Aufbruch oder Stagnation?
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Die Umrisse des politischen Programms des demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden zeichnen sich immer deutlicher ab
Joe Biden - ein neuer Franklin Roosevelt? Dieser Eindruck, wonach der demokratische Präsidentschaftskandidat einen progressiven Reformkurs einschlagen wolle, könnte nach der Lektüre von Berichten der New York Times aufkommen, die eine "Vertiefung" der Kooperation zwischen Biden und seinem ehemaligen linken Präsidentschaftskonkurrenten Bernie Sanders konstatieren.
Das meinungsbildende liberale Blatt resümierte hierbei die Ergebnisse langwieriger Verhandlungen zwischen Verbündeten von Sanders und Biden, die in einer bilateralen Programmkommission ("Unity Task Force") Politikempfehlungen für den demokratischen Präsidentschaftsbewerber, der gemeinhin als Mann der neoliberalen Eliten der Partei gilt, ausarbeiten sollten. Die Einrichtung eines solchen Beratungsgremiums galt als ein wichtiger Kompromiss, der den Rückzug von Sanders aus dem Vorwahlkampf ebnete.
Die Vorschläge umfassten Themenbereiche wie Gesundheitswesen, Klimawandel, Wirtschaft, Strafrecht und Bildungspolitik, wobei die meisten davon "akzeptable" (links-)liberale Positionen markierten, die Biden bereits bei seinen Bemühungen um ein geschlossenes Agieren der Demokraten während des Wahlkampfes übernommen hätte, so die "Times".
Worauf einigte man sich bei den hochkarätigen Verhandlungsrunden, bei denen unter anderem John Kerry und Alexandria Ocasio-Cortez vertreten waren, sodass die New York Times von "signifikanten, wenn auch vorläufigen Zeichen" einer zunehmenden Kooperation zwischen Demokraten schreiben konnte, in deren Folge die Biden-Kampagne ihre Anziehungskraft auf die "progressive Linke" verstärke?
Die Empfehlungen würden unter anderem "breitere und kostspieligere Pläne", als ursprünglich von Biden vorgesehen, bei der Reform des Gesundheitssektors mit sich bringensowie neue Vorgaben zur CO2-Reduzierung beim Klimaschutz. Es gebe auch Kompromisse bei der Reduzierung des Schuldenberges von Studierenden sowie der angestrebten Justizreform, wo unter anderem ein Ende privater Gefängnisse und obligatorischer Mindeststrafen für Bagatelldelikte vereinbart wurde.
Doch konkret, abseits marginaler Zugeständnisse und symbolischer Handlungen, konnte das Sanders-Lager kein einziges der zentralen progressiven Reformvorhaben in dem Abschlussdokument unterbringen. Die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung (‘Medicare for all’) wurde von dem Parteiestablishment um Biden genauso abgeschmettert wie eine kostenfreie Bildung an öffentlichen Hochschulen.
Besonders dramatisch gestaltet sich angesichts der eskalierenden Klimakrise die Lage bei der Klimapolitik, die von Biden im Rahmen eines bescheidenen Investitionsprogramms im Umfang von 2 Billionen US-Dollar adressiert werden soll. Zum Vergleich: Sanders plädierte für ein enormes Umbau-Programm, das den Aufbau eines öffentlichen, ökologischen Energiesektors und Investitionen von 16 Billionen US-Dollar vorsah.
Biden will hingegen den - klimapolitisch unsinnigen - individuellen PKW-Verkehr beibehalten sowie die Umstellung der Autoindustrie auf Elektro-Antriebe und den "klimafreundlichen" Bau und die Dämmung von Immobilien fördern. Während der Klimawandel bereits außer Kontrolle gerät, will der demokratische Präsidentschaftskandidat erst 2035 aus der fossilen Energiegewinnung aussteigen.
Stillstand statt Wandel
Abseits symbolischer Gesten scheint das demokratische Parteiestablishment auch der starken antirassistischen Bürgerrechtsbewegung im Land, die sich im Gefolge des landesweiten Aufstands gegen Polizeigewalt formierte, kaum etwas anbieten zu wollen.
Den Forderungen nach substanziellen Mittelkürzungen bei dem aufgeblähten und militarisierten Polizeiapparat ("Defunding"), die dann finanzielle Spielräume für Sozialpolitik in Kriminalitätsbrennpunkten eröffnen würden, erteilte Biden ebenso eine Absage wie der Aufhebung von archaischen Immunitätsgesetzen für Polizeibeamte, die Tätern in Polizeiuniform immer wieder Straffreiheit garantierten. Selbst die bundesweite Legalisierung von Marihuana konnte die Linke nicht durchsetzen.
Abseits der unverbindlichen Empfehlungen der Programmkommission, die offenbar hauptsächlich dazu dienen sollen, enttäusche Linke Anhänger des Sozialisten Sanders zur Wahl Bidens zu bewegen, scheint der geistig rasch abbauende Kandidat des neoliberalen Parteiestablishments durchaus Wort zu halten - und die Kontinuität neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik anzuvisieren.
Es gebe im Papier der "Unity Task Force" keinerlei Erwähnung von einer öffentlichen Gesundheitsversorgung, einer kostenlosen Hochschulbildung oder des Green New Deal, stellten US-Wirtschaftsmedien nüchtern fest, die im Gegensatz zur liberalen New York Times der Ansicht waren, dass Biden die progressive Agenda von Bernie Sanders "größtenteils vermeiden" konnte.
Der Abgrund zwischen Biden und Sanders wird gerade bei der Steuerpolitik evident: Der Höchststeuersatz für Privathaushalte soll nach den Plänen des Establishment-Kandidaten gerade mal von 37 auf 39,6 Prozent ansteigen, während der Sozialist Sanders die US-Oligarchie nach Dekaden neoliberaler Steuersenkungen mit einem Spitzensteuersatz von 97,5 Prozent endlich zur Kasse bitten wollte. Hier würde einfach nur der neoliberale Stand der Dinge vor der Machtübernahme durch Trump wiederhergestellt.
Bei den Unternehmenssteuern soll der Streusatz nach den Plänen des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers von 21 Prozent auf 28 Prozent angehoben werden. Das würde aber bedeuteten, dass hier nicht mal die durch Trump erlassenen Steuersenkungen revidiert würden, der diese Steuer 2018 von 35 Prozent aus 21 Prozent absenkte.