Aufklärung der Maidan-Morde: "Ich bin nicht sicher, wann ich wieder in die Ukraine reisen kann"
Der Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski über die Methode und die Ergebnisse seiner Untersuchung und die Haltung der ukrainischen Behörden
Der Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski hat öffentlich zugängliches Material zu den Kiewer Scharfschützenmorden am 20. Februar analysiert. Im Gegensatz zur offiziellen Untersuchung der neuen Machthaber fand er Belege dafür, dass es Schützen in Maidan-kontrollierten Gebäuden gab. Laut Katchanovski feuerten sie auf Polizisten, Maidankämpfer, Journalisten und Unbeteiligte (Scharfschützenmorde in Kiew).
Zum Jahrestag der Scharfschützenmorde in Kiew hat Ivan Katchanovski eine aktualisierte und ausgedehnte Analyse des Massakers veröffentlicht.
Ivan Katchanovski stammt aus der westukrainischen Stadt Luzk, lebt aber seit mehr als 20 Jahren in Nordamerika. Der 47-jährige Universitätslehrer ist kanadischer Staatsbürger. Er promovierte an der George-Mason-Universität in Fairfax (Virginia) bei Washington und hatte später Forschungs- und Lehraufträge u.a. in Toronto und Harvard. Er lehrt seit mehr als vier Jahren
Politikwissenschaften an der School of Political Studies (Universität Ottawa). In der kanadischen Hauptstadt präsentierte er seine Analyseergebnisse zum "Sniper-Massaker" erstmals im Oktober in einem Seminar am Lehrstuhl für ukrainische Studien. Der Universitätslehrer forscht zu den politischen Entwicklungen und Konflikten in postsowjetischen Staaten aber auch zu politischen Entwicklungen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Katchanovski spricht Englisch, Ukrainisch und Russisch. Er hat drei Bücher verfasst und Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften sowie in nordamerikanischen, britischen und ukrainischen Medien publiziert.
Herr Katchanovski, Sie haben eine große Zahl öffentlich zugänglicher Belege des Kiewer Blutbades vom 20. Februar untersucht. Warum haben Sie damit begonnen?
Ivan Katchanovski: Zu meinen Forschungsschwerpunkten als Politikwissenschaftler gehören ja gewalttätige Konflikte in der Ukraine und außerdem war es das entscheidende Ereignis, das zum Sturz Janukowitschs und zum Beginn des Bürgerkriegs im Donbass führte. Das Massaker und der damit verbundene Machtwechsel führten auch zur Eskalation des Konflikts zwischen dem Westen und Russland und veranlasste Russland zur Unterstützung der Separatisten und zu einer direkten militärischen Intervention.
Ich habe mich aber schon von Anfang an mit dem Maidan beschäftigt - besonders mit den gewalttätigen Episoden. Dazu zählen etwa der Angriff auf die Präsidialadministration am 1. Dezember, die Bulatow-"Entführung" oder auch gewaltsame Versuche im Januar und Februar, das Parlament zu erstürmen. Diese Fälle, für die Teile des Maidan verantwortlich waren, sind sehr wichtig für das Massaker. Denn sie zeigen, dass die Maidanführer bereit waren, Gewalt, die vom Maidan selbst ausging, dem Gegner anzuhängen und dies für ihre eigenen politischen Ziele zu instrumentalisieren.
Regierungen und Medien im Westen haben sofort akzeptiert, dass das Scharfschützenmassaker von Regierungskräften und auf direkten Befehl Janukowitschs ausgeführt wurde. Diese Behauptungen beruhen aber nicht auf schlüssigen Beweisen. Dieser Massenmord durch Janukowitsch erscheint aus politikwissenschaftlicher Perspektive irrational und rätselhaft. Janukowitsch und seine Verbündeten verloren dadurch all ihre Macht, große Teile ihres Reichtums und mussten aus der Ukraine fliehen. Zudem sind die wiederholten Versuche der Demonstranten, eine kleine unwichtige Stelle auf der Institutska-Straße zu erobern, kaum zu erklären. Denn sie kamen dort ja unter Dauerfeuer und wurden in Wellen getötet oder verwundet.
Waren Sie an diesem Tag in Kiew? Und wann haben Sie mit Ihren Nachforschungen begonnen?
Ivan Katchanovski: Am 20. Februar war ich nicht in Kiew. Ich habe aber den Beginn des Massakers an diesem Morgen live in mehreren Internet- und TV-Übertragungen gesehen. Am nächsten Tag begann ich diese zu analysieren.
Und ich forsche auch weiterhin daran. In den nächsten Tagen werde ich eine aktualisierte und umfassendere Studie des "Sniper-Massakers" vorlegen. Darin werden fast völlig unbekannte Live-Übertragungen aus dem Hotel Ukraina während des Massakers enthalten sein. Ein französisches Fernsehteam hat einen der Schützen im Hotel gefilmt und mit ihm während des Massakers gesprochen. Soweit ich weiß, wurde das Material noch nie gesendet. In der neuen Version untersuche ich auch andere ähnliche Gewaltfälle wie zum Beispiel das "Odessa-Massaker".
Das alles ist Teil meines derzeitigen Forschungsprojekts. Es dreht sich darum, wie sich die Politik des Euromaidan änderte, nachdem oligarchische und rechtsradikale Kräfte die weitgehend friedlichen Massenproteste in einen gewaltsamen Machtwechsel umfunktionierten.
Was für Quellen haben Sie für ihre Analyse genutzt?
Ivan Katchanovski: Ich habe alle öffentlich zugängliche Beweise genutzt: Videos und Fotos von verdächtigen Schützen, Live-Aussagen der Maidan-Ansager, Augenzeugenberichte beider Seiten, Funkübertragungen der Maidanschützen sowie der Scharfschützen von der Spezialeinheit "Alfa" und der Sicherheitskräfte, öffentliche Aussagen damaliger und aktueller Regierungspolitiker, Kugeln und benutzte Waffen, Einschusslöcher sowie Verwundungsarten bei Demonstranten und Polizisten.
Ich habe fast 30 Gigabyte aufgefangener Funkgespräche der Einheiten Alfa, Berkut, Omega, der Truppen des Innenministeriums und anderer Sicherheitskräfte während des Massakers und während des gesamten Maidanprotests ausgewertet. Diese Dateien wurden von einem ukrainischen Pro-Maidan-Radioamateur in einem Funk-Scanner-Forum im März veröffentlicht. Ich war zudem auch in Kiew und habe am Tatort des Massakers Fotos der verbliebenen Einschusslöcher gemacht.
Die Einschusslöcher wurden ja auch von der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft untersucht. Diese konnte aber keine Hinweise auf Schützen aus Maidanrichtung finden. Was denken Sie über deren Ermittlungen?
Ivan Katchanovski: Die Belege meiner Studie zeigen, dass die Generalstaatsanwaltschaft und andere Regierungsstellen die Ermittlungen zum Massaker absichtlich verfälscht haben. Der Generalstaatsanwalt sagt, er habe keine Beweise für Schützen im Hotel Ukraina und anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden. Mitglieder einer speziellen Berkut-Einheit hätten fast alle der Demonstranten mit AKM-Gewehren (Kalaschnikows) und Jagdmunition getötet. Bis auf einige Videos, die mit AKMs schießende Berkut-Leute zeigten, wurden jedoch keine Beweise veröffentlicht. Ein Reuters-Bericht enthüllte erst vor kurzem, dass die Anklage gegen drei Berkut-Mitglieder lediglich auf solchen Videos beruht.
In meinen Nachforschungen habe ich entdeckt, dass die meisten Tötungsfälle von Maidandemonstranten eher auf Schützen aus dem Maidanspektrum hinweisen. In den restlichen Fällen ist die Analyse nicht eindeutig, weil entweder Beweise fehlen oder Berkut und Maidanschützen gleichzeitig schossen. Zahlreiche entscheidende Beweisquellen, die auf Schützen von Maidanseite deuten, werden von der ukrainischen Regierung bislang ignoriert.
Welche Belege haben Sie dafür, dass die Generalstaatsanwaltschaft und die ukrainische Regierung die Ermittlungen verfälschen?
Ivan Katchanovski: Zum einen hat die Regierung die tödlichen und alle anderen Schüsse auf Polizisten am 20. Februar und in den beiden Tagen davor bis heute nicht untersucht. Zum anderen habe ich in meiner Analyse zahlreiche Beweise für Schüsse aus mindestens zwölf vom Maidan kontrollierten Gebäuden aufgelistet. Trotzdem leugnet das Büro des Generalstaatsanwalts weiter, dass es in diesen Gebäuden Schützen gab. In der aktualisierten Auflage meiner Studie wird es einen Video-Anhang geben. Darin werden auch Bildbeweise für Schüsse aus Maidangebäuden enthalten sein. Ein erstes dieser Videos ist nun verfügbar.
Erst vor kurzem habe ich Live-Übertragungen aus dem Hotel entdeckt. Diese kaum bekannten Aufnahmen enthalten nicht nur direkte Beweise, dass Maidankämpfer das Hotel Ukraina während des Massakers kontrollierten, sondern auch, dass sie mit Kalaschnikow-Sturmgewehren (Kaliber 7,62 Millimeter), Jagdwaffen und anderen Gewehren bewaffnet waren und mit scharfer Munition während des Massakers aus den oberen Etagen des Hotels schossen. Das stimmt wiederum mit den Waffentypen und Munitionskalibern überein, die sowohl gegen unbewaffnete Demonstranten als auch gegen Polizisten eingesetzt wurde. Und die Schusswunden der Demonstranten sowie die Richtung der Einschusslöcher passen auch dazu.
Auch die Polizei hat an diesem Tag scharf geschossen. Gibt es tatsächlich keine Beweise, dass Polizisten Maidankämpfer erschossen haben?
Ivan Katchanovski: Dass Berkut-Mitglieder Demonstranten getötet haben - insbesondere Bewaffnete - kann anhand der öffentlich zugänglichen Belege nicht ausgeschlossen werden. In den Fällen einiger getöteter Demonstranten haben Polizisten und Demonstranten gleichzeitig geschossen. In einigen anderen Fällen gibt es überhaupt keine öffentlich zugänglichen Informationen über Ort und Umstände des Todes von Demonstranten.
Und wer hat Ihrer Meinung nach sowohl Polizisten als auch Maidankämpfer am 20. Februar getötet?
Ivan Katchanovski: Alles deutet darauf hin, dass Elemente der Maidan-Opposition, und zwar rechtsradikale und oligarchische Parteien, in die Tötung von Demonstranten und Polizisten verwickelt waren. Dies geht aus vielfältigen Beweisen hervor - etwa Schützenpositionen in Maidan-kontrollierten Gebieten, den Flugbahnen der Geschosse abgeleitet aus ihren Einschlagslöchern, der Benutzung von AKMs und Jagdgewehren, ähnliche Wunden bei Polizisten und Demonstranten, der Funkkommunikation der Sicherheitskräfte sowie das Versagen der Maidan-Selbstverteidiger damals und der Regierung heute, die Schützen zu finden.
Was meinen Sie mit "oligarchische Parteien", die in das Massaker involviert sind? Glauben Sie Poroschenko ist der Schuldige, der dahinter steckt?
Ivan Katchanovski: Es gibt Hinweise, dass neben den Rechtsradikalen auch Anführer der Vaterlandspartei in das Massaker verwickelt waren. Aber es ist unklar, wie genau. Die Maidan-Selbstverteidiger, unter denen sich auch kleinere bewaffnete Einheiten befanden, wurden von einem Vaterlandsaktivisten (Andrij Parubij) angeführt. Ich habe aber nicht die Beteiligung einzelner Politiker oder Oligarchen untersucht. Die neue Regierung hat das auch nicht.
Wurden die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen in westlichen Leitmedien aufgegriffen?
Ivan Katchanovski: In Sachen Ukrainekrise, einschließlich des Scharfschützen-Massakers, haben sich erneut frühere Studien bestätigt, dass die Mainstream-Medien in westlichen Ländern oft eine politisch verzerrte Berichterstattung leisten, die weitgehend der Linie ihrer jeweiligen Regierung folgt. Westliche Leitmedien haben - bis auf wenige Ausnahmen - die Standard-Erzählung des Massakers präsentiert. Sie berichteten nur selten von Erkenntnissen, die dieses Narrativ in Frage stellten.
Mehrere US-amerikanische, britische und kanadische Medien, die Interviews mit mir oder Artikel über meine Forschungsergebnisse zu den politischen Entwicklungen des Euromaidan veröffentlicht haben, wollten dies im Falle meiner Scharfschützenstudie nicht tun. Zum Beispiel hat der größte kanadische Sender eine Dokumentation, in der es ein Interview mit mir zu dem Thema gibt, immer noch nicht gezeigt. Ein britisches Magazin wollte meine Studie haben, hat sie aber ohne Angabe von Gründen bislang nicht veröffentlicht.
Immerhin haben Medien in Dänemark, Polen und Tschechien schon einige Befunde meiner Studie zitiert oder Interviews mit mir veröffentlicht. Und meine Analyse wurde ins Französische, Russische und Polnische übersetzt.
Gab es vielleicht irgendwelche politischen Reaktionen auf Ihre Ermittlungsresultate?
Ivan Katchanovski: Ich finde es bemerkenswert, dass es bislang keine Reaktionen gegenüber der ukrainischen Regierung wegen ihrer möglichen Beteiligung am Massaker bzw. an der Verfälschung der Ermittlungen gab. Es hat aber sehr wohl politische Reaktion gegen mich als Autor der Studie gegeben. Ich wurde vorhersehbarerweise als "pro-russisch" oder "gekauft" diskreditiert. Einige Forscher zweifelten die Wissenschaftlichkeit meiner Studie an. Eines meiner Interviews in einem polnischen Online-Magazin wurde auf Geheiß der ukrainischen Regierung entfernt.
Es gab aber vor kurzem noch eine andere offenbar politische Reaktion auf meine Arbeit. Vor wenigen Tagen kehrte eine Richterin ihre eigene Entscheidung aus dem Februar um. Damals hatte sie mich noch als Eigentümer meines Elternhauses, das ich geerbt habe, bestätigt. Nun hat sie das revidiert. Um den Fall schnell abzuschließen strich die Richterin meinen Namen im ersten Urteil und informierte weder mich noch meinen Anwalt über den Neubeginn der Verhandlung. Ein anderer Richter am Luzker Gericht hat mir zudem im November das Privateigentum an dem Grundstück, auf dem das Haus steht, aberkannt. Bei diesen Enteignungsverfahren ist ein Anwalt beteiligt, der eng mit der neuen Regierung verbunden ist.
Ich bin in dem Haus aufgewachsen und bei meinen zahlreichen Forschungsaufenthalten in der Westukraine zu aktuellen und historischen Themen war es immer mein Ausgangspunkt. Die Enteignungen und die anderen politischen Reaktionen bedeuten, dass ich meine Forschungen in der Ukraine erstmal nicht fortführen kann. Sie deuten auch daraufhin, dass es dort noch ganz andere Racheakte gegen mich geben könnte. Ich bin nicht sicher, wann ich wieder in die Ukraine reisen kann.