"Auf Basis der Steuergesetze von 1998 wären über 50 Milliarden mehr in den Staatskassen gelandet"

Seite 3: "Die ganze Struktur der sozialen Sicherungssysteme wurde grundlegend verändert"

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In Deutschland hat diese Entwicklung vor allem die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer zu verantworten. Wie konnte dieser Paradigmenwechsel ohne großen Widerstand durchgesetzt werden?

Werner Seppmann: Das ist eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Wir kennen die Abläufe, die apodiktische und überfallartige Verkündigung der sogenannten Agenda 2010. Aber das ist nur das oberflächliche Erscheinungsbild. Das sozialpolitische Wendemanöver ist in geheimen Gremien vorbereitet worden, in denen auch Gewerkschafter saßen.

Deutschland wurde durch diese Aktivitäten in weniger als einem Jahrzehnt wieder auf die Verteilungsverhältnisse der 1950er Jahre zurückgeworfen. Durch die Umbau-Aktivitäten wurde die ganze Struktur und Konstruktionslogik der sozialen Sicherungssysteme grundlegend verändert. Es ging nicht mehr um Leistungskürzungen, sondern um einen Systemwechsel.

Wie haben sich die Gewerkschaften verhalten?

Werner Seppmann: Schaut man sich heute an, was Schröder bei der Agenda 2010 gesagt hat, hat er sich mit seinen Absichten keinesfalls hinterm Berg gehalten, aber als Sozialdemokrat hatte Schröder sicherlich Kredit bei den Gewerkschaftsführungen. Wieder einmal wog man sich in falscher Sicherheit, hoffte dass alles schon nicht so schlimm werden würde. Keine Entschuldigung, aber eine Erklärung ist, dass die Gewerkschaften sich damals in einer Schwächephase befanden. Sie hatten fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Und die Lohnabhängigen, waren durch die hohen Arbeitslosenzahlen und die allgegenwärtige Arbeitsplatzunsicherheit eingeschüchtert. Die Arbeitslosigkeit hatte historische Höchststände erreicht - und Schröder versprach durch seine Maßnahmen sie deutlich zu senken.

Welche ökonomischen Folgen hatte Hartz IV innerhalb der EU?

Werner Seppmann: Zu einem wesentlichen Teil stellten die "Arbeitsmarktreformen" und die mit ihnen verbundenen Formen des Lohndumpings ein Förderprogramm für die deutsche Exportwirtschaft dar: Ihre Wettbewerbsfähigkeit wurde vor allem auf Kosten der europäischen Nachbarn gestärkt. Der Druck auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten in Deutschland hat zu einem deutlichen Nachteil anderer Industrieländer, zu einer Stagnation der Lohnstückkosten vor allem im industriellen Sektor geführt.

Auch bedingt durch diese Wettbewerbsverzerrung, hat beispielsweise die französische Industrie innerhalb eines Jahrzehnts 30 Prozent ihres Weltmarktanteils verloren. In anderen Ländern haben sich durch die zunehmenden Exportüberschüsse der bundesdeutschen Wirtschaft die Staatsschulden vergrößert, aber auch die Massenarbeitslosigkeit verfestigt.

Schröder versprach mit der Agenda 2010 die Arbeitslosenzahlen signifikant zu senken. Ist das gelungen?

Werner Seppmann: Die Bilanz der Hartz-IV-Strategie war schon nach wenigen Jahren eindeutig negativ: Weder gab es die Anfang 2004 prognostizierte Halbierung der Arbeitslosen innerhalb einer Vierjahresfrist, noch hat sich die ins wanken geratene Existenzsicherheit stabilisiert. Im Gegenteil, das Leben der Erwerbslosen ist härter geworden: Der Druck ist gestiegen und die Unterstützungsleistungen wurden im Durchschnitt reduziert. Vor allem ist die bereits angesprochene soziale Abstiegsautomatik installiert worden. Soziale Verunsicherung, Abstiegsängste und die Gefahr, in den Sog sozialer Abstiegsprozesse zu geraten, haben zugenommen. Und nicht zuletzt ist die Zahl der Randständigen und dauerhaft Abgehängten beträchtlich gestiegen.

Mit Engelsmine wird vom politischen Personal heute zwar beteuert, dass viele Auswüchse nicht gewollt gewesen wären. Aber sie wussten was sie taten. Der sozialdemokratische "Superminister" Clement vertrat die Meinung, dass durch die unbegrenzte Einsatzmöglichkeit der Leiharbeit, deren Durchsetzung er gefördert hatte, zu deutlich reduzierten Löhnen führen würden. Und Gerhard Schröder hat 2005 vor der internationalen Kapitalelite in Davos Vollzug gemeldet und triumphalisch die Konsequenzen seines schändlichen Werks betont, als er vorrechnete, dass kein vergleichbares Industrieland einen so umfangreichen Niedriglohnsektor wie die Bundesrepublik habe. Sein Vizekanzler Fischer betonte 2004 in einem TAZ-Gespräch: Mit den Arbeitsmarktreformen seien Umwälzungen erreicht worden, die sonst nur durch Kriege möglich wären.

Damit schließt sich der Kreis in einer aufschlussreichen Weise, denn kein geringerer als der US-amerikanische Mega-Spekulant Warren Buffet hat die neoliberalistischen Strategien mit dem gleichen Begriff auf den Punkt gebracht: "Meine Klasse hat der Arbeiterklasse den Krieg erklärt - und sie hat gewonnen."

Und von den Steuern befreit ...

Werner Seppmann: Genau. Der Sinn dieser Aussage erschließt sich erst vollständig, wenn berücksichtigt wird, dass in allen kapitalistischen Hauptländern wesentlicher Bestandteil der neoliberalistische Umgestaltungen eine Umverteilungspolitik qua Steuerrecht war. In den Vereinigten Staaten sieht es beispielsweise so aus, dass eine Sekretärin bei einem Netto-Einkommen von 30.000 Dollar einen Steuersatz von dreißig Prozent zahlt, der Multi-Millionär bei dem sie arbeitet auf seine Einkünfte aus Kapitalvermögen nur fünfzehn Prozent. In den Ergebnissen der neoliberalistischen Umgestaltungen spiegeln sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wieder.

Wie sah diese Umgestaltung konkret in Deutschland aus?

Werner Seppmann: In der Bundesrepublik wurde der sozialpolitische Kampf gegen die Lohnabhängigen durch Steuernachlässe für die Reichen und Superreichen flankiert. Der Spitzensteuersatz wurde auf 42 Prozent reduziert, aber die Ausnahmeregelungen der rot-grünen Steuerreformen führte dazu, dass vom reichsten Hundertstel mit circa 150.000 Euro Jahreseinkommen nur noch 30,5 Prozent Einkommenssteuer bezahlt werden mussten. Auch die Mega-Reichen mit einem Einkommen jenseits der 10-Millionen-Marke wurden so schonend behandelt, dass ihre steuerliche Belastung 2005 nur bei circa 31 Prozent, also ebenfalls weit unter dem nominalen Steuersatz lag.

Zwischen 1992 und 2005 ging die Steuerbelastung der Spitzenverdiener um 27 Prozent und der Superreichen (also jener Gruppe mit einem zweistelligen Millioneneinkommen) sogar um 34 Prozent zurück. In Kombination mit dem Verzicht einer Besteuerung von Gewinnen, die Banken in jenen Schröder-Regierungsjahren mit der Veräußerung von Firmenanteilen erzielten, entstanden jene "leere Kassen" der öffentlichen Hand, die bis heute dazu dienen, die drastischen Reduktionen von Sozialleistungen und auch die Programme des Rentenabbaus zu legitimieren.

In konkreten Zahlen ausgedrückt ist der Umverteilungseffekt alleine qua steuerliche Entlastung der Spitzenverdiener beträchtlich. Auf Basis der Steuergesetze von 1998 wären über 50 Milliarden mehr in den Staatskassen gelandet (zwischenzeitlich sind die Steuerausfälle sogar noch deutlich höher gewesen). Es hätte keine Budgetdefizite und keinen Verfall der Infrastruktur gegeben.

In Teil 3 des Interviews spricht Werner Seppmann über den Neoliberalismus als Keynesianismus für die Reichen und die Perspektiven der Gegenwehr.

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