Auszählungskrimi im UK

BBC sieht Tories ohne absolute Mehrheit - Corbyn fordert May zum Rücktritt auf

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Bei den Unterhauswahlen im Vereinigten Königreich haben die regierenden Tories unter ihrer neuen Premierministerin Theresa May zwar ihre Position als stärkste Partei behauptet, müssen aber um die absolute Mehrheit zittern, die sie vorher hatten. May hatte die Parlamentswahl eigentlich angesetzt, weil sie sich anhand der Umfragen im April einen deutlichen Ausbau dieser absoluten Mehrheit erhofft hatte.

Bereits jetzt steht fest, dass die Wahl für Oppositionsführer Jeremy Corbyn ein Erfolg war: Unter seiner Führung konnte die Labour-Führung deutlich an Stimmen hinzugewinnen, was seine Position in der Partei (wo ihm seine Gegner vor allem das Argument der "Unwählbarkeit" für die Mitte entgegengehalten hatten) gefestigt haben dürfte: Die Personen, die Labour unter Tony Blair führten, sehen sich dort nun in einer ähnlichen Außenseiterposition wie sie Corbyn und seine Anhänger damals einnahm - und müssen sich überlegen, ob sie mit ihren Drohungen, sich woanders eine politische Heimat zu suchen, ernst machen.

Demenzsteuer und Polizistenstellen

Dass Labour dazugewinnen konnte, lag vor allem an Fehlern der Tories, die aus einer selbstbewussten Position heraus in ihrem Wahlmanifest forderten, dass Demente zur Finanzierung ihrer Pflege ihre Häuser verkaufen müssen. Das kam in einer Wählerschaft, bei der der Hausbesitz der Normalfall und das Wohnen zur Miete die Ausnahme ist, gar nicht gut an. Weder bei älteren Menschen noch bei ihren Erben. Ein Zurückrudern Mays in dieser Frage überzeugte die Wähler offenbar nicht vollständig davon, dass sie diesen Plan wirklich aufgegeben hat.

Ein anderes Thema, das heiß diskutiert wurde, war die Frage, warum die britischen Sicherheitsbehörden den Manchester-Bomber Salman Abedi und die drei London-Bridge-Massaker-Täter nicht überwachten, obwohl sie mehrfach über deren Dschihadismus informiert wurden. Dabei kam heraus, dass die Tories seit ihrer Regierungsübernahme 2010 nicht nur 20.000 Polizistenstellen abgebaut und das Polizeibudget in diesem und im letzten Jahr um 330 Millionen Pfund gekürzt hatten, sondern die verbliebenen Ressourcen häufig auch gegen so genannte "Hate-Speech"-Äußerungsdelikte anstatt gegen Dschihadisten einsetzten (vgl. Hate-Speech-Hubschraubereinsatz statt Terroristenüberwachung).

Die Labour Party forderte dagegen 10.000 neue Streifenpolizisten für England und Wales, die mit einer Anhebung der Kapitalertragssteuer finanziert werden sollten, und scheute sich nicht, die Wähler darauf aufmerksam zu machen, dass vor allem die schwere Gewaltkriminalität fast überall im Land massiv zugenommen hat. Außerdem tauschte die Partei kurz vor der Wahl ihre umstrittene innenpolitische Sprecherin Diane Abbott aus. Ihre Aufgaben übernahm die polizeipolitische Sprecherin Lyn Brown.

Koalition aus Tories und nordirischen Protestanten?

Einer Prognose der BBC nach könnten die Konservativen acht ihrer bislang 330 Mandate verlieren - und damit auch ihre absolute Mehrheit, die theoretisch bei 326 Sitzen liegt. Praktisch liegt sie allerdings eher bei 323, weil die katholischen Separatisten der nordirischen Sinn Féin ihre Sitze generell nicht einnehmen (vgl. UK: Debatte um Labour-Duldung durch Sinn Féin). Selbst wenn die Tories etwas darunter liegen würden, könnten sie mit den Stimmen der nordirischen Protestanten von der DUP regieren, die in der Vergangenheit regelmäßig mit den Konservativen stimmten und bereits ihre Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit erklärt hat. Sie wurden Nachwahlbefragungen nach acht bis zehn Sitze stark.

Eine Zusammenarbeit der Tories mit den Liberaldemokraten, die von 2010 bis 2015 mit ihnen regierten, ist dagegen unwahrscheinlich, weil sich diese Partei gegen den Brexit-Volksentscheid sperrt. Ihre Sprecherin schloss heute früh eine erneute Zusammenarbeit aus. Eine Koalition der Labour Party mit den Liberaldemokraten, der Scottish National Party (die deutlich verlor), der walisischen Plaid Cymru, der gemäßigt-katholischen nordirischen SDLP (die möglicherweise alle ihre Mandate verliert) und der einsamen Grünen-Abgeordneten im Parlament hätte der BBC-Prognose nach keine Mandatsmehrheit.

Tritt May zurück?

Corbyn wird also wahrscheinlich nicht neuer Premierminister, meinte aber heute Nacht, das Bild, das sich abzeichnete, sollte für May "ausreichen, um abzutreten". Diese Meinung gibt es auch unter den Tories - zum Beispiel beim ehemaligen Finanzminister George Osborne der verlautbarte: "Wenn [May] ein schlechteres Ergebnis als vor zwei Jahren hat und fast keine Regierung bilden kann, dann bezweifle ich, dass sie auf lange Sicht Parteichefin der Konservativen bleiben wird." Der Labour-Vize Tom Watson glaubt allerdings nicht, dass jemand wie Osborne Mays Nachfolger wird, sondern sieht stattdessen Außenminister Boris Johnson "seine Messer wetzen". May selbst sprach etwas kryptisch davon, dass die Tories immer noch die stärkste Partei geblieben seien und damit den Auftrag hätten, "für Stabilität zu sorgen".

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