Aufstieg der Rechtspopulisten bei EU-Wahlen: Was er für die Ukraine-Hilfe bedeuten würde

Seite 2: Orbán in Ungarn

Die ungarische Regierungspartei Fidesz verließ 2012 die Mitte-Rechts-Partei EVP, als ihr Ausschluss oder Suspendierung angedroht wurde wegen ihres Streits bezüglich Rechtsstaatlichkeit mit der Europäischen Kommission. Ihre Europaabgeordneten sind seither offiziell nicht mehr Mitglied.

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat Interesse an einem Beitritt zur EKR-Fraktion bekundet. Selbst wenn die Partei unabhängig bleiben sollte, werden die Fidesz-Abgeordneten in der Praxis dem populistischen Block aus ID und EKR angehören.

Ungarn wird außerdem in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 den rotierenden EU-Vorsitz innehaben, was Orbán den Vorsitz im Europäischen Rat der EU-Regierungschefs einbringt, der in der Außen- und Sicherheitspolitik eine führende Rolle spielt.

Die ID und die EKR sind derzeit die viert- und fünftgrößte Fraktion im Parlament mit 67 bzw. 58 Sitzen in dem 705 Mitglieder zählenden Gremium. Umfragen sagen voraus, dass die ID und die EKR bei den Wahlen im Juni deutlich mehr Sitze erhalten werden.

Studie zu Wahlen

Eine Studie des European Council on Foreign Relations vom Januar, die sich auf nationale Umfragen in allen Mitgliedsländern stützt, sieht die ID bei 98 und die EKR bei 85 Sitzen (mit einem zusätzlichen Vorsprung von etwa 14 Sitzen, wenn die ungarische Fidesz hinzukommt).

Die Mitte-Rechts-Partei EVP und die Mitte-Links-Partei SPE verlieren wohl jeweils einige Sitze, während die Liberalen (Renew) und die Grünen erheblich an Stimmen einbüßen werden. Der proeuropäische Block aus EVP, SPE und Renew wird 54 Prozent statt der derzeitigen 60 Prozent der Sitze halten.

In Österreich (FPÖ), Belgien (Vlamms Belang, deutsch: Flämische Interessen), Frankreich (RN), Italien (Fratelli d’Italia) und den Niederlanden (PVV) liegen die ID- oder EKR-Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament deutlich in Führung. In Polen (PiS) und Deutschland (AfD) werden Parteien unter dem Banner der ID oder EKR auf einem starken zweiten Platz erwartet.

Die EVP, die SPE, die Liberalen und die Grünen sind sich in bestimmten wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fragen uneinig, stimmen aber in der Unterstützung für die Ukraine überein. Eine reibungslose Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – einer unerschütterlichen Befürworterin der Unterstützung für die Ukraine – für eine zweite Amtszeit hängt von der Mehrheit der proeuropäischen Parteien im Parlament ab. Ihre EVP-Partei würde ihre Macht bei der Festlegung der Tagesordnung behalten.

Ein Drittel der Sitze: Starker Widerstand gegen Aufrüstung Ukraine

Das neue Parlament wird natürlich von den Präsidentschaftswahlen in den USA und deren Auswirkungen auf die weitere militärische Unterstützung der Ukraine durch die USA überschattet werden.

Wenn Washington seine Unterstützung für die ukrainische Kriegsführung reduziert, werden die europäischen Unterstützer der Ukraine gezwungen sein, ihre eigenen Verteidigungskapazitäten drastisch zu erhöhen und inländische Ressourcen für diese Priorität vor allen anderen Konkurrenten bereitzustellen. Dies würde eine politisch riskante und belastende Anpassung der nationalen und EU-Haushaltsprioritäten erfordern.

Deutschland, der größte Einzelbeitragszahler zum EU-Haushalt, ist in einem solchen Szenario durch die gesetzlichen Grenzen für Defizitausgaben (die sogenannte "Schuldenbremse") und durch seine unpopuläre Regierungskoalition in die Enge getrieben. Ein Alleingang der EU bei der Aufrüstung und Finanzierung der Ukraine würde auf den starken Widerstand eines erweiterten populistischen Blocks im Europäischen Parlament stoßen.

Es wird prognostiziert, dass die populistischen Stimmen der Rechten und der Linken zusammengenommen nach dieser Wahl mehr als ein Drittel der Sitze im Europäischen Parlament innehaben werden – mehr als jemals zuvor seit Beginn der Direktwahlen in diesem Gremium im Jahr 1979.

Sollten sich die Prognosen bewahrheiten, wird diese Entwicklung sicherlich einen großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der EU in Bezug auf die Unterstützung der ukrainischen Kriegsbemühungen und auf die versprochene Erweiterung der EU um die Ukraine haben.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Molly O'Neal ist Universitätsdozentin und Wissenschaftlerin mit einer langen diplomatischen Laufbahn, die sich auf Mitteleuropa, Russland und Eurasien konzentriert. Sie war Fulbright-Professorin in Warschau und in Dresden und hat an der Johns Hopkins University in den USA promoviert.