Aufmerksamkeit, Krieg und Frieden
Notizen zu Terror und Terrorismus, Teil 2: Selbstmordattentäter verschiedenster Gruppen
Ein spezieller Fall von Terrorismus ist der Einsatz von Stellvertretern, die planen, in dem Angriff zu sterben, beispielsweise durch Selbstmord. Der Grossteil der Terroristen tut das nicht. Neben Al Qaida wenden diese Taktik vor allem zwei Gruppen an, nämlich die Palästinenser gegen Israel und die Tamilischen Tiger gegen die Regierung von Sri Lanka.
Zumindest die palästinensischen Terroristen, die selbstmörderische Bombenanschläge durchführen, sind zum Grossteil religiöse Muslime, die scheinbar glauben, sie landen in einem ganz speziellen Teil des Himmels, sobald sie "Märtyrer" sind. Das sind immer Männer. Andererseits scheinen die Tamilischen Tiger sich keinerlei Annahmen über ein Leben nach dem Tod hinzugeben; viele ihrer Selbstmordattentäter waren Frauen. (Wie mindestens auch zwei der nicht-religiösen palästinensischen "Al Aksa Märtyrer Brigade", einem Ableger von Arafats Fatah, die erst kürzlich, anscheinend in Konkurrenz zur Hamas, aktiv wurde).
Obwohl im Terrorismus die vorsätzliche Planung einer Aktion, in der man sicher stirbt, ungewöhnlich ist, ist es dagegen kaum ungewöhnlich, für eine Sache große Risiken, einschließlich des beinahe sicheren Todes, auf sich zu nehmen, oder Märtyrertum zu akzeptieren, oder auch sein Leben in einem absolut nicht kriegsähnlichen Abenteuer aufs Spiel zu setzen. Der Selbstmord des Grunge-Stars Kurt Cobain hat seiner Popularität nicht geschadet, und die Massen- und Selbstmörder der High School in Colorado (und vielleicht auch in Sachsen-Anhalt), waren sich der Aufmerksamkeit, die sie, wenn auch posthum, finden würden, sehr wohl bewusst. Die Welt ist voll von Gedenkstätten zu Ehren glorreich gestorbener Soldaten.
Die Selbstmordattentäter verschiedenster Gruppen scheinen alle gemeinsam zu haben, dass sie vor ihrem geplanten Tod indoktriniert wurden und dann von anderen umgeben bleiben, die ebenfalls mit dieser Weltsicht indoktriniert wurden, die ihren Selbstmord rechtfertigt. Es scheint, als hätten es die Angreifer des 11. September, obwohl sie in einem fremden Land relativ isoliert waren, dennoch geschafft, sich in einer bewussten Abschottung gegen jede Möglichkeit Zweifel zu entwickeln oder zu prüfen mit Gleichgesinnten zu umgeben.
Zusätzlich zu einer möglichen schnellen Reise in ein "wunderbares" Leben nach dem Tod für sich und ihre Familien, erhalten die palästinensischen Terroristen sichtbarere Belohnungen - Geld für ihre Familien und, am wichtigsten, Aufmerksamkeit für sich selbst (nach dem Tod, aber immerhin) auf verschiedenen arabischen TV-Stationen und durch ihre Organisationen, die Videos mit ihren Interviews auf dem Weg zum Märtyrertum kursieren lassen (ein "ewiges Leben" auf Video!). Die erste junge weibliche Al Aksa Märtyrerin wurde laut Berichten sofort zu einem "coolen" Rollenvorbild für andere junge Mädchen aus gutsituierten Westbank Familien.
Von dieser Art Aufmerksamkeit habe ich in Bezug auf tamilischen Terror noch nie gehört, und anscheinend verzichten auch die Anhänger der Al Qaida darauf (existiert womöglich einen geheimer Fundus an Videos für zukünftige Veröffentlichungen?). Wie dem auch sei, nach dem 11. September hat Bin Ladin es geschafft, sein Gesicht auf T-Shirts wiederzufinden. Scheinbar ist es nicht mehr notwendig, sich explizit zu etwas zu bekennen.
Nicht ganz zufällig berichteten die amerikanischen Medien massiv über den Tod des ersten amerikanischen (quasi) Militärangehörigen in Afghanistan. Gewinne den Tod, erreiche die Massen. (Mir ist immer ein Wandgemälde in Gedenken an Soldaten aus dem I. Weltkrieg aufgefallen, das lange auffällig platziert in der Widener Bibliothek in Harvard hing. Ein Soldat wird von zwei attraktiven, spärlich bekleideten Frauen umschlungen; die Inschrift ist direkt in das Gemälde hineingemalt: "Wie glücklich sind diejenigen, welche, in einer Umarmung, Tod und Sieg umschlangen." Wenigstens hat der Koran keine Bilder).
Was den Selbstmord betrifft, verleiht einem letztlich schon seine Androhung Macht. Zu verkünden, dass man bis zum Tod kämpfen wird, macht einen zu einem weit furchteinflössenderen Gegner. Keine bisher angewandte Bestrafung kann einen Selbstmordattentäter abhalten, der entschlossen ist zu sterben, und das lässt alle diese Figuren nur noch unaufhaltbarer erscheinen.
"Die Wurzel des Übels"
Kann man feststellen, was hinter dem Terrorismus steckt? Anscheinend ist es ein Verlangen nach mehr Macht, als ansonsten verfügbar ist, und ganz allgemein nach Macht, die nicht über die Wahlurne errungen werden kann, entweder weil man die Stimmen nicht bekommen würde oder weil es keine Wahlen gibt. Es werden immer Missstände irgendeiner Art geltend gemacht, wenn eine Erklärung abgegeben wird, aber das müssen nicht immer die wirklichen Gründe sein. Terrorismus kann zur Gewohnheit werden. Die Leute sind mit etwas ziemlich Aufregendem beschäftigt, es verschafft ihnen Beachtung und es kann einem ideologischen Ziel dienen.
Was wollte Aum Shinrikyo wirklich? Ein Ziel, eine Bedeutung, einen tieferen Lebenssinn, Macht? Für andere ist es Gerechtigkeit, die Vergeltung von Erniedrigung, eine Gelegenheit zu einer Art ultimativem Sieg. Doch man muss festhalten, dass andere, die sich in derselben Situation wie diejenigen befinden, die Terroristen werden, sehr oft nichts dergleichen tun; Passivität oder nicht-gewaltsame Aktionen, oder eine Lebensweise, die den Schmerz oder die Erniedrigung nicht so relevant erscheinen lässt, wären andere Möglichkeiten, die vom Terrorismus wegführen. Man könnte umziehen, einen anderen Beruf ausüben, sich mit Mystizismus beschäftigen, die Freundschaft und konstruktive Beziehungen zu den vermeintlichen Unterdrückern suchen, und so weiter und so fort.
Terrorismus ist höchstens eine der möglichen Antworten auf bestimmte Situationen, aber es ist schwer festzulegen, welche das genau sind. Sobald jemand an Terrorismus denkt, ihn ausführt oder verteidigt, wird er zu einem anerkannten Mittel für den Umgang mit dieser oder jeder ähnlichen Situation. Alles was dann neben ausreichender organisatorischer Kapazität womöglich noch nötig ist, um loszulegen, ist der Mangel an genügend überzeugenden Argumenten, die dagegen sprechen. Obwohl es erstaunlich ist, wie oft Argumente gegen die Anwendung von Terrorismus erfolgreich zu sein scheinen. Terrorismus ist schließlich nach wie vor ziemlich selten.
In jedem Fall gibt es einen Missstand, aber gibt es nicht beinahe immer Missstände, die man nähren könnte? Warum sind die baskischen Terroristen anscheinend weitaus mehr dem Terrorismus verfallen als zum Beispiel die bretonischen? Warum gab es in Ost-Timor keinen Terrorismus für die Unabhängigkeit, sondern nur staatlich unterstützten Pseudo-Terrorismus dagegen? Terrorismus verlangt womöglich auf Seiten der Regierungen, die damit konfrontiert sind, einen gewissen Grad an Höflichkeit. Zu viel Brutalität als Antwort könnte den Terrorismus zu einer Möglichkeit nicht für individuellen, sondern für kollektiven Selbstmord machen. Das war in der Vergangenheit wahrscheinlich der Fall.
Mittel
Sie könnten sich in dunklen Gassen verstecken und Passanten erstechen, aber mit dieser Wahl würden sie wahrscheinlich nicht so viel Aufmerksamkeit erregen - auch wenn die Ermordung ganzer Dörfer mit dem Messer anscheinend die Taktik islamischer Terroristen in Algerien ist. Bomben, automatische Waffen und andere laute, blutige, hochdramatische Tötungsmittel maximieren die unmittelbare, direkte Angst und maximieren daher auch die Angst, die durch die Berichte in den Medien entsteht. Wenige Terroristen lassen sich etwas Neues einfallen. Aber sie ahmen andere recht uneingeschränkt nach.
Der Terrorismus am 11. September ging über jedes bisher gekannte Ausmaß dramatischer Zerstörung hinaus und nutzte darüber hinaus auch eine Form von Einfallsreichtum und Organisation, die bisher nicht besonders ins Auge stachen. Allerdings zeigten die mehr oder weniger gleichzeitigen Angriffe von Al Qaida auf die US Botschaften in zwei Ländern - Kenia und Tansania - im Jahr 1998 ebenfalls ein noch nie dagewesenes Maß an Koordination. Indem sie Flugzeuge nur mit Stanleymessern entführen und diese Flugzeuge dann in Gebäude krachen lassen, erschrecken sie uns nicht nur mit ihrer Bereitschaft für ihre Sache zu sterben, welche auch immer das ist, sondern auch mit der Vorstellung, dass nichts sicher sein kann. Oberflächlich betrachtet scheinen wir, je mehr wir in einer Welt hochentwickelter Technologie und komplexer Systeme leben, umso mehr dieser von ihnen erfundenen Form des Jiu Jitsu ausgeliefert zu sein, dass unsere scheinbare Stärke gegen uns verwendet werden kann. Flugzeuge zu entführen und sie in Gebäude krachen zu lassen, hätte beispielsweise in Afghanistan kaum merkliche Folgen gehabt.
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Pichler