Ausweitung der Kampfzone

Mexikos Präsident Felipe Calderón hat dem organisierten Drogenhandel den Krieg erklärt. Die Kartelle antworten mit einer Welle der Gewalt

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Verstümmelte Leichen, Hinrichtungsvideos bei YouTube und mit Eispickeln ermordete Polizisten. Die mexikanische Öffentlichkeit verfolgt seit Monaten besorgt die Eskalation in der Auseinandersetzung zwischen der mexikanischen Regierung und den "Narcos", die ihre Marktanteile im lukrativen Rauschgifthandel verteidigen.

Mehr als 2000 Menschen, darunter Richter, Staatsanwälte und Lokalpolitiker, starben in Mexiko alleine im letzten Jahr bei bewaffneten Konflikten im Zusammenhang mit dem illegalen Drogenhandel. Bis zum heutigen Tag wird die Zahl der Opfer bereits auf knapp unter 1000 geschätzt. Auch die Presse wird zunehmend in die Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Drogenkartellen und den mexikanischen Sicherheitskräften hineingezogen. Nach Angaben der Organisation "Reporters without Borders" wurden im Jahr 2006 in Mexiko neun Journalisten ermordet und drei gelten noch als vermisst (Lage der Pressefreiheit in Mexiko verschlimmert sich). Damit belegt das mittelamerikanische Land einen traurigen zweiten Platz hinter dem Irak, in dem weltweit die meisten Pressevertreter getötet werden.

Politik der harten Hand

Im Dezember vergangenen Jahres entsandte der frisch gewählte konservative Präsident Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) 8000 Mitglieder der Streitkräfte in den Bundesstaat Michoacán und ließ damit seinen Wahlversprechen von der "Wiederherstellung des Rechtstaates" erste Taten folgen. Wenig später kam es zu medienwirksamen Razzien und Festnahmen durch tausende Bundespolizisten (PFP)und Armeeangehörige in den nördlichen Grenzregionen und seit Februar dieses Jahres kontrollieren über 7000 Soldaten die Straßen des Bundesstaates Guerrero und dessen Hauptstadt Acapulco.

Am 19. Januar lieferte die mexikanische Regierung 15 hochrangige Mitglieder der Drogenkartelle an die Vereinigten Staaten aus, die dort per Haftbefehl gesucht wurden. Calderón verteidigte die nicht durch die mexikanische Verfassung gedeckte Auslieferung der mutmaßlichen Straftäter, mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Richter durch mögliche Anschläge der Drogenmafia. Auch mit der Entscheidung die Streitkräfte in den Kampf gegen den organisierten Drogenhandel mit einzubeziehen und sie Polizeiaufgaben übernehmen zu lassen, überschritt der Präsident seine konstitutionellen Rechte. Kritiker werfen ihm die Militarisierung des Landes vor und befürchten, dass sich dieser Schritt nur sehr schwer wieder rückgängig machen lassen wird.

Die Streitkräfte sind Felipe Calderóns vermeintliche Trumpfkarte bei seinem Feldzug gegen den "Narcotráfico". Sie gelten - im Gegensatz zu vielen lokalen Polizeibehörden - als weniger korrupt. Um sich ihrer Loyalität zu versichern, erhöhte der Präsident zu Beginn seiner Amtszeit kurzerhand die Bezüge der Soldaten um bis zu 30 %. Der Einsatz der Armee fordert immer wieder Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Die Rache der "Narcos"

Mexiko ist nicht nur ein bedeutender Produzent von illegalen Drogen wie Cannabis, Heroin und Amphetaminen, sondern auch das wichtigste Transitland für Rauschmittel, die zum Verkauf in den Vereinigten Staaten bestimmt sind. Die US-amerikanische Drogenbehörde (DEA) schätzt, dass 90% des in den USA konsumierten Kokains durch die Hände der vier miteinander konkurrierenden mexikanischen Drogenkartelle fließt. Nach Angaben von UNODC verbrauchen die etwa 6,5 Millionen Kokainkonsumenten in den Vereinigten Staaten rund die Hälfte der weltweiten Kokainproduktion von schätzungsweise 600 Tonnen. Bei einem durchschnittlichen Straßenverkaufspreis in den USA von 25.000 US-Dollar pro Kilo erzielen die mexikanischen Drogenkartelle so alleine durch den Kokainschmuggel Umsätze in Höhe von ca. 6,75 Milliarden US-Dollar.

Die Aktionen der Sicherheitskräfte Mexikos gegen den organisierten Drogenhandel bedrohen nicht nur dessen exorbitante Gewinne, sie haben auch endgültig das Bündnis mit der mexikanischen Staatsmacht aufgekündigt. In den siebziger Jahren begann sich Mexiko allmählich in einen "Narco-Staat" zu verwandeln. Die Kartelle kooperierten mit den lokalen Behörden, setzten Politiker, Richter und Abgeordnete auf ihre Gehaltslisten und benutzten die Polizei um Abweichler zu liquidieren. Mexikos Präsident Carlos Salinas de Gortari, von der sieben Jahrzehnte ununterbrochen regierenden "Partei der institutionalisierten Revolution" (PRI), besetzte noch zwischen 1988 und 1994 Schlüsselpositionen in der Politik und dem Militärapparat mit Mitgliedern der Drogenmafia, sein Nachfolger Ernesto Zedillo ernannte 1996 mit dem General Jesús Gutiérrez Rebollo einen hochrangigen "Narco" zum Leiter der Drogenbehörde, der besonders hart gegen das konkurrierende "Tijuana-Kartell" vorging.

Inzwischen haben sich die Strukturen des Drogenhandels tiefgreifend verändert. Aus den alten Männerbünden sind professionelle Unternehmen geworden, die zwar noch mit dem politischen System verwoben sind, aber außerhalb des staatlichen Einflussbereichs agieren. Die Gewalt- und Mordwelle der letzten Monate war eine klare Machtdemonstration der Drogenkartelle und eine Kampfansage an den mexikanischen Staat, die Presse und den jeweiligen Konkurrenten.

So befand sich unter den Opfern neben José Nemesio Lugo Félix, einem hochrangigen Ermittler der Generalstaatsanwaltschaft, der in Mexiko-Stadt in seinem Auto erschossen wurde, und einem Lokalpolitiker, dessen abgetrennter Kopf als Warnung an eine kritische Zeitungsredaktion im Bundessaat Tabasco geschickt wurde, auch ein populärer Sänger von "Narco Corridos" - Balladen die das Leben und die Taten von Drogenhändlern verherrlichen. Valentín Elizalde musste sterben weil er nach Meinung seiner Mörder das "Golf-Kartell" zu sehr gelobt und damit seine Konkurrenten beleidigt hatte. Seine Leiche wurde gefilmt und war, wie ähnliche Folter- und Hinrichtungsvideos, mehrere Tage bei dem Video-Portal YouTube zu sehen, bevor sie von den Betreibern entfernt wurden.

Technik aus den USA

Die mexikanische Regierung setzt im Krieg gegen das organisierte Verbrechen neben dem massiven Polizei- und Militäreinsatz auch auf technische Lösungen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden der USA (Die USA wollen mithören). Die mexikanischen Strafverfolger werden dank eines 3 Millionen US-Dollar teuren Abhörsystems in Kürze in der Lage sein, den Standort von Mobilfunkgeräten zu lokalisieren und die Stimmen der Anrufer zu identifizieren. Dem großflächigen Einsatz der neuen Technik steht wieder einmal die mexikanische Verfassung entgegen. Präsident Calderón will das Anzapfen von Telefonen auch ohne einen richterlichen Beschluss ermöglichen und hat eine entsprechende Anfrage an das Parlament gerichtet.

Auch die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit der US-Drogenbehörde DEA wurde von der mexikanischen Regierung bereits intensiviert. Ende Mai gab die DEA in einer Pressemitteilung den erfolgreichen Abschluss der Aktion "Jacket Racket" bekannt, in deren Verlauf mehr als 100 Personen in Mexiko, Kolumbien und den USA verhaftet wurden. DEA Agent Alan Polezak betonte in diesem Zusammenhang die "herausragende Mitarbeit Kolumbiens und Mexikos", die diesen Erfolg erst möglich gemacht habe.

Ausweg Legalisierung?

Mexikos Drogenbosse sind keine sozialen Außenseiter, sondern in vielen Fällen fest in die Gesellschaft eingebunden. Sie besetzen traditionell das politische und soziale Vakuum, das der mexikanische Staat in vielen ländlichen Gebieten und den marginalisierten Außenbezirken der Städte hinterlassen hat. Dort sorgen die "Narcos" für geteerte Straßen, bauen Schulen und Kindergärten.

Um mangelnde Unterstützung durch die lokale Bevölkerung müssen sie sich keine Sorgen machen. In einem Land, in dem 19 Millionen Menschen mit weniger als 50 Peso (ca. 3,5 Euro) pro Tag auskommen müssen und der Anbau von Mais, Bohnen und Café kaum zum Überleben reicht, ist die Versuchung groß, auf ertragreichere Produkte wie Cannabis oder Schlafmohn umzustellen und in die Dienste der Drogenmafia einzutreten. Oft haben die Betroffenen gar keine andere Wahl. Wer sich den Kartellen widersetzt muss mit dem Schlimmsten rechnen - auch das ist die Botschaft, die die "Narcos" mit ihren brutalen Gewaltakten vermitteln wollen.

Bereits im Mai letzten Jahres war die mexikanische Regierung kurz davor, den privaten Drogengebrauch in Mexiko weitgehend zu entkriminalisieren und einen Richtungswechsel in der Drogenpolitik zu vollziehen, aber ein überraschender Rückzieher des damaligen Präsidenten Vicente Fox (PAN) vereitelte die Umsetzung des Gesetzesvorhabens (Update: Der mexikanische Präsident unterzeichnet das Drogengesetz doch nicht). Grund für den plötzlichen Sinneswandel war wohl ein energisches Veto der Washingtoner Regierung unter George W. Bush, die in ihrem "Anti-Drogen-Krieg" repressiven Mitteln den Vorzug gibt.

Einen erneuten Vorstoß zur Legalisierung - in Mexiko und den USA, dem Hauptabnehmer für mexikanische Drogen - wird es unter Felipe Calderón nicht geben. Statt auf die Beseitigung der sozialen und gesellschaftlichen Ursachen des organisierten Drogenhandels setzt der Präsident weiterhin auf militärische Aktionen und hat nach Ansicht von Kritikern einen Krieg begonnen, den er so nicht gewinnen kann. Das ahnt inzwischen wohl auch Felipe Calderón. In einem Interview sagte er kürzlich: "Es ist ein Krieg, zu dem es keine Alternative gibt. Er wird wohl länger dauern als meine Amtszeit."