Auf dem Weg zur Cyberdemokratie

Seite 3: IST DIE INFORMATIONSGESELLSCHAFT DAS ENDE DER NEUZEITLICHEN DEMOKRATIE?

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4.1 DIE KRISE DER REPRÄSENTATION

Wenn die Informationsgesellschaft der Name für das Ende der Neuzeit ist, bezeichnet sie dann nicht auch das Ende der neuzeitlichen Demokratie bürgerlicher Moderne? In Frage gestellt wäre dann die moderne Demokratie als Form politischer Herrschaft, deren Aufgabe es war, politisch zu integrieren, was gesellschaftlich gegeneinander stand, da es ökonomisch in unauflösbare Widersprüche gesetzt war.

Für das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung, in der die Politik der einzige Geltungsbereich des Mehrheitsprinzips ist, haben politische Organisationen und Institutionen wie auch die im letzten Jahrhundert erfundenen Massenmedien neben anderen zwingend die Funktion der Verarbeitung der Konflikte aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Verarbeiten heißt Stillegen, Ignorieren, Verschieben, Austragen von Konflikten. Diese Aufgabe der Massenmedien, politische Integration zu reproduzieren - also das große Bilder- und Talkschaurauschen, den Frohsinn - realisieren sie, indem sie eine zentrale Errungenschaft der politischen Moderne sukzessiv vernichten, für die im politischen Alltagssprachgebrauch seit einigen Jahren der Begriff der Zivilgesellschaft verwandt wird. Massenmedien organisieren Zivilgesellschaft - viel mehr aber noch vernichten sie diese.

Die zentrale politische Innovation des 19. Und 20. Jahrhunderts waren die Massenorganisationen der Arbeiterbewegung - Partei und Gewerkschaft - als Nomenklatur oder Repräsentation der neuen Klasse, eine Erfindung, die im 20. Jahrhundert zum Beispiel in völkischen Massenbewegungen verallgemeinert wurde. Diese politische Repräsentation basierte auf Gruppenidendität, auf deren Erfahrungshintergrund individuelle Entscheidungen getroffen wurden und Wahl, Mandat, Delegation Bedeutung hatten. Diese alte Kohärenz zerbricht. Das Resultat ist die Krise der politischen Repräsentation, als deren Element Politikverdrossenheit, Gleichgültigkeit und Delegitimation einzelner politischer Mehrheitsentscheidungen oder dieses Verfahrens selbst gelten können - Stichwort "Demokratieversagen".

Zu fragen wäre, ob für die Erklärung dieser Repräsentationskrise - die über die Arbeiterbewegung ja weit hinausgeht - nicht Analysen hilfreich sein könnten, die am - sicherlich ziemlich anders gelagerten - US-amerikanischen Beispiel gewonnen wurden. Robert Putnam hat 1996 in der Zeitschrift "The American Prospect" 24 (1966) eine Analyse mit dem Titel "The Strange Disappearance of Civic America" veröffentlicht. Sie zeigt, dass es einen lange andauernden Rückzug der Amerikaner aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben gibt. Die "public person", der "citizen", das "zoon politikon" verschwindet. Anhand umfangreichen empirischen Materials - Vereinsmitgliedschaften, Zeitungsabonnements, Wahlverhalten usw. usf. - diagnostiziert er einen Generationsbruch: Die engagierte Generation, die zwischen 1910 und 1940 geboren wurde, erreichte ihren Zenit 1960, als sie 62 % der Wählerschaft ausmachte. Seit dieser Zeit ist der Rückzug evident.

Wer ist der Hauptverdächtige? Wie das Ozonloch entdecken wir ihn erst Jahrzehnte, nachdem er zu wirken begann. Es ist, so Putnam, das Fernsehen. 1950 hatten 10 % der Amerikaner TV, 1959 90 %, 1995 lag der TV-Konsum per Haushalt doppelt so hoch wie in den 50ern, bei 3-4 Stunden, 3/4 der Haushalte hat mehr als einen TV, was individualisierte TV-Nutzung ermöglicht. Betrachtet man das Zeitbudget, dann hat das Wachstum des TV-Konsums in den USA zu einem Viertel bis zur Hälfte zum Rückgang gesellschaftlicher und öffentlicher Tätigkeiten und zur Privatisierung der individuellen Zeit beigetragen. Was an Aufnahme politischer Informationen bleibt, kommt - wie gegenwärtig bereits für jeden zweiten Amerikaner unter 35 - aus dem Fernsehen. Es geht schon lange nicht mehr um die Passivität der bestenfalls symbolisches Feedback vortäuschenden "Zuschauerdemokratie" des TV-Systems, sondern um das Verschwinden demokratischer Kultur. Was übrigens das liberale Demokratiemodell als Toleranz der Nichtbeteiligung ausweist.

4.2 ELEKTRONISCHER LEADERISMO ALS ZUKUNFT?

Wenn wir die Informationsgesellschaft als das Ende der Moderne ansehen, und das Leitmedium der auslaufenden modernen Industriegesellschaft - das Fernsehen - mehr oder weniger entscheidend zur Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Grundlagen, Gruppenidenditäten und Klassenrepräsentanzen der modernen Demokratie beigetragen hat, dann ist zu fragen, woher die Hoffnung kommen soll, dass das Netz als mediale Kernstruktur der neuen Informationsgesellschaft ausgerechnet eine Revitalisierung der Demokratie bzw. politischen Öffentlichkeit bewirken soll?

Warum sollte nicht zur Vollendung dieses Prozesses der Konstruktion privatistisch existierender Individuen durch virtualisierte und elektronisch mediatisierte politische Kommunikation führen, die das Beurteilen von Wirklichkeit weitaus schwieriger und riskanter macht als nicht-elektronische Kommunikationsformen? Überdies handelt es sich um Individuen, die zukünftig keine Arbeitnehmer mehr sein werden, sondern millionenfach individualisiert als unselbständige Selbständige gleichsam als je einzelnes Profitcenter an ihrem Marktsegment des globalen Unternehmensnetzes hängen und sterben. Und es geht um ein Netz, dessen Propagandisten heute schon mit entsprechender Demokratierhetorik auf den Lippen und der Home-Page feiern, dass nun der Kunde von selbst zum Konzern kommt, sich alles, was er braucht, mit einer Netz-Card herunterlädt und dazu weder Gewerkschaft, Verbraucherverein oder die SPD braucht. Der direkte Zugriff vom Netzkonzern zum Kunden -das ist der Markt ohne Friktionen, von denen Bill Gates in seinem Buch sprach, das ist die politische Netzstruktur des Leaderismo, den Berlusconi mit dem alten Medium vorgemacht hat und der als Empowerment des Individuums in der politischen Netzwelt von Netzgurus wie Esther Dyson gefeiert wird.

Die kommunikationstheoretische Begründung der Demokratie ist im Widerspruch zu jenen Theorietraditionen entstanden, die den Zusammenhang von Arbeit und Demokratie in den Mittelpunkt stellten. Bis heute schneiden die kommunikationszentrierten politischen Theorien des Internet jene neuen, vorgelagerten Probleme ab, die aus der Virtualisierung der Arbeit und Produktion entstehen. Solidaritätsbewußtsein, Bildung gemeinsamer Interessen und kollektives Handeln setzen objektive und subjektive Gemeinsamkeitsdimensionen voraus, die sich in der neuen Netzwelt - wenn überhaupt - auf andere Art konstituieren als bisher. Mit Sicherheit ist der kurz- und mittelfristige demokratiepolitische Effekt der Virtualisierung der Arbeit negativ. Ein demokratisches, netzpolitisches Konzept, das diese neue politische Ökonomie der Netzarbeit und des Netzkapitals ignoriert, muß scheitern.

5 DEMOKRATISCHE STICHWORTE

Demokratische Netzpolitik muß fragen, ob die neuen vernetzten Medien und Räume dazu beitragen können, vorhandene Strukturen der Politik so zu ändern, dass neue Entscheidungsbedingungen und damit Korridore zur Ausarbeitung und Realisierung neuer politischer Optionen entstehen können.

1. Der englische Soziologe Anthony Giddens hat von zwei Verständnisformen der Demokratie gesprochen: Demokratie als Interessenrepräsentation und Demokratie als politisch halbiert, weil um die Entscheidungsdimension gekappt. Das Netz ist kein Ort demokratischer politischer Entscheidungen, aber ein Ort der Kommunikation, ohne die Entscheidungen undemokratisch und ineffektiv sind. Natürlich braucht die Öffentlichkeit Informationen, aber es geht um Informationen, die durch Debatte geschaffen werden. Wir müssen das Netz als Raum der zweckgerichteten, nämlich entscheidungsvorbereitenden interaktiven Kommunikation zur Interessenrepräsentation nutzen.

2. Die Repräsentationskrise der Moderne begünstigt populistische Politik, den Leaderismo, wo das Netzindividuum scheinbar direktdemokratisch mit politischen Führungsinstallationen und unter Umgehung der intermediären Organisationen, wie der Gewerkschaften, verbunden ist. Umgekehrt aber wird ein Schuh daraus: Das politische Individuum steht - ohne kollektive Schutzrechte, Filter, Willensverstärker - dem Machtcluster des Leaders gegenüber. Notwendig ist, dass intermediäre Organisationen, wie Gewerkschaften, Initiativen usw., die Interessen ihrer Mitglieder im Netz repräsentieren und dabei eine Form der demokratischen - z.B. dezentralen - Organisation und Repräsentation der individuellen Interessen erarbeiten. Das Netz ist im Unterschied zu den anderen Medien, eine dezentrale Medientechnologie, eine Assoziationstechnologie. Kein Zweifel, dass sich diese Organisationen dabei selbst verändern müssen. Zu dieser netzpolitische Rolle gehört, auf zugelassenen Politikfeldern intermediärer Entscheidungen im Sinne eines "third party models" (Bullinga) Mitgliedervoten treuhänderisch zu verwalten.

3. Die Netze der Zukunft werden weit differenzierter sein als heute, und eines ist sicher: die Steuerung der Zugänge und Nutzung über das Medium Geld wird eine weit wichtigere Rolle spielen als heute. Gute und schnelle Bilder und Daten werden weitaus mehr kosten als heute. Was es umsonst gibt, soll wertlos werden oder sein. Es ist demgegenüber notwendig, öffentliche, kostenlose oder billige Räume mit hochwertigem Inhalt zu sichern. "Wenn Geldautomaten an jeder Straßenecke aufgestellt werden können", fragte jüngst Patricia Mazepa in einem Aufsatz, "warum dann nicht auch öffentliche Netzterminals?" Dazu müssen technische, rechtliche, finanzielle und bildungsseitige Zugangshürden zu den Netzen beseitigt werden.

4. Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen, kleine Verbände oder Betriebsräte werden kein Eigentum an Maschinen, Netzen, Kanälen und Kabeln erwerben können. Wie können sie Aufmerksamkeit auf sich lenken, sichtbar werden? Wohl kaum durch das strukturell schwache Votum als User der neuen Medien. Es gibt dafür nur einen erfolgversprechenden Weg: Content-Provider der Wünsche und Interessen ihrer Mitglieder zu werden - nicht durch "Benutzerführung", sondern durch Organisation der Selbstorganisation. Das ist die politische Hauptaufgabe solcher Organisationen und hier stehen sie noch am Anfang. Warum gehört nicht zum Erwerb der Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaft das Angebot, auf einem Hausserver eine Home-Page einzurichten? Eine Zuverlässigkeitsbeglaubigung besonderer Art gibt es dann: die Information kommt direkt aus der Quelle und nicht von CNN oder dpa.

5. Das Netz ist in mehrfacher Hinsicht ein Universalmedium: es schließt mündliche Face-to-face-Kommunikation ebenso ein wie audio-visuelle und gedruckte Kommunikationsformen, erhöht bei minimierten Kosten die Transaktionsdichte, ermöglicht Broadcasting und Narrowcasting. Großorganisationen wie die Gewerkschaften mit einer Tradition breiter Dienstleistungen für viele Lebens- und Arbeitsbereiche sind ebenso wie die Kulturen dezentraler Kooperation der alten "neuen sozialen Bewegungen" hervorragend geeignet, zielgruppenspezifisch auf dem Netz zu operieren und Spezialmärkte für Individualkommunikation abzudecken. Dazu müssen sie Information Broking entwickeln, Netzmarketing betreiben und komplexe Querschnittsmedienpolitiken zur politischen Mobilisierung entwickeln. Um welchen Inhalt geht es dabei? Vielleicht zunächst eine negative Umschreibung:

  1. Die durch geschäftige Agenten, Spider und Filter zugeschneiderte neue Wirklichkeit des je individualisierten Informationsraums kann es nicht sein: die Nachricht über die Wirklichkeit durch zielgruppenspezifische Information zu substituieren - Wirklichkeit ist das, was gefällt - kann nicht gemeint sein.
  2. Und nicht gemeint sein kann jene - Privatheit nur noch als Recht auf Selbstverwertung respektierende - Invasion in den privaten Raum des Individuums, die nicht für die Erweiterung individueller Räume und für einen befreienden Strukturwandel der Öffentlichkeit steht, sondern für die Zerstörung jeder Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit.

Inhalt wäre vielmehr, dass Erfahrungs- und Praxisräume, die in unserer Gesellschaft mit kulturellen, rechtlichen oder ökonomischen Mitteln tabuisiert, unsichtbar gemacht oder zum Schweigen gebracht werden, sichtbar gemacht werden.

6. Demokratische Netzpolitik kann kein Interesse daran haben, geschlossene Netzräume herzustellen, sondern muß - der Logik des Netzes folgend - offene Angebote bauen, sichtbare Allianzen schließen, Positionen aufbauen: durch transparente Zitierkartelle, Arbeitsteilung, Verweispolitiken usw. Es geht also um den Aufbau von fluid networks (Hage/Powers). Offene Netze und offene Politik bedingen sich.

Die demokratiepolitische Qualität der Netze und des neuen Informationsraums entsteht aus der demokratischen Konfiguration der technischen Architektur des Netzes und setzt eine demokratische Kultur des politischen Realraumes voraus. Das Netz ist eine überlebensnotwendige Modernisierungschance: die suprastaatlichen, deterritorrialisierten Unternehmensnetzwerke der Zukunft sind die neuen identitätsbildenden Arbeits- und Berufsorte, in denen Allianzen gerade mit Hilfe elektronischer Kommunikation und Organisierung gebildet werden müssen. Das heißt natürlich nicht, dass die Inhalte beliebig werden.

Der amerikanische Stadtsoziologe Manuel Castells hat im März 1996 auf einer Diskussion am MIT bemerkt: "Ein Drittel oder ein Viertel der US-Bevölkerung ist nicht nur arm, ausgebeutet oder depressiv, sondern einfach irrelevant. Wer ausgebeutet ist hat eine soziale Beziehung und Bedeutung. Du weißt, mit wem Du es zu tun hast. Wenn Dich ein anonymes Netzwerk marginalisiert - wo ist dann der Sinn?"

Die grenzenlose - "anonyme" - Netzförmigkeit der zukünftigen Arbeits- und Kommunikationsweisen erfordert mehr denn je solidarische Diskussion, Beratung, Bildung, sinnhafte Orientierung über die wirkliche Gesellschaft, in der wir leben, und über die - auch politischen - Interessen, mit denen wir es zu tun haben.

Vortrag auf dem Kongress "Demokratie an der Schnittstelle. Neue Medien und politische Perspektiven" der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie e.V. (HGDÖ) am 07.12.1996 in Frankfurt, geringfügig überarbeitete Fassung vom 17.01.1996. Einige Argumentationen des Vortrags wurden erstmals entwickelt in dem Beitrag Das unpolitische Netz an der DGB-Bundesschule Hattingen.