Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen: Lauterbach gegen Lauterbach

Seite 2: Corona-Missmanagement: Die Fehler von gestern

So zynisch kann nur die Realität sein: Das teilweise Staatsversagen in der Pandemie geht für die Verantwortlichen hierzulande offenbar vor allem glimpflich aus, weil die Folgekrisen dominieren: der Krieg in der Ukraine, die Inflation, der Klimawandel. So scheint es dem amtierenden SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach gelingen, sich zum Richter über die eigenen Corona-Politik aufzuschwingen. Lauterbach gegen Lauterbach, sozusagen.

So etwa in der vergangenen Woche, als der Bundesgesundheitsminister die Schulschließungen und andere Corona-Maßnahmen als "zum Teil zu streng" bezeichnet hat. "Viele Kinder leiden auch heute noch, sie leiden unter psychischen Störungen, ihre Gesundheit ist schlechter geworden", sagte der Sozialdemokrat im Bundestag.

Lauterbach intervenierte damit in die Debatte über den Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe zu gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche. Das Papier liegt seit Februar vor.

"Von allen, die Opfer erbracht haben in der Pandemie, haben die Kinder die meisten Opfer erbracht", sagte Lauterbach. Sie hätten "unter den Maßnahmen gelitten". Der Minister räumte erneut ein: "Die Schulschließungen hätte man in dieser Länge nicht machen müssen."

Und das war es jetzt? Niemand schaut in die Archive? Es war doch gerade Karl Lauterbach, der am vehementesten die schon damals umstrittenen Maßnahmen verteidigt hatte – auf Basis von Mutmaßungen, Überheblichkeit und entgegen allen Warnungen von Kinder- uind Jugendmedizinern sowie Pädagogen.

Noch Mitte vergangenen Jahres positionierte er sich damit offen gegen Bundeskanzler Olaf Scholz und die FDP, als er mit Blick auf eine "große Corona-Welle im Herbst" auch Schulschließungen nicht ausschließen wollte. "Ich halte sie für sehr, sehr unwahrscheinlich. Sie wären dann das allerletzte Mittel. Aber sie kategorisch auszuschließen, da wäre ich vorsichtig, weil: Wir wissen ja nicht, welche (Virus-)Varianten kommen", sagte er in der ARD-Sendung Anne Will.

Dabei hatte – um nur ein gewichtiges Beispiel zu bringen –das europäische Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation hatte bereits Ende 2021 davon abgeraten, Schulen zu schließen – und das trotz steigender Coronazahlen in vielen Ländern. "Die Unterbrechung der Ausbildung der Kinder sollte der letzte Ausweg sein", hieß in einer Mitteilung Ende Oktober 2021. Lauterbach tangierte das alles nicht.

"Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart", heißt es nun in einem offenen Brief, der mehrheitlich von Ärzten und Vertretern anderer Heilberufe initiiert wurde. Viele Menschen fühlten sich nach der Pandemie alleingelassen mit ihren Enttäuschungen, Ängsten und Verlusterfahrungen und haben Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen verloren.

Es wurden Existenzen zerstört und Lebenspläne über den Haufen geworfen, Freundschaften und Familien sind an der Polarisierung der Gesellschaft zerbrochen. Zwar wächst die Einsicht, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus in vielerlei Hinsicht nicht optimal war, dass etwa die langen KiTa-, Schul- und Hochschulschließungen nicht verhältnismäßig waren und Familien, insbesondere Mütter, nachhaltig belastet haben.

Eine solche Aufarbeitung sollte erstens nicht denjenigen überlassen werden, die für die Fehlentwicklungen zumindest mitverantwortlich sind. Zweitens lohnt sich ein Blick in die Archive, damit die zumindest Mitverantwortlichen nicht allzu leicht auf das Vergessen setzen können.