Aufmerksamkeit, Krieg und Frieden

Notizen zu Terror und Terrorismus, Teil 3: Konsequenzen

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Betrachtet man über einen längeren Zeitraum die Fokussierung der globalen Aufmerksamkeit, waren die Auswirkungen des 11. September weitreichend und vermutlich völlig anders, als die Täter intendierten, aber letztendlich ging sie bisher doch in eine Richtung, die von ihnen und ihren Landsleuten womöglich gut geheißen wird.

Während sich die Aufmerksamkeit zuerst auf Afghanistan verlagerte und vor allem auf die Notlage der Bevölkerung unter der Taliban Regierung - Al Quaidas Kunden, Verbündete und Beschützer - war der weitere Verlauf völlig anders. Mit der Durchführung des wie es schien weltweit größten terroristischen Anschlags hat Al Quaida dafür gesorgt, dass sich die Aufmerksamkeit der USA und eines Großteils der Welt auf die Opfer verlagerte, und auf uns selbst, die möglichen Opfer, was wiederum eine gewaltige Welle von Schutzmassnahmen auslöste, ebenso wie das Gedenken und beinahe eine Heiligsprechung der direkten Opfer. Aber die Tatsache, dass der Terrorismus selbst in all seinem Schrecken zum Fokus wurde, ermöglichte der israelischen Regierung unter Ariel Sharon rasch eine Rechtfertigung ihrer eigenen, äußerst harten Reaktionen auf terroristische Bombenanschläge in Israel, Selbstmordattentate die schließlich sowohl in Form als auch in Inhalt den selbstmörderischen Aktionen der Al Quaida, sehr verwandt waren. Wenn auch Sharons Schritt die weltweite Aufmerksamkeit auf die israelischen Opfer der Bombenanschläge lenkte, fokussierte er ebenso die Aufmerksamkeit, zuerst die der arabischen Welt, dann auch die weiter Teile der restlichen Welt, auf die palästinensischen Opfer israelischer Vergeltungsschläge.

Viele Europäer sehen Arafat jetzt als einen mutigen Führer und Sharon beinahe als Hitler, beides sehr übertriebene und einseitige Einschätzungen. Aber wichtiger ist, dass der 11. September jetzt die weltweite Aufmerksamkeit, die der gesamten Israel-Palästina Frage gewidmet wird, verstärkt hat und dieser erhöhte Fokus bedeutet tatsächlich, dass nun beide Seiten im Ausmaß der kriegsähnlichen Handlungen, die sie setzen können, eingeschränkt sind. Ein heißer Krieg hat sich abgekühlt, und zwar wegen der sehr großen Beachtung in den Medien.

Die Wahrheit über jeden Einsatz von Terror, ob von offiziellen Armeen oder inoffiziellen Terroristen, ist, dass dieser Tage viel von der Aufmerksamkeit, die durch diese Aktionen generiert wird, den Opfern zukommt. So war es in den Vereinigten Staaten nach "9/11". Die New York Times versuchte in einer Serie jedes der mehr als dreitausend Opfer mit einem Kurzprofil zu präsentieren, und die Serie läuft gelegentlich immer noch. Während die Entführer als eindimensional und böse wahrgenommen werden, werden ihre Opfer voller Leben präsentiert - ein Leben, das ungerechterweise zu früh beendet wurde. Und das ganze Land konzentriert seine Aufmerksamkeit vor allem auf unser eigenes Bedürfnis am Leben zu bleiben, und weniger auf was auch immer die Terroristen durch ihre Aktion vermitteln wollten. Das funktioniert auch anderswo, wo immer die Medien erlaubt sind. So werden die Opfer der palästinensischen Selbstmordattentäter auf gewisse Weise ins Leben zurückgeholt, unsere Sympathie für sie wächst, aber ebenso verhält es sich mit den unschuldigen palästinensischen Opfern der israelischen Einfälle in der Westbank oder sogar mit den unschuldigen afghanischen Opfern des US Militärs.

Jedes Mal, wenn Opfer beinahe beliebiger Taten in Nahaufnahme gesehen werden können, scheinen unsere menschlichen Sympathien ihnen beinahe automatisch zuzufliegen, unsere Aufmerksamkeit ist von ihnen weit mehr gefesselt als von den Tätern mit ihren Bomben und Gewehren. Kein Land, keine Macht, nicht einmal die USA, kann lange die Aufmerksamkeit außer Acht lassen, die sich auf die leidenden Opfern ihrer Taten richtet und ist daher gezwungen, solche Aktionen zu limitieren, was auch immer deren Auslöser ist.

Im Konflikt zwischen Israel und Palästina, fokussieren die Anhänger der beiden Seiten ihre jeweilige Aufmerksamkeit sehr verschieden, da sie die Welt entsprechend ihrer Sympathien in krass entgegengesetzten Kategorien sehen. Und doch betrachten sie dieselben Ereignisse, egal wie unterschiedlich ihre jeweilige Analyse ausfällt. Die Israelis und ihre Anhänger, einschließlich der meisten Amerikaner, sehen jede militärische Aktion vor allem als notwendigen Schritt, um unsäglichen Terrorismus zu unterdrücken. Die arabische Seite und ihre europäischen und anderen Anhänger dagegen sehen einen quasi kolonialistischen Prozess, der die Palästinenser an einem Protest gegen Bedingungen hindern soll, die ihnen von den israelischen Oberherren aufgezwungen wurden. Und doch wissen auf beiden Seiten viele ganz genau, dass sie dasselbe Ereignis betrachten, wenn auch mit unterschiedlichen Sympathien, und dass also irgendwie eine Schnittstellen zwischen ihren Ansichten möglich sein muss. Sie werden auch sehen, dass diese Schnittstelle kontroversieller Ansichten die Aufmerksamkeit für die Lage des Opfers höher bewerten muss, als die Aufmerksamkeit für den Terror, der durch Waffen ausgelöst wird. So wird jede Seite beginnen Angst zu verspüren, nicht vor der Waffenstärke des Feindes, sondern vor der Stärke des Feindes, der die Bösartigkeit der eigenen, gegen ihn gerichteten Taten ausnutzt.

Sogar jetzt, wo die wirklichen Erinnerungen an den 11. September ebenso wie all die Ängste und Alpträume verblassen, wo der afghanische Sieg zu einem zweideutigen militärischen Moment zu verblassen beginnt, wo in den USA wieder innenpolitische Themen dominieren und Präsident Bush angestrengt versucht, seine Popularität als Präsident in Kriegszeiten hochzuhalten, wo die Überzeugung wächst, dass Osama Bin Laden tot sein könnte, ist die Welt, und auch die USA, gezwungen, der arabischen Sichtweise, wenn schon nicht den Ansichten des islamischen Fundamentalismus, Aufmerksamkeit zu zollen. Tatsächlich erscheint der islamische Fundamentalismus langsam als eine politische Einstellung, die man durch eine andere Politik, die die Leiden der Araber oder anderer Muslims anerkennt, aufgeben oder ersetzen kann.

Trotz der Verwerflichkeit des 11. September und der zu kriegerischen "Wir bringen das alleine zu Ende"-Reaktion der Regierung Bush, haben diese Ereignisse die Welt stärker vereint, als sie es zuvor war und einen größeren Teil der weltweiten Aufmerksamkeit vollständiger auf die Serie der "Nachbeben" fokussiert, und zwar so, dass kriegsähnliche Aktionen jeder Seite tatsächlich schwieriger durchzuführen sind als vorher.

Es zu Ende bringen

Wie also kann man Terrorismus stoppen? Die Antwort scheint ganz einfach zu sein. Auf Dauer nicht mit Gewalt. Nicht, indem man der Armut ein Ende setzt, obwohl das manchmal hilfreich wäre. Nein, Terrorismus kann man nur dadurch beenden, dass man den Opfern ausreichend Beachtung schenkt, nicht nur den Opfern bisheriger Terroranschläge, sondern allen bösartigen Kräften des modernen Lebens. Aufmerksamkeit muss für jeden verfügbar sein, der sich ungerecht behandelt und verletzt fühlt. Wo es Demokratie gibt, ist Terrorismus selten, eben weil unter diesen Bedingungen den meisten andere Methoden offensichtlich scheinen, um sich Gehör zu verschaffen. Aber ein großer Teil der Welt, obwohl beeinflusst von den weiter entwickelten Ländern, ist von deren Beachtung abgeschnitten, und oft auch von der Beachtung ihrer Umgebung. Das zu ändern birgt bei weitem die größte Hoffnung.

Es wird nicht einfach sein. Kürzlich hat Tom Friedman in der New York Times berichtet, dass in Indonesien Informationen aus dem Netz überwiegend als wahr empfunden werden. Daraus zieht er den Schluss, dass das Netz, anstatt die Welt zu vereinen, die Kluft nur vergrößern wird. Sein Schluss ignoriert die Tatsache, dass in Indonesien nur sehr wenige mehr Erfahrung mit dem Netz haben. Wenn und falls die Nutzung ebenso selbstverständlich wird, wie sie es für uns ist, wenn individuelle Menschen dadurch Aufmerksamkeit bekommen können, dann wird die Willkür in Bezug auf die Wahrheit augenscheinlich werden. Dann wird das Netz ein mächtiges Werkzeug für verschiedene Parteien werden, um die Beschwerden der anderen zu hören und zu sehen und so mit Sympathie zu reagieren. Damit und mit ähnlichen Mitteln werden wir alle vielleicht den Gequälten und Erniedrigten genug Aufmerksamkeit schenken können, so dass sie nicht mehr die Notwendigkeit verspüren, sich über die Zerstörung in unser Bewusstsein zu drängen. Diejenigen unter uns, die das Glück haben zu wählen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, können helfen, indem sie diese Wahl entsprechend treffen und auch jedes Publikum aufzeigen, dass wir auf diese Weise erreichen können.

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Pichler