Autisten am Arbeitsplatz
Interview mit Roman Hinz, ehemaliger Leiter der auticon-Niederlassung in Berlin, die mit Erfolg im Kernbereich nur Autisten einstellt
Das Unternehmen auticon stellt im Kernbereich nur Autisten ein. Menschen, die mit dieser Einschränkung leben, haben besondere Fähigkeiten, über die Roman Hinz, ehemaliger Leiter der auticon-Niederlassung in Berlin, mit Dominik Irtenkauf spricht. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Interviews ist Heike Gramkow, als Mitglied der Geschäftsleitung auticon, verantwortlich für die Niederlassung in Berlin. Auticon spezialisiert sich im Feld der IT-Beratungen und IT-Dienstleistungen. Wenn der Gedanke auch nahe liegt, werden die autistischen Mitarbeiter nicht zu Informatiknerds, die in der Isolationskabine am Joypad werkeln. Ganz im Gegenteil begeben sich die auticon-Berater mitten in die Welt da draußen, so offen und unvorhersehbar sie auch ist.
Ihr Unternehmen auticon stellt ausschließlich Autisten ein?
Roman Hinz: Auticon ist das erste und einzige Unternehmen, das Asperger-Autisten als IT-Consultants einsetzt. Wir haben natürlich im Back-Up im Bereich IT, Marketing und Personal auch Kollegen, die nicht aus dem autistischen Spektrum sind. Aber das Kerngeschäft wird ausschließlich von Menschen aus dem Autismus-Spektrum, insbesondere Asperger-Autisten, erledigt.
Das stellt sicher vor besondere Herausforderungen?
Roman Hinz: Wir haben seit 2011 an den Standorten zwei, ich nenne das mal: Imperative, die sicherstellen, dass die Kollegen im Feld, also bei Kunden vor Ort, eine erfolgreiche Arbeit machen können. Das sind zum einen die Jobcoaches, die unsere Kollegen begleiten. Ich sage mit Absicht nicht "betreuen", weil wir arbeiten ja mit erwachsenen Menschen zusammen und das klingt immer ein bisschen wie Behindertenwerkstatt. Wir sind aber ein wirtschaftlich interessiertes Unternehmen und die Jobcoaches stellen sicher, dass sie das Arbeitsumfeld beim Kunden ausloten, ob dieses in Übereinstimmung mit den Einschränkungen des autistischen Kollegen in Ordnung geht.
Welche Einschränkungen wären das
Roman Hinz: Alle Autisten, die wir hier beschäftigen, haben eine Reizschwäche, d.h. sie können äußere Geräusche ganz schlecht verarbeiten. Deshalb sorgt man bereits im Vorfeld dafür, dass das Licht zum Beispiel nicht zu grell ist oder dass ein Kollege, der Probleme mit Geräuschen hat, nicht direkt im Großraumbüro sitzt.
Welche weiteren Probleme stellen sich?
Roman Hinz: Weiterhin übernehmen die Coaches auch Aufgaben im kommunikativen Bereich, d.h. sie gehen auch vorher zum Kunden und klären diesen im Umgang mit Autismus auf. Was erwartet diesen Kunden im Umgang mit autistischen Mitarbeitern und Kollegen? Welche Besonderheit gibt es, wie geht man damit um? Für das Alltagsgeschäft sind die Jobcoaches auch verantwortlich. Zum Beispiel kümmern sie sich um Kollegen, die an einem anderen Ort als dem Heimatort untergebracht sind. Sie sorgen dafür, dass alles, was Reisen, Organisation, Administration betrifft, von den Kollegen fern gehalten wird. Dass sich diese Kollegen ausschließlich auf ihre Aufgaben beim Kunden konzentrieren können.
Ist das denn ausreichend?
Roman Hinz: Der zweite wichtige Punkt sind unsere Projektmanager, die fachlich auf Augenhöhe die Kollegen begleiten. Und ich spreche hier auch bewusst von begleiten - so viel, wie nötig, und so wenig, wie möglich. Manche Kollegen bedürfen nur ganz wenig Begleitung, andere brauchen mehr. Wir sind auf Kollegen von beiden Enden des Spektrums eingerichtet und können so auch die Methodik anwenden, die ursprünglich angedacht war.
Gibt es auch Schwierigkeiten im Kundenkontakt?
Roman Hinz: Wenn die Skills mit der Umgebung nicht passen, dann wird das Projekt auch nicht erfolgreich durchgeführt. Alle unsere Autisten haben eine so genannte Spezialbegabung - das muss bei uns die Informationstechnologie sein, weil wir das auch anbieten und dann in Abhängigkeit von den verschiedenen Service-Clustern, die wir anbieten, bezieht sich das auf Qualitätsmanagement, Entwicklung, Big-Data-Teams, auf Teams der Künstlichen Intelligenz. Während der Projektdauer stellen die Projektmanager dann die Kollegen auch fachlich sicher, dass die Meilensteine, die mit dem Kunden vereinbart wurden, eingehalten werden. Das ist gar nicht so unterschiedlich zum normalen Markt, nur haben wir eine viel engere Begleitung der Kollegen als es im klassischen Beratungsunternehmen üblich ist.
Ich kann mir vorstellen, dass viele Autisten arbeitslos bleiben.
Roman Hinz: Die Einschränkung im sozial-kommunikativen Bereich, und ich sage absichtlich nicht Behinderung, auch wenn Autismus als Behinderung zählt, ist genau der Punkt, warum selbst 80% der hochbegabten Asperger-Autisten mit zum Teil Promotionsstudium im ersten Arbeitsmarkt keine Verwendung finden, weil nämlich diese zwischenmenschlichen Konnotationen nicht funktionieren. Also das, was wir im Alltag an Floskeln nutzen, an Politik, was nicht mal wertend gemeint ist, bekommen Autisten nicht hin.
Ein Beispiel?
Roman Hinz: Wenn sie zum Beispiel jemanden in Köln oder Düsseldorf fragen: Wie isset?, dann wissen wir genau, was von uns erwartet wird. Der Kollege wird Ihnen vielleicht keine Antwort darauf geben, weil es ihm zu unspezifisch ist.
Ich habe nach dem letzten Weihnachtsfest einen Kollegen gefragt, warum er uns nie ein frohes Weihnachtsfest und gutes neues Jahr wünscht, dann sagt er mir: Warum soll ich dir ein frohes Weihnachten wünschen? Ich habe doch eh keinen Einfluss darauf. Da schmunzelt man, in der Sache hat er vollkommen Recht. Aber genau diese Zwischentöne und Konnotationen sorgen dafür, dass die autistischen Kollegen im ersten Arbeitsmarkt, auch wenn sie mal eine Anstellung gefunden haben, oft scheitern. Somit keine nachhaltige Verwendung in diesem Markt finden.
Können Sie das noch genauer ausführen?
Roman Hinz: Ein Autist geht nicht jeden Tag mit in die Kantine und erzählt nicht von zu Hause oder der Familie. Oder gibt nicht die Hand zum Gruß. Das irritiert die nichtautistischen Kollegen.
Das ist genau die Aufgabe unserer Jobcoaches, im Vorfeld diese Verhaltensweisen dem Kunden zu erklären und das Team, das mit den Kunden zu tun hat, vorzubereiten, was sie erwartet. Die Skepsis in Neugierde umzuwandeln. Das ist das Spannende, warum dies unseren Kollegen von Tag zu Tag aufs Neue gelingt.
Wie sieht das bei Ihnen persönlich aus?
Roman Hinz: Ich arbeite seit 20 Jahren in IT und Kommunikation, seit zehn Jahren kennt man das Wort "Inklusion". Ich hätte nie geglaubt, dass ich mein Bedürfnis, mich für nachhaltige soziale Themen einzusetzen, mit meiner beruflichen Expertise verknüpfen könnte. Ich hatte Respekt davor, was mich in der internen Kommunikation mit autistischen Kollegen erwartet, aber ich darf Ihnen eins sagen: Der Umgang und Kontakt mit den autistischen Kollegen ist einfacher als mit neurotypischen Kollegen. Neurotypisch nennt man alle, die nicht autistisch sind.
Inwiefern ist das einfacher?
Roman Hinz: Sie müssen einfach immer authentisch sein, weil Sie immer daran gemessen werden, was Sie sagen und tun. Wenn Sie dreimal etwas sagen und nicht tun, dann ist das Vertrauen verspielt. Der Umgang mit autistischen Menschen schärft die Kommunikation und die Wahrnehmung von Kommunikation. Sie müssen darauf achten: Was sagen wir wie? Wie ernst meinen wir es damit?
Keiner unserer Kunden beauftragt uns, weil wir Autisten beschäftigen. Das ist ein einfacher und guter Zugang zu Kunden, aber letztendlich werden wir an der Wertschöpfung gemessen, die wir liefern. Deshalb funktioniert das Geschäftsmodell nun auch seit knapp sieben Jahren, weil wir wirklich eine bessere Qualität abliefern. Die vermeintliche Schwäche wird in eine Stärke umgewandelt.
Das ist ja auch ein Grundgedanke der Inklusion. Es wäre natürlich auch interessant, zu erfahren, wie der Inklusionsgedanke in Ihrer Unternehmenskultur auch auf andere Betriebe möglicherweise abfärbt.
Roman Hinz: Ich habe ein schönes Beispiel, das ein wenig heraus sticht. Zu Beginn dieses Jahres habe ich einen Kunden in Niedersachsen gehabt, der hatte eine unserer Mitarbeiterinnen über sechs Monate beschäftigt. Dann war das Projekt zu Ende. Nach diesen sechs Monaten hat er die Stelle der Mitarbeiterin um einen weiteren Monat verlängert, weil er festgestellt hat, dass sich die Kommunikation in dem Team, in dem die Kollegin aus dem autistischen Spektrum gearbeitet hat, deutlich verbessert hat.
Zwei Personen in dem Team hatten immer wieder Probleme miteinander gehabt, mit der Positionierung im Team und das hat sich wohl innerhalb dieser sechs Monate komplett aufgelöst. Wie gesagt: sich darauf einzulassen und vielleicht das eine oder andere anzunehmen, schadet nicht. Auch ich habe in den letzten zwei Jahren bei auticon viel dazu gelernt. Ich lerne auch heute noch jeden Tag dazu. Nicht nur fachlich, sondern auch in der Menschlichkeit, die mir jeden Tag begegnet.
Vorurteile bleiben aber schon bestehen?
Roman Hinz: Wenn jemand sagt, Autisten hätten keine Gefühle, dann kann ich das aus meinem Arbeitsalltag nicht bestätigen. Sie zeigen sich vielleicht anders. Sie haben vielleicht auch keine Empathie. Das ist das, was vielen Autisten fehlt. Aber sie haben genau so Gefühle wie jeder andere auch. Aus meiner Sicht ist das ein Vorurteil, das sehr viele haben, das ich aber nicht bestätigen kann.
Haben denn Autisten aus der Beschäftigung bei auticon auch Vorteile für ihr eigenes Leben ziehen können?
Roman Hinz: Ein Mitarbeiter feierte bereits sein fünfjähriges Jubiläum, er kam 2011 zu auticon. Der war mit 31 verrentet und hatte drei Betreuer für unterschiedliche Lebensbereiche, hatte in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Dieser Mann hat über zwei Jahre bei der Telekom in einer leitenden Funktion gearbeitet. Es hat über ein Jahr gedauert, ihn aus der Rente rauszuholen, weil es im deutschen Gesetz nicht vorgesehen ist, dass jemand, der schon mal in Rente ist, wieder in Arbeit kommt. Er hat heute keine Betreuer mehr, er lebt in einer ganz normalen Beziehung mit einer Partnerin. Das wäre ohne auticon so nicht möglich gewesen, behaupte ich mal. War aber auch ein Prozess.
Trotzdem ist sicher noch sehr viel zu tun?
Roman Hinz: Ja. Denn auf der anderen Seite haben wir ganz viele gebrochene Biographien, die immer wieder gescheitert sind, in ihrer Ausbildung, in der universitären Entwicklung oder auch in der Beziehung, die durch auticon das erste Mal in ihrem Leben nicht nur eine Anstellung finden, sondern auch echte und verlässliche Ansprechpartner. Somit auch eine Selbstsicherheit.
Es geht also nicht nur um den Job?
Roman Hinz: Letztendlich geht es darum: Was sind wir wert in der Gesellschaft? Wir wissen, wer keinen Job hat, fühlt sich einfach minderwertig. Es sei denn, er möchte nicht arbeiten. Alle unserer Kollegen möchten jedoch arbeiten. Auticon ermöglicht den Kollegen, genau ihren Teil an der Gesellschaft zu erfüllen und somit ihnen auch das Selbstwertgefühl und diesen Wert zurückzugeben, der ihnen über Jahrzehnte genommen wurde.
Das ist eine ganz wichtige Begleiterscheinung. Deshalb haben wir auch eine geringe Fluktuation. Wir haben natürlich ab und an mal Abwerbungen. Das ist zwar schade. Aber das Schöne daran ist, dass viele der Kollegen, die gehen - mit einigen Ausnahmen -, auch wieder zurückkommen (lacht), weil sie sehen, dass es mit der anderen Methodik auf dem ersten Arbeitsmarkt doch nicht so gut funktioniert. Ich möchte aber nochmals anmerken, dass unsere autistischen Kollegen alle bei Kunden in hybriden Teams vor Ort arbeiten. Da sitzt keiner im stillen Kämmerlein. Auf solche Weise entwickeln sich die Leute weiter.
Auticon wurde 2011 als social enterprise, als sozial bewusstes Unternehmen gegründet, das neben der Gewinnabsicht ein soziales Ziel, nämlich die Inklusion autistischer Menschen in den Arbeitsalltag anstrebt. Dirk Müller-Remus gründete das Unternehmen, weil sein Sohn zum Autisten-Spektrum gehört und die mangelnden Karrierechancen den Vater störten. Auticon arbeitet mit internationalen Auftraggebern zusammen und befördert durch die ausführlichen Briefings der Unternehmen ein breiteres Bewusstsein über die Stärken und Schwächen autistischer Menschen.
Das Interview wurde, weil Roman Hinz inzwischen die Firma verlassen hatte, aufgrund von Missverständnissen falsch zugeordnet. In der Eile wurde manche Mail nicht geschrieben! Dafür entschuldigt sich der Autor bei den Lesern und Betroffenen. Vielen Dank für die Hinweise!
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