Autobahnblockaden bringen Grüne in die Zwickmühle
Spitzen-Grüne winden sich angesichts des zivilen Ungehorsams auf deutschen Straßen – schließlich wird dort nicht mehr gefordert, als sie im Wahlkampf in Aussicht gestellt haben
Mehr als 120 Festnahmen gab es mittlerweile wegen der Autobahnblockaden, mit denen die Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" ein "Essen-Retten-Gesetz" als wirksame Sofortmaßnahme gegen den Klimawandel durchsetzen will. Zum Teil seien dieselben Personen schon mehrfach festgenommen worden, teilte die Pressesprecherin der Kampagne, Carla Hinrichs, am Dienstag auf Nachfrage mit. 70 bis 80 Menschen seien regelmäßig dabei, "Tendenz steigend".
An den Anschlussstellen der Berliner Stadtautobahn A100 genügen jeweils acht bis zehn Personen für eine Blockade – die müssen allerdings Nerven haben, denn sie werden mit Wutausbrüchen und zum Teil auch mit Handgreiflichkeiten von Autofahrern konfrontiert.
Schwerpunktmäßig in und um Berlin halten sie seit gut zwei Wochen immer wieder den Verkehr auf – mit einer Unterbrechung anlässlich der Trauer nach dem Doppelmord an zwei Polizeibeamten bei Kusel: "Wir wollen ein gewaltfreies Miteinander. Wir wollen Sicherheit für jede und jeden in unserem Land - ob sie Uniform tragen oder nicht", hatte die Gruppe am 1. Februar erklärt. "Wir respektieren die Notwendigkeit öffentlicher Ordnung. Die aktuelle fossile Ordnung ist jedoch keine Ordnung, sie ist Chaos."
Die Aktiven berufen sich auf Paragraph 20a des Grundgesetzes, wonach der Staat "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen hat.
Ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung, das die Supermärkte verpflichtet, unverkaufte Lebensmittel zu spenden, statt sie wegzuwerfen, wäre aus ihrer Sicht ein erster wichtiger Schritt – noch dazu ohne Finanzierungsproblem. Darauf müssten eine klimagerechte Agrarwende und weitere Schritte folgen. Sie argumentieren unter anderem mit einer Studie der Vereinten Nationen, die 2018 ergab, dass bereits in 60 Ernten ein "Boden-Burnout" droht.
Dass sie dafür Individualverkehr zu blockieren, ist bereits auch ein Statement für eine Verkehrswende, wobei sie betonen, dass es nicht darum gehe, den einzelnen Autofahrer als Feind zu betrachten – und auch nicht die Einsatzkräfte, die sie teils rabiat von der Straße entfernen. Bisher seien aber alle Festgenommenen innerhalb von 48 Stunden wieder freigelassen worden, so die Pressesprecherin.
Vorgeworfene Polizeigewalt soll nicht angezeigt werden
Zwischenzeitlich warfen die Aktiven der Polizei Misshandlungen beim Räumen der Blockade vor, die Rede war von Schmerzgriffen und Hauptverletzungen beim Einsatz von Skalpellen, nachdem sich manche von ihnen auf der Fahrbahn festgeklebt hatten. Ein Sprecher der Berliner Polizei konnte das gegenüber Telepolis weder bestätigen noch dementieren, hielt aber für möglich, dass dies im Zusammenhang mit einem Rettungseinsatz passiert sein könnte. Man werde die Vorwürfe "prüfen", so der Polizeisprecher am Montag. Im Normalfall benutze die Polizei bei solchen Protestformen Lösungsmittel.
Anzeige wegen Körperverletzung im Amt wollten die Betroffenen aber laut Carla Hinrichs auch nicht erstatten: "Wir haben kein Interesse daran, solche Verfahren zu führen. Wir richten uns ganz klar an die Bundesregierung mit unserem Anliegen, unser Überleben zu sichern", betonte sie gegenüber Telepolis und widersprach dem Gerücht, dass durch eine der Blockaden ein Rettungseinsatz behindert worden sei. "Bei all unseren Blockaden gibt es immer eine Rettungsgasse, die ist vom Aktionskonsens vorgesehen", erklärte sie.
"Klimakanzlerin" auf Abwegen
Für grüne Spitzenpolitikerinnen als Teil einer Regierungsfraktion im Bund ist das kein angenehmes Thema: Während Annalena Baerbock, die im Wahlkampf noch "Klimakanzlerin" werden wollte, sich nun als Außenministerin mit Flecktarn-Helm in der Nähe der russischen Grenze fotografieren lässt, versucht die neue Ko-Parteichefin Ricarda Lang bei der Umwelt- und Klimabewegung gut Wetter zu machen.
Lang äußerte am Wochenende Verständnis für die Proteste, rief aber gleich vorsorglich zur Mäßigung auf: "Ich halte zivilen Ungehorsam dann für ein legitimes Mittel des politischen Protests, wenn er eben friedlich vonstatten geht", sagte Lang dem Tagesspiegel. "Dahinter steckt eine große Sorge um die Zukunft", so die 28-jährige. Die Aufgabe der Politik sei es daher, nun Verantwortung zu übernehmen. "Also alles tun, um beim Klimaschutz endlich auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen", sagte Lang mit Blick auf das Pariser Klimaschutzziel.
Für realistisch halten die Beteiligten der Autobahnblockaden aber eher nur noch eine Begrenzung auf knapp unter zwei Grad – im günstigsten Fall, wenn ihre Forderungen schnellstmöglich erfüllt werden. Die 1,5-Grad-Erwärmung könnte bereits 2030 erreicht werden. Mit den im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP vorgesehenen Maßnahmen würde aber auch kein fairer deutscher Beitrag zur Begrenzung auf zwei Grad geleistet. Dort ist von einem "technologieoffenen" Weg zur Klimaneutralität bis spätestens 2045 die Rede.
Der Berliner CDU-Fraktionschef Kai Wegner hatte vergangene Woche in einer Pressemitteilung gegen die Autobahnblockaden gewettert: "Hier handelt es sich nicht um legitimen demokratischen Protest, sondern um eine unmögliche Aktion von verblendeten Möchtegern-Revolutionären." Wegner behauptete glatt, damit werde "das eigentliche Anliegen, die Berlinerinnen und Berliner für den Klimaschutz zu sensibilisieren, völlig diskreditiert". Die Akteure müssten zur Verantwortung gezogen werden.
Berlins grüne Umwelt- und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch drückte sich weniger feindselig aus, warf den Beteiligten aber indirekt Eigen- und Fremdgefährdung vor. Sie teile die Inhalte der Proteste, bei denen es um Klimaschutz und um Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung gehe, sagte Jarasch am Dienstag nach einer Senatssitzung laut Agenturberichten.
Sie teile auch die Dringlichkeit, die aus dieser Protestform spreche. "Allerdings würde ich mir doch sehr wünschen, dass Protestformen gewählt werden, mit denen man weder sich selbst noch andere in Gefahr bringt", wurde Jarasch zitiert.
Hinter den Kulissen dürfte bei den Grünen heftig diskutiert werden: Für sie geht es bei dieser Auseinandersetzung um die Reste ihrer Glaubwürdigkeit, von der sie als ehemalige Partei der Friedensbewegung schon viel verloren haben. Mit dem Schwerpunkt Umwelt- und Klimapolitik sind sie 2021 in den Bundestagswahlkampf gezogen – und mit der Aussage, dass diese Legislaturperiode die letzte sei, in der noch effektiv das Schlimmste verhindert werden könne.
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