"Automatisierte umfassende Einkommensprüfung" statt "Bedürftigkeitsprüfung"
Die Große Koalition hat sich auf einen Kompromiss zur Grundrente verständigt
Kurz vor der Entscheidung über neue SPD-Vorsitzende hat die Große Koalition einen Stolperstein zu ihrer Fortführung aus dem Weg geräumt: Gestern Abend einigten sich Vertreter von CDU, CSU und SPD darauf, statt der von den Unionsparteien verlangten und von den Sozialdemokraten abgelehnten "Bedürftigkeitsprüfung" eine "umfassende Einkommensprüfung" zur Voraussetzung für die Auszahlung einer zehn Prozent über der minimalen "Grundsicherung" liegenden "Grundrente" ab dem 1. Januar des nächsten Bundestagswahljahres 2021 zu machen.
Eine "umfassende Einkommensprüfung" soll SPD-Politikern zufolge weniger "bürokratisch" sein als eine "Bedürftigkeitsprüfung", weil sie automatisiert durch einen Datenabgleich der Finanzbehörden mit der Rentenversicherung erfolgt. Melden die Finanzbehörden ein Gesamteinkommen über monatlich 1.250 Euro bei Alleinstehenden (beziehungsweise 1.950 bei Ehepaaren) erhält ein sonst Anspruchsberechtigter keinen zehnprozentigen Aufschlag, auch wenn er alle anderen Bezugsvoraussetzungen erfüllt.
"Minijobber" wurden aus dem Kreis der Bezugsberechtigten herausgenommen
Diese anderen Bezugsvoraussetzungen sind eine mindestens 35-jährige Einzahlungsdauer in die Rentenversicherung (wobei Erziehungs-, Pflege- und Krankheitszeiten angerechnet werden) und eine "Beitragsleistung unter 80, aber über 30 Prozent des Durchschnittseinkommens". Durch die 30-Prozent-Grenze sollen so genannte "Minijobber" aus dem Kreis der Bezugsberechtigten herausgenommen werden. Dadurch (und durch die oben aufgeführten Gesamteinkommensgrenzen) verkleinert sich der Kreis der Aufschlagsbezieher von den vom SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil im Februar genannten drei auf 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen. Die voraussichtlichen Kosten für die Mehrauszahlungen an sie schätzte CSU-Chef Markus Söder gestern auf eine bis eineinhalb Milliarden Euro pro Jahr.
Weniger Medienaufmerksamkeit bekam gestern und heute ein anderer Teil der Einigung: Bezieher einer Betriebsrente sollen künftig nur mehr auf den Betrag ihrer Betriebsrente Krankenversicherungsbeiträge zahlen müssen, der über 155,75 Euro monatlich liegt. Unter der bisherigen Regelung, die sich die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder 2004 ausgedacht hatte, müssen Betriebsrentner ihre Rente nicht nur doppelt versteuern, sondern auch den doppelten Krankenkassenbeitrag dafür zahlen. Und zwar auf die gesamte Betriebsrente, wenn diese auch nur einen einzigen Cent höher als die Freigrenze ist.
Zog ihr Arbeitgeber die Betriebsrente in Form einer Entgeltumwandlung ein, werden sie sogar drei Mal benachteiligt: Dann bekommen sie wegen eines formal niedrigeren Bruttoeinkommens nämlich auch noch eine niedrigere gesetzliche Rente.
Merkel wollte an Schröders Betriebsrentenregeln festhalten
An diesen rot-grünen Regelungen wollte den Informationen des Portals Finanzen.de vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel festhalten. Die Abmilderung, die sie nun hinnehmen musste, sieht vor, dass statt der bisherigen "Freigrenze" ein "Freibetrag" gilt. Was ähnlich klingt, hat in der Praxis sehr unterschiedliche Auswirkungen:
Anstatt etwa 10.000 Euro Krankenversicherungsbeiträge auf 50.000 Euro Betriebsrente werden Finanzen.de künftig nur noch etwa 5.900 Euro Krankenversicherungsbeitrag fällig. Die 1,2 Milliarden Euro, die die Krankenkassen künftig von solchen Betriebsrentnern weniger kassieren, sollen sie sich über Zusatzbeiträge von diesen und anderen Beitragszahlern wiederholen.
Lindner: "Willkürrente" für Scholz
Politiker aller drei Koalitionsparteien lobten den Kompromiss gestern und heute öffentlich. Die kommissarische SPD-Vorsitzende Maria Luise Dreyer betonte dabei vor allem, dass Rentner durch den Datenabgleich von Versicherung und Finanzämtern keine zusätzlichen Anträge stellen müssten. Der CSU-Vorsitzende Markus Söder hob dagegen hervor, damit sei "sichergestellt, dass die Grundrente denjenigen zugutekommt, die sie brauchen". Damit, so Söder, sei "die Halbzeitbilanz der Großen Koalition abgerundet" und "die Kuh ist vom Eis". Jetzt gebe es "keinen Grund mehr, über den Fortbestand der Regierung zu diskutieren".
In den Oppositionsparteien gab man sich überwiegend anderer Ansicht: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte, aus der "Idee der Grundrente" sei "eine Willkürrente geworden", bei der Steuergeld fließe, "wo im Einzelfall gar keine Bedürftigkeit vorliegt". Dafür fielen Rentner, die weniger als 35 Jahre gearbeitet hätten, "durch den Rost". Er wertet den Kompromiss deshalb vor allem als "milliardenteure Wahlkampfhilfe für Olaf Scholz".
Lindners Linkspartei-Kollege Dietmar Bartsch bemängelte die Halbierung des ursprünglich von Heil in Aussicht gestellten Bezieherkreises, den die Grünen mit einer Verkürzung der Mindesteinzahlungszeit von 35 auf 30 Jahre wieder erweitern wollen. Und für den AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen ist "der Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung, die im Koalitionsvertrag noch vorgesehen war", ein Beleg für die "Sozialdemokratisierung der CDU", die seinen Worten nach "offenbar zu allem bereit" ist, "um die Koalition zu retten und die Macht zu erhalten".
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