"Auf Basis der Steuergesetze von 1998 wären über 50 Milliarden mehr in den Staatskassen gelandet"
Seite 2: "Deutsche Sklaverei"
Aber es ist doch in Verbindung mit Hartz IV immer von einem "neuen Jobwunder" die Rede ...
Werner Seppmann: Das gab es auch, jedoch nur bei der Ausbreitung der prekären Arbeitsplätze, von denen es mittlerweile fast 8 Millionen gibt. Nur die Spitze des Eisberges sind die 7.000 Beschäftigten in den deutschen Schlachthöfen. Sie erhalten - bestenfalls! - einen Brutto-Stundenlohn von 5 Euro! Französische Gewerkschafter nennen dieses System prekärer Beschäftigung "Deutsche Sklaverei". Das ist eine treffende Bezeichnung.
In vielen Branchen gibt es in der Bundesrepublik fast nur noch Beschäftigung im Niedriglohnbereich, also zu Stundenlöhnen unter 9,54 Euro: 87 Prozent aller Taxifahrer, 86 Prozent der Friseure, 77 Prozent der Beschäftigten in der Gastronomie und 69 Prozent der Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel, aber auch 68 Prozent der Beschäftigten in den Callcentern oder Zweidrittel des Personals bei den Wachdiensten.
Skandalös Verhältnisse existieren bis in die Zentren des Industriesystems hinein: Im Daimler-Konzern mit seinen Milliarden-Gewinnen existieren alleine in den deutschen Werken drei Klassen von Beschäftigten, deren Brutto-Lohn bei gleicher Tätigkeit zwischen 3.400 Euro (Stammbelegschaft), 2.600 Euro (Leiharbeiter) und 1.200 Euro (für Beschäftigte auf der Grundlage von Werkverträgen) differieren.
Die Arbeitswelt in der Bundesrepublik ist (und darin folgt sie einem weltweiten Trend) durch eine fast unüberschaubare Vielgestaltigkeit geprägt, die selten den Arbeitnehmern zum Vorteil gereicht. Dazu gehören unter anderem die gewöhnliche Arbeit in einem Normalarbeitsverhältnis, Kontraktarbeit, Honorararbeit, Minijobs, Stücklohnarbeit, Zeitarbeit, Scheinselbstständigkeit, Niedriglohnarbeit, Leiharbeit und so weiter. Mehr und mehr dominieren flüchtige, zeitlich befristete und schlecht entlohnte Beschäftigungsformen, deren gemeinsames Kennzeichen die Unmöglichkeit einer längerfristigen Sicherung des Lebensstandards und einer perspektivischen Lebensgestaltung ist.
Weil die prekären Tätigkeiten nicht sehr attraktiv, schlecht bezahlt, arbeitsrechtlich wenig geschützt sind, wird durch das Hartz-IV-Reglement, aber auch in anderen Ländern durch die Umgestaltungen der sozialrechtlichen Regularien, wie der französische Soziologe Robert Castel es genannt hat, ein "erpresserischer Druck ausgeübt" um die Lohnabhängigen, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, in ungünstige und immer öfter auch ruinöse Beschäftigungsverhältnisse pressen zu können. In der Tendenz nähern wir uns nach Castel treffender Einschätzung Zuständen an, "in denen die Zwangsarbeit in ihren vielfältigen Gestalten für das niedere Volk die herrschende Organisationsform der Arbeit war".
Die Regularien der sogenannten Arbeitsmarkreformen in der Bundesrepublik dienen als soziales Formatierungsinstrument und Disziplinierungsmittel - und als Drohkulisse wirken sie in alle Zonen abhängiger Beschäftigung hinein.
"Mit Hartz IV wurden zentrale Verfassungsprinzipien suspendiert"
Die neue Unterklasse besitzt quasi als Drohkulisse eine disziplinierende Funktion?
Werner Seppmann: Ja. Als solche ist sie auch nicht spontan entstanden, sondern wurde systematisch aufgebaut. Der Soziologe Dahrendorf hat das präzise zum Ausdruck gebracht, als er vor einigen Jahren davon sprach, dass die neuen Armen nichts mit den Clochards von Paris und den Bettlern in London vor hundert Jahren zu tun haben. Die gegenwärtige Unterklasse, das Prekariat, wie es heute genannt wird, ist durch systematische Prozesse der sozialen Abgrenzung und Abwertung, durch die Verschlechterung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Normen geschaffen worden.
Es wurden Mechanismen installiert, durch welche die Menschen gezwungen werden sollen, auch weniger attraktive Stellen anzunehmen. Denn es gehört zur Besonderheit des gegenwärtigen Beschäftigungssystems, dass auf der einen Seite zwar höhere Qualifikationen benötigt werden aber auf der anderen Seite die Zonen einfacher und anspruchloser Arbeit zugenommen haben.
Durch neue Formen sozialer Kontrolle und systematischer Einschüchterung werden die neoliberalistischen Umgestaltungsprozesse durch die Praktiken der Sozialbürokratie flankiert: Wer der Hartz-IV Zwangsverwaltung unterliegt, muß als Langzeitarbeitsloser nicht nur Arbeit zu (fast) jedem Preis annehmen, sondern für ihn sind auch zentrale Verfassungsprinzipien suspendiert. Er kann nicht mehr frei über seinen Aufenthaltsort bestimmen (er muss jede Stelle annehmen die ihm zugewiesen wird).
Innerhalb des Organisationsrahmens der sogenannten "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" ist ihm auch der Streik, grundsätzlich schon der Zusammenschluss zur Vertretung seiner Interessen verwehrt. Etabliert hat sich ein staatliches System der Kontrolle und Einschüchterung, das nur der sichtbarste Ausdruck einer autoritären Formierung darstellt, die eine konstante Begleiterscheinung der ausbeutungszentrierten Umgestaltungsprozesse in den Metropolenländer ist.
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