Aus US-Militärlabor verschwanden Anthrax-Bakterien

Die Spur der Anthrax-Briefe weist auf einen Insider der (defensiven) Biowaffenforschung hin, der möglicherweise nur einen persönlichen Rachefeldzug unternommen hat

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Noch immer weiß das FBI nicht, wer die mit Anthrax verseuchten Briefe verschickt hat. Nachdem ein Anschlag durch arabische Extremisten ausgeschlossen werden kann, bleibt nur die Vermutung, zumal der Anthrax-Stamm aus US-Labors stammt, dass der Täter aus den rechtsextremistischen amerikanischen Kreisen stammt und/oder ein Mitarbeiter der Militärlabors war/ist, in denen mit Anthrax-Kulturen gearbeitet wird. Allerdings scheint man mit der Untersuchung des Falls nicht recht weiter zu kommen. Das Interesse an dem Täter scheint überdies nach Abflauen der Panik im letzten Jahr auch nicht besonders groß zu sein.

An den Folgen der Anfang Oktober versendeten Anthrax-Briefen an die Senatoren Patrick Leahy und Thomas Daschle, Tom Brokaw von NBC, den Herausgeber der New York Post und einen Fotografen einer Boulevard-Zeitung in Florida sind bislang 5 Menschen gestorben, 13 wurden mit Milzbrand infiziert. Die Anthrax-Sporen in den Briefen, die von Trenton, New Jersey, verschickt wurden, lagen in Form eines trockenen Puders vor und gleichen dem Ames-Anthrax-Stamm, mit dem unter anderen am "US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases" (USAMRIID), Fort Detrick, gearbeitet wurde. Angeblich sollen sie ursprünglich vom US-Landwirtschaftsministerium stammen und auch an Labors in Kanada und Großbritannien verschickt worden sein. Wie viele US-Labors Bakterien dieses Stammes erhielten, ist unbekannt, die Schätzungen bewegen sich zwischen einem Dutzend und einigen Hundert (Auf der Spur der Anthrax-Briefe). Wie sich im September letzten Jahres herausstellte, forscht das US-Militär mindestens seit 1997 im Rahmen des bislang geheimen Jefferson-Projekts mit Anthrax-Kulturen, um gegen Angriffe mit biologischen Waffen gewappnet zu sein.

Wie CNN berichtet, wird dem FBI in den nächsten Tagen die Sequenzierung des vollständigen genetischen Codes des Anthrax-Stammes vorliegen, wodurch es leichter sein dürfte zurück zu verfolgen, woher dieser stammt und wann er erzeugt worden ist. Überdies soll diese Woche noch die Belohnung für Hinweise, die zu dem Täter führen, auf 2,5 Millionen Dollar erhöht werden.

Ames-Stamm

Doch auch wenn das Labor, aus dem der Stamm kommt, tatsächlich identifiziert werden kann, heißt das noch lange nicht, dass man auch dem Täter auf die Spur kommt. Offenbar ist nämlich im USAMRIID, dem Zentrum der medizinischen B-Waffen-Defensivforschung in den USA, in der Vergangenheit ziemlich geschlampert worden, wie The Hartford Courant berichtet. So sind 1991 aus dem Labor mehr als 27 Proben von möglicherweise gefährlichen Kulturen, darunter auch Anthrax-Bakterien, Hanta- und Ebola-Viren, abhanden gekommen. Ob es sich bei Anthrax-Kulturen um den Ames-Stamm handelte, ist bislang unbekannt. In dem Labor wurden bis 1969 Anthrax-Kulturen zur Entwicklung von Biowaffen gezüchtet. Dann forschte das Labor angeblich nur noch an Defensivmitteln, um Soldaten gegen Angriffe mit Biowaffen zu schützen. Bis in die 80er Jahre hinein experimentierte man hierfür auch mit Ames-Anthrax-Kulturen. Nach Angaben von damaligen Angestellten war dies der einzige Stamm, den man dort hatte.

Bei einer internen Untersuchung, die 1992 durch einen neuen Leiter durchgeführt wurde und deren Ergebnisse 1998 teilweise aufgrund einer Diskriminierungsklage des ägyptisch-stämmigen amerikanischen Wissenschaftlers Ayaad Assaad bekannt wurden, der in Fort Detrick 10 Jahre lang gearbeitet hatte, stellte sich heraus, dass nicht nur gefährliche Proben verschwanden, sondern auch Nachts heimlich im Labor gearbeitet worden zu sein scheint. Zwar wurden einige der Proben wieder gefunden, aber man weiß nicht, wo die anderen geblieben sind. Offenbar hatte es in dem Labor zu dieser Zeit Streitigkeiten und eine ungute Stimmung gegeben. Es habe fast keine Organisation und keine Verantwortungsverteilung gegeben. Assaad scheint unter anderem von dem ehemaligen Leiter gemobbt worden zu sein, der 1991 das Labor verlassen musste. Assaad meinte, damals seien die Sicherheitsvorkehrungen recht lasch gehandhabt worden, so dass es leicht gewesen wäre, Kulturen aus dem Labor heraus zu holen.

Seltsamerweise wurde Assaad nach den Anschlägen vom 11.9. am 3. Oktober, also kurz vor dem Auftauchen der Anthrax-Briefe vom FBI aufgrund eines anonymen Briefes befragt, in dem er beschuldigt wurde, ein möglicher Bioterrorist zu sein. Das FBI nahm die Beschuldigung nicht ernst, doch für Assaad könnte der Absender wegen der zeitlichen Übereinstimmung etwas mit dem Täter zu tun haben, es würde sich nach dem Inhalt des Briefes vermutlich auch um einen ehemaligen Angestellten des Labors handeln.

So verdichtet sich also die Vermutung, dass die Anthrax-Briefe von einem (ehemaligen) Mitarbeiter des US-Biowaffen-Forschungsprogramms stammen und so das Werk eines Insiders sein könnten, dem vielleicht ähnlich wie vielen Autoren von Computerviren das Ausmaß der Folgen nicht klar gewesen ist. Womöglich hat dieser auch nur die Gunst der Stunde nach den Anschlägen vom 11.9. ausgenutzt, um aus persönlichen Beweggründen einem Kollegen zu schaden - und hat dabei eine ganze Nation in Aufruhr versetzt und Panik ausgelöst. Gerade wenn dies tatsächlich so sein sollte, dann demonstriert dies, dass die Bedrohung mit den neuen, leicht herzustellenden biologischen und chemischen Waffen nicht mehr von Feinden der staatliche Ordnung ausgehen muss. Die Menschen, die mit den traditionellen Waffen nur einen relativ geringen Schaden etwa beim oft auch suizidalen Amoklaufen bewirken können, wie er ebenfalls in den USA als heimischer und unpolitischer "Terrorismus" immer wieder geschieht, haben dann möglicherweise Mittel in der Hand, um Verheerendes auszulösen. Ein Krieg gegen dieses explosive Risiko aus dem Inneren lässt sich hingegen nicht führen - und Überwachungsmaßnahmen müssten dann schon total werden, wenn der Feind von außen zu einer Spukgestalt wird.