlichen Aufmerksamkeit, die mit stark gefühlter Übersterblichkeit einhergingen: Das Frühjahr 2020, der Jahreswechsel 2020/21, der Frühling 2021, und jüngst der November 2021. In diesen Phasen gab es auch nach meinen Berechnungen Monate mit bis zu 25 Prozent Übersterblichkeit, die in einigen Hotspots in Sachsen und Bayern gelegentlich noch deutlich höher lag.

Aber über die Gesamtzeit und Gesamtdeutschland gerechnet ist die Sterblichkeit, zum Glück, gar nicht so stark über das erwartbare Maß angestiegen. Im Jahr 2020 war sie um 0,7 Prozent, im Jahr 2021 um 2,6 Prozent erhöht. Damit lag sie deutlich niedriger, als angesichts von 110.000 Covid-Toten zu erwarten wäre, wenn es sich bei den Covid-Toten ausschließlich um zusätzliche, das heißt über das erwartbare Maß hinausgehende Todesfälle handeln würde.

Doch was ist das erwartbare Maß? Wie bestimmt man die Zahl der "durchschnittlich erwartbaren Todesfälle"? Dazu gibt es unterschiedliche Methoden, die ihrerseits fachlich durchaus umstritten sind. Im nächsten Teil kritisiere ich die Berechnungen, mit denen das Bundesamt für Statistik Übersterblichkeit bestimmt: Durch die Nicht-Berücksichtigung der veränderten Altersstruktur kommt man regelmäßig zu einem übertrieben niedrigen Erwartungswert und damit zu überhöhten Übersterblichkeitszahlen.

So würde die Übersterblichkeit 2020 insgesamt 5,0 Prozent und 2021 insgesamt 7,4 Prozent betragen haben. Dagegen lege ich dar, wie der Erwartungswert an die Alterung der Bevölkerung und an die steigende Lebenserwartung angepasst werden muss, um einen realistischen Vergleichsmaßstab abzugeben.

Im dritten und letzten Teil gehe ich dann der Frage nach, inwieweit die Covid-assoziierten Todeszahlen mit den Übersterblichkeitszahlen korrespondieren und wo die Gründe für die mäßig ausfallende Übersterblichkeit liegen. Zwar liegt es nahe, im Sinne des Präventionsparadoxons auf die Wirksamkeit der Abwehrmaßnahmen zu verweisen.

Interessanterweise verzeichnen aber die Länder mit den schärfsten Maßnahmen die höchste Übersterblichkeit. Das mag reverser Kausalität geschuldet sein: Viele Regierungen haben, in Reaktion auf Berichte von hohen Sterblichkeitszahlen, zu drakonischen Maßnahmen gegriffen. Angesichts der Komplexität der Pandemie scheint es jedenfalls angebracht, von vorschnellen Schlüssen abzusehen.