Aufmerksamkeitsterror
Anmerkungen anlässlich des Massakers von Erfurt über die Wirkung der Medien, das Verlangen nach Prominenz und Prinzipien der Aufmerksamkeitsgesellschaft
Nach Ereignissen wie dem Massaker oder dem Selbstmordanschlag im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt herrscht nicht etwa Stille, sondern aufgeregtes Reden. Die Öffentlichkeit wird ein zweites Mal beschossen mit Bildern und Worten, die irgendwie das Ereignis zum Thema haben. Der Zweck scheint zu sein, es in die Köpfe der Menschen zu brennen und so eine Synchronisierung der Gesellschaft zu leisten - verbrämt durch Berichterstattung, Expertenmeinungen und Betroffenenäußerungen. Was ist es - abgesehen vom Zwang zur Konformität, der die Medien zwingt, aus Konkurrenzgründen die "Topstory" zu behandeln -, was die Medien als kollektive Aufmerksamkeitsorgane bannt, um auf allen Kanälen und Seiten immer wieder das Entsetzen zu wiederholen? Warnung, Verarbeitung, Angstabbau, Prävention? Hinter all dem Zusammenspiel zwischen Gewalt, Medien und Schocks liegen vermutlich die erst ansatzweise begriffenen Handlungsmuster der Aufmerksamkeitsgesellschaft.
Der Name des Erfurter Amokläufers war binnen weniger Stunden stadtweit bekannt. Doch bislang ist das Motiv des 19-jährigen Schülers, Eltern und Lehrern ein Rätsel. Der junge Mann, den seine Freunde nur "Steini" riefen, galt den meisten Mitschülern und Lehrern eher als "unauffällig" und "in sich gekehrt". Er fiel weder durch besonders gute Leistungen noch durch sehr auffällige Kleidung auf. Lediglich seine Liebe zu lauter, sakraler Metal-Musik, der entsprechenden schwarzen Kleidung und den Band-T-Shirts nennen seine Bekannten als besonderes Merkmal.
Jetzt sehen viele in seinen Musikvorlieben und seinem Hang zu brutalen Computerspielen, in denen er als virtueller Killer agierte, Zeichen für seine Bereitschaft zu einer Bluttat. Zuvor hatte niemand im Umfeld des Jugendlichen Anstoß an den Killer-Spielen auf seinem Rechner genommen." - Matthias Gebauer in Spiegel Online
Anschläge und Amokattacken sind, wie immer sie auch noch vom Täter motiviert waren, erst einmal inszenierte Ereignisse, die Schrecken auslösen und damit die Aufmerksamkeit ködern sollen. Darin ist ein vielleicht aus persönlichen Rachemotiven geführter Selbstmordangriff wie der in Erfurt mit Anschlägen vergleichbar, wie sie Selbstmordattentäter am 11.9. oder in Israel ausführen. Die Tat selbst kann man einen Aufmerksamkeitsterror nennen, da sie den Blick der Medien, der kollektiven Aufmerksamkeit, auf sich und damit auch auf den Täter zu richten sucht. Das unterscheidet solche in aller Öffentlichkeit ausgeführten Taten von Anschlägen, bei denen der Täter versucht, unerkannt zu bleiben und nicht ergriffen zu werden. Sie sind komplizierter durchzuführen und verlangen eine ausgefeiltere Logistik, während der Erfolg bei Anschlägen, bei denen das eigene Leben aufs Spiel gesetzt wird oder der Ausweg nach vollbrachter Tat die Selbsttötung ist, höher liegt, die Ausführung leichter ist und die Person des Täters stärker im Vordergrund steht. Die dadurch gewonnene Prominenz des Täters legt, zumal wenn es sich um einen Einzeltäter im Selbstauftrag handelt, dann eher auch eine psychologische Deutung nahe, die bei "Terroristen" mehr in den Hintergrund tritt.
Gebündelte kollektive Aufmerksamkeit auf den Täter, die durch das Spektakel von dessen Tat ausgelöst wird, schafft Prominenz, im Erfurter Fall allerdings nur eine Prominenz postum. Wenn aber wirklich auch für sich existent nur derjenige ist, der in die Aufmerksamkeit Anderer getreten ist, da dies die Vorbedingung für Wahrnehmung und Anerkennung ist, nimmt der Selbstmordattentäter sich mit seiner Tat das Leben - in der doppelten Bedeutung dieser Formulierung. Das Attentat ist so eine möglichst große Aufmerksamkeit erzielende Rache für nicht geleistete Aufmerksamkeit, die meist an den Personen und/oder in dem Umfeld exekutiert wird, die dafür vom Täter direkt oder auch sehr indirekt verantwortlich gemacht werden könnten. Dabei kann es schon reichen, in einer Stadt oder überhaupt in der Nähe des Täters zu leben, einer Ethnie anzugehören oder in einer Institution bzw. einem Unternehmen zu arbeiten.
Medien und Prominenz
Möglicherweise wird in einer Gesellschaft, in der die Ressource Aufmerksamkeit knapp und ein wertvolles Gut ist, um das mit allen Mitteln gekämpft wird, der Aufmerksamkeitsterror zu einem ansteckenden und sich weiter ausbreitenden Mittel der Ohnmächtigen, Übersehenen und Loser, die sich so aus persönlichen, religiösen oder politischen, wahrscheinlich meist in einem Gemenge aus vielen Gründen in die Aufmerksamkeit bomben wollen. Aus dieser Perspektive gibt es Millionen von "Schläfern", die auf ihren Auftritt warten. Aufmerksamkeit ist Selektion, d.h. das meiste Andere wird wie beim Lichtstrahl eines Scheinwerfers abgeschattet oder völlig übersehen. Man kann sich zumindest vorstellen, dass alle Menschen gleich gerecht behandelt oder dass der Reichtum gleichmäßig verteilt werden könnte, aber Prominenz schließt ebenso wie die zu ihr gehörende Aufmerksamkeit Gleichheit von vorneherein aus. Prominent können stets nur wenige sein, auch wenn potenziell alle Prominente werden könnten. Genau diese Situation, theoretisch jeder Zeit kollektive Aufmerksamkeit erhalten und dadurch zu einem Prominenten werden zu können, macht die Konkurrenz so hart und den Kampf um die wertvolle Ressource für manche auch so verzweifelt. Schließlich wollen auch die Fans, die Proletarier der Aufmerksamkeitsgesellschaft, nicht nur Teil an der Prominenz ihrer Stars haben, sondern sie vertiefen dadurch auch den Aufmerksamkeitskult weiter.
Gefördert wird die mentale Ausrichtung auf Akkumulation von Aufmerksamkeit, die auch den materiellen Reichtum fördern und daher nicht nur psychologisch eingezwängt werden kann, durch die in Medien und in der weiteren gesellschaftlichen Wirklichkeit auf Dauer vorgeführte Bedeutung der Prominenz und der Prominenten. Wer es schafft, wenn auch nur kurz, in den Aufmerksamkeitsadel aufgenommen zu werden, den die Medien schaffen und an den sie sich gleichzeitig anlehnen, hat Erfolg. Permanent Prominenz vorgeführt zu bekommen und der Illusion ausgesetzt zu sein, nur einen Schritt weit davon entfernt zu sein, da der Eintritt in die Prominentenkarriere oft genug keinerlei Leistung vorauszusetzen scheint, dürfte unsere Gesellschaften stärker aufheizen als die Betrachtung und virtuelle Einübung von Gewalt in den Medien, auch wenn hieraus Fertigkeiten und Szenarien stammen mögen (Zeitbombe Schützenvereine). Gewalt ist nur eine, überdies sehr riskante Form der Aufmerksamkeitsbeschaffung. Wer keine Chance sieht, berühmt zu werden oder aufzufallen, und insgesamt unter Aufmerksamkeitsentzug leidet, wird gelegentlich nach Wegen suchen, durch die kollektive Aufmerksamkeit automatisch getriggert wird. Die "Kunst" der Ohnmächtigen und Unauffälligen dürfte darin bestehen, die Überbietungsspirale hinsichtlich der Art des Terrors oder der Menge der Opfer ein Stück weiter zu drehen, um Prominenz zu erlangen.
Die Kultur des Aufmerksamkeitsterrors
Aus welchen Gründen dies auch immer geschieht, so hat sich in den arabischen Ländern und vor allem bei den Palästinensern eine Kultur des Aufmerksamkeitsterrors herausgebildet. Märtyrer werden, wie zu Beginn des Christentums, gleichzeitig zu Waffen gegen einen überlegenen Feind und zu Prominenten, die durch ihre Tat Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Möglicherweise handelt es sich beim Aufmerksamkeitsterror auch um eine säkularisierte oder mediatisierte Form des sakralen Opfers, das durch Blut eine Gemeinschaft erzeugt und zusammenhält. In der arabischen Welt werden derzeit die Märtyrer jedenfalls wie Prominente verehrt. Ihre Namen und Bilder tauchen auf Plakaten, auf Webseiten und in den Medien auf. Sie werden eingereiht in die Menge der prominenten Märtyrer und scheinen Ruhm für die Nachwelt zu erwerben. Ihre Familien werden gerühmt, ihr Begräbnis wird feierlich begangen.
Für viele der meist jungen Attentäter könnte diese Tat die einzige Möglichkeit sein, sich aus der Masse der Menschen herauszuheben und vielleicht nicht nur lokale, sondern auch globale Prominenz zu erwerben. Das könnte insbesondere auch ein Grund dafür sein, dass mehr und mehr junge arabische Frauen im Zuge ihrer Emanzipation zu Selbstmordattentäterinnen werden - und die Täter immer jünger werden. So haben am 25.4.2002 drei Kinder oder Jugendliche im Alter von 13 und 14 Jahren sich mit Messern und selbstgebastelten Sprengstoff ausgerüstet und sind in die Zone um Netzarim eingedrungen, in der die israelischen Soldaten auf alles schießen, was sich bewegt. Sie wurden sofort erschossen, gleichzeitig aber auch bekannt - und schüren damit wieder die Nachfolge. Nach Fadl Abu-Heen, dem Direktor des Community Training and Crisis Management Centre in Gaza-Stadt wollen 70 Prozent aller Schüler im Alter zwischen 8 und 15 Jahren Märtyrer, also Attentäter und damit Prominente, werden.
Aufmerksamkeitsterror ist mittlerweile eher auf Anschläge ausgerichtet, die demonstrieren, dass jeder zum Opfer werden kann. Das sorgt für die größte Verbreitung des Schreckens und die größte Aufmerksamkeit. Wenn es sich dabei nicht um einen gezielten Mord handelt, sondern Menschen mehr oder weniger zufällig zum Opfer werden, weil sie sich gerade an dem Ort befinden, an dem der Täter zuschlägt, dann ist auch schon die Bedingung gegeben, dass sich jeder als potenzielles Opfer sehen kann. Just diese Produktion von Angst und Aufmerksamkeit war schon immer die Wirkungsweise der "Propaganda der Tat", die Naturkatastrophen nachstellt oder simuliert, aber sie wird, einmal begriffen, auch zu einer ästhetischen Handlungsanweisung, schließlich basiert jede Ästhetik auf der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Explizit als ästhetisches Kriterium für den surrealistischen Akt hat dies Andre Breton formuliert:
"Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen. Wer nicht einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe."
Allerdings ist diese Ästhetik des Schocks oder der Plötzlichkeit, diese Ästhetik des Anschlags auch bedingt durch das Vorhandensein der Mittel. Solange Waffen beispielsweise nur auf einzelne Personen gerichtet werden konnten, war die Ausbildung einer Ästhetik des Anschlags nicht möglich. Erst die Bombe und das Dynamit, auch schnell feuernde Schusswaffen hatten sie in die Welt gebracht, deren Plötzlichkeit sich in den Medien Fotografie, Film, Radio und Fernsehen spiegelt. Seitdem ist auch die Möglichkeit gegeben, dass Einzelne viele Menschen töten oder verletzen können, bevor sie überwältigt werden. Der Aufmerksamkeitsterror kulminiert in dem Augenblick, in dem Tat in Echtzeit auf den Medien auftaucht. Die Ausbreitung der Überwachungskameras dürfte mitunter auch dafür sorgen, dass dies noch öfter gelingen wird. Doppelte Anschläge wie die vom 11.9. auf das WTC in New York, deren zeitlicher Abstand für den Einschlag des zweiten Flugzeugs die Anwesenheit von Kameras garantierte, dürften die Ausnahmen bleiben.
Leben in einer Aufmerksamkeitswelt
Das "Organ" der Aufmerksamkeit, mit der Organismen, Individuen oder Gesellschaften wichtige Informationen aus dem ansonsten überwältigenden Datenstrom herauskristallisieren, um zu prüfen, ob und welche Reaktionen erforderlich sind, ist für das Leben ebenso grundlegend wie es trotz aller kulturellen Verfeinerung beim Menschen archaisch ist. Aufmerksamkeit ist zunächst Sicherung des Überlebens, weswegen sofort auf Veränderungen in der Umwelt reagiert werden muss. Dabei geht es nicht nur um die Erkennung äußerlicher Gefahren - auch der Schmerz ist bereits ein verinnertes Aufmerksamkeitsgefühl, das zur Vorsicht zwingt -, sondern natürlich auch um gerichtete Wahrnehmung von bestimmten Signalen zur Befriedung von Bedürfnissen und Trieben (Hunger, Durst, Sexualität, allgemein: Erregungssuche).
Für soziale Lebewesen ist die Aufmerksamkeit der Anderen aber ein besonders wertvolles Gut, da es nicht nur die Beziehungen und Machtverhältnisse reguliert, sondern auch die psychische Existenzgrundlage darstellt: Wer nicht wahrgenommen wird, den gibt es nicht. Und gerade für den, der sich selbst auch mit den fiktiven Augen der Anderen sehen kann, ist die Nichtwahrnehmung - die fehlende Aufmerksamkeit - ein Todesurteil, das zu gewalttätigen Reaktionen führen kann, um möglichst große Aufmerksamkeit zu erlangen: Ich werde wahrgenommen, also bin ich.
Aufmerksam ist also nicht nur das potenzielle Opfer, sondern auch der Sammler, Jäger und Krieger. Um jedoch schnell auf Veränderungen reagieren zu können, muss Aufmerksamkeit einerseits relativ instabil bleiben, also Gleichbleibendes in den Hintergrund drängen, und andererseits auf bekannte und wichtige Reizkonstellationen automatisch anspringen. Solche Signale, die Alarm oder Lust, Flucht oder Annäherung auslösen, werden benutzt, um über die Stimulierung der Aufmerksamkeit Zugang zu den Kollektiven und Menschen zu erlangen. Unsere Gesellschaft ist dadurch ausgezeichnet, dass wir immer mehr Zeit in künstlichen Umgebungen und Medienwelten verbringen, denen bereits die gezielte Stimulation der Aufmerksamkeit zugrunde liegt.
Wir leben in einer Aufmerksamkeitswelt, was einerseits dazu führt, dass die Signale verstärkt werden müssen, die noch die schnell sich habituierende, also bei Wiederholung abschaltende Aufmerksamkeit erreichen sollen. Andererseits leben wir in einer relativ sicheren und dadurch monotonen Welt, die womöglich zu wenig erregt und die Aufmerksamkeit bannt. Ähnlich wie man bei Hunger nach Nahrung sucht, beginnt ein Lebewesen, dessen Aufmerksamkeitssystem nicht genügend existenziell wichtige Informationen erhält, um das durch die Evolution lebensüblich gewordene Erregungsniveau zu erreichen, diese Erregungen aktiv zu suchen oder auch zu erzeugen - fiktiv, virtuell, aber auch in der Realität.