Babyn Jar: Zwei Tage und zwei Jahre
Seite 2: Viele Opfergruppen
Babyn Jar (deutsch: Altweiberschlucht) ist nicht nur der Ort, an dem die Deutschen innerhalb zweier Tage die meisten Menschen während des Zweiten Weltkriegs ermordeten, sondern auch ein Ort, an dem neben dem "Holocaust durch Kugeln" auch andere Opfergruppen umgebracht wurden.
Sowjetische Kriegsgefangene
Sowjetische Kriegsgefangene wurden extrem schlecht behandelt. Wie bereits im ersten Teil der Artikelserie berichtet, waren am Kriegsende von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 3,3 Millionen verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden.
Auch in Kiew war die Überlebenschance für Gefangene gering. Rewekka Schwarzmann berichtet über eine Exekution von Kriegsgefangenen, die noch vor dem 29. September 1941 stattfand:
Ich habe gesehen, wie deutsche Wachen Kriegsgefangene über die Brest-Litowsker Chaussee jagten. Das waren Tausende - halbnackt und barfüßig, mit Schaufeln in den Händen. Es waren Ukrainer, Russen und viele Juden dabei. Sie wurden auf die Seite des Lukjanowski-Friedhofs getrieben. Die Leute warfen den gequälten, hungernden Gefangenen Brotstücke zu, aber wer sie aufhob, wurde erschossen. Die Kinder, die hinter den Kriegsgefangenen hergelaufen waren, erzählten, dass sie Gruben ausheben mussten, woraufhin die deutschen Soldaten sie erschossen und in diese Gruben geworfen hätten.
Die Gefangenenlager
"Bei der Verpflegung der bolschewistischen Gefangenen sind wir im Gegensatz zur Verpflegung anderer Gefangener an keine internationalen Verpflichtungen gebunden. Ihre Verpflegung kann sich daher nur nach den Arbeitsleistungen für uns richten", heißt es in einer Gesprächsnotiz von Hermann Göring und Herbert Backe am 16. September 1941. General Eduard Wagner, Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres, brachte die deutsche effiziente Unmenschlichkeit noch prägnanter auf den Punkt:
Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu verhungern.
Nach dem Massaker an Juden in Babyn Jar wurden bald in der Nähe Kiews mehrere Kriegsgefangenenlager eingerichtet. Das berüchtigtste Gefangenenlager war Darniza, wo Zehntausende Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht zu leben gezwungen wurden. Anatoli Kusnezow, der den wichtigen autobiografischen Roman "Babij Jar" verfasste, beschreibt das Lager:
Jeder Gefangene bekam pro Tag einen Schöpflöffel dünner Rübensuppe. (…) Kommandeure, Politleiter und Juden (…) bekamen überhaupt nichts. Sie durchwühlten die Erde und verzehrten alles, was eßbar war. (…) kauten an ihren Gürteln, Riemen und Schuhen. Nach acht bis neun Tagen lag ein Teil von ihnen im Sterben, die anderen erweckten den Anschein, als hätten sie den Verstand verloren. (…)
Die Deutschen nahmen die Eßpakete entgegen, trugen sie aber zunächst in den Wachraum, wo sie das Bessere aussonderten. Sie trugen sie aus dem Wachraum, schrien: "Brot! Brot!" und warfen die Sachen auf die Erde. (…) Die ausgehungerten Menschen rauften sich, rissen einander das Brot aus den Händen, während die Wachtposten daneben standen und laut lachten.
Kommunisten
Eine weitere Opfergruppe bestand aus Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Franz Halder, Chef des Generalstabes des Heeres, schrieb in seinem Kriegstagebuch:
Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf (…) Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz.
Kein Blatt vor den Mund nahm auch Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts, der bereits eine Woche nach Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion befahl:
Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.), soweit sie nicht im Einzelfall nicht oder nicht mehr benötigt werden, um Auskünfte in politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht zu geben, die für die weiteren sicherheitspolizeilichen Maßnahmen oder den wirtschaftlichen Wiederaufbau der besetzten Gebiete besonders wichtig sind.
Ukrainische Nationalisten
In Kiew und in Babyn Jar wurden auch ukrainische Nationalisten Opfer der deutschen Besatzer. So wurden 621 Mitglieder der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN) von den deutschen Besatzern ermordet.
Inwiefern ukrainische Nationalisten beim Holocaust im Allgemeinen und in Babyn Jar insbesondere auch Mittäter waren, ist eine extrem komplexe Frage, die gerade angesichts des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine ein politisch hart umkämpftes Thema darstellt. Es kann daher nicht verwundern, dass es gerade, weil der politische Druck auf die historische Erforschung dieser Frage so hoch ist, nur wenige differenzierte Studien gibt.
Die Tendenz, ukrainische Nationalisten pauschal als Faschisten zu bezeichnen, weil sie zu Beginn des Krieges in gewisser Weise mit den deutschen Besatzern kollaborierten, ignoriert die Tatsache, dass die ukrainischen Nationalisten verständlicherweise auf eine Befreiung durch das Dritte Reich vom Joch des stalinistischen Terrors hofften.
Die Gegentendenz, die ukrainischen Nationalisten pauschal in positives Licht zu rücken, weil sie gegen Moskau und für die Unabhängigkeit kämpften, ist in seiner Pauschalität aber ebenso verzerrt, weil es Fälle von aktiver Unterstützung der grausamen deutschen Besatzungspolitik ignoriert.
In welchem Ausmaß sich konkret in Babyn Jar unter den 300 ukrainischen Hilfspolizisten am 29. und 30. September 1941 auch ukrainische Nationalisten befanden, ist nach dem Wissensstand des Autors umstritten. Unumstritten ist, dass an den konkreten Exekutionen die Hilfspolizei nicht beteiligt war, sondern ihre Aufgabe darin bestand, Wertsachen und Kleidung der jüdischen Opfer zu sammeln und die Juden weiter in Richtung der Schlucht zu treiben.
Überlebende und Zeugen beschreiben das Verhalten der Hilfspolizei unterschiedlich. Einigen erschienen sie als gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden, andere beschreiben sie als sadistisch. Aber es sind auch Fälle von Lebensrettung bekannt. So verdankt die Familie von Viktor Alperin ihr Leben dem ukrainischen Nationalisten Roman Bida, der im Winter 1941 selber in Babyn Jar erschossen wurde.
Während die ukrainischen Nationalisten also definitiv Opfer waren und in Babyn Jar ermordet wurden, ist die Frage, inwiefern sie auch eine gewisse Mittäterschaft betrifft, extrem komplex und der Versuch einer differenzierten Antwort übersteigt, trotz einer breiten Lektüre, die Möglichkeiten des Autors.
Jeder Leser, der hierzu jedoch eine eindeutige Position zu haben vermeint, sollte sich etwas Zeit für eine Recherche nehmen. Studien anerkannter Historiker geben wichtige Argumente, die dieses scheinbar eindeutige Bild zu differenzieren helfen.
Wenig differenziert war die Haltung der Deutschen zu den ukrainischen Nationalisten und einem ukrainischen Staat. Reichskommissar Erich Koch brachte dies im August 1942 ungeschminkt auf den Punkt:
Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht, dass wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt. Diese Aufgabe muss ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt werden… Für die Haltung der Deutschen im Reichskommissariat ist der Standpunkt maßgebend, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist (…) Das Bildungsniveau der Ukraine muss niedrig gehalten werden (…) Es muss ferner alles getan werden, um die Geburtenrate dieses Raumes zu zerschlagen. Der Führer hat besondere Maßnahmen hierfür vorgesehen.
Sinti und Roma
Generalmajor von Bechtoltsheim erklärte lapidar: "Zigeuner sind beim Aufgreifen sofort an Ort und Stelle zu erschießen." Dies ist eines der wenigen Dokumente, die die Behandlung von Sinti und Roma betreffen. Massaker an Sinti und Roma dokumentierten die Deutschen zudem so gut wie nie. Eine Aussage Otto Ohlendorfs, Befehlshaber der Einsatzgruppe D, während des Nürnberger Prozesses verdeutlicht das Schicksal, das Sinti und Roma während des Zweiten Weltkrieges erwartete:
Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl.
Im Frühjahr 1942 begannen in Kiew Sicherheitspolizei und Militär mit der systematischen Ermordung der Sinti und Roma. Hier wurden mindestens 150 Menschen ermordet.
Patienten der Psychiatrie
In der Nähe von Babyn Jar befand sich eine Psychiatrie. Mitte Oktober 1941 wurden dort jüdische Patienten erschossen. Im Folgejahr kamen die deutschen Besatzer insgesamt dreimal mit einem Gaswagen dort an und ermordeten auf diese Weise alle 800-820 Patienten.
Stadtbewohner und Verbote
Bewohner Kiews konnten aber auch Opfer der Deutschen werden, ohne dass sie Teil einer bestimmten Gruppe waren. So wurden als Vergeltungsmaßnahme für Sabotageakte im Herbst 1941 einhundert, dann dreihundert und schließlich noch einmal vierhundert Bewohner, die willkürlich in der Straße aufgegriffen wurden, erschossen.
Daneben bestraften die Deutschen auch einen Verstoß gegen die Sperrstunde mit dem Tod. Es wurden auch immer wieder verschiedene Befehle veröffentlicht, deren Unkenntnis den Menschen das Leben kosten konnte. Beispielsweise, dass Taubenbesitzer an einem bestimmten Tage ihre Tauben abzugeben hatten. Anatoli Kusnezowschreibt hierzu:
In diesen Befehlen und Anordnungen drängte sich alles Wichtige zusammen, von ihnen hingen Leben und Tod ab. Nach der Tragödie der Taubenhalter wurde nur noch gefragt: Was ist der neueste Befehl?
Hungerkatastrophe
In den "Wirtschaftspolitischen Richtlinien" vom 8. November 1941 heißt es:
Versorgung der Bevölkerung: (...) Die städtische Bevölkerung kann nur ganz geringfügige Lebensmittelmengen erhalten. Für die Großstädte (Moskau, Leningrad, Kiew) kann einstweilen überhaupt nichts getan werden. Die sich hieraus ergebenden Folgen sind hart, aber unvermeidlich (...) Die in unmittelbarem deutschen Interesse arbeitenden Menschen sind durch unmittelbare Nahrungsmittelzuteilungen in den Betrieben so zu ernähren, daß ihre Arbeitskraft einigermaßen erhalten bleibt.
Tatsächlich nahm die Hungerkatastrophe in Kiew tragische Ausmaße an, die fast die Dimension der Einwohner des blockierten Leningrads erreichte, wo fast eine Millionen Menschen verhungerte. Der Hungertod ist ein ständiger Begleiter in Kiew. Eine Nahrungszufuhr aus den umliegenden Regionen untersagten die deutschen Besatzer.
Die Lehrerin L. Nartova, schreibt in ihr Tagebuch:
Die Deutschen feiern. Sie gehen alle satt und zufrieden, alle haben Lichter in den Weihnachtsbäumen. Aber wir bewegen uns alle wie Schatten, es herrscht totale Hungersnot. Die Leute kochen eine wässrige Suppe, die sie ohne Brot essen, denn Brot gibt es nur zwei Mal pro Woche, 200 Gramm. Und diese Ernährung ist das beste Szenario. Diejenigen, die etwas haben, tauschen es auf dem Land ein, aber diejenigen, die nichts haben, schwellen vor Hunger an, sie sterben bereits. Viele Menschen haben Typhus.
Zwangsarbeiter
Im Frühjahr 1942 begannen die deutschen Besatzer mit blumigen Versprechen Freiwillige aus Kiew zur Arbeit im Deutschen Reich zu gewinnen. So wurde beispielsweise im "Neuen Ukrainischen Wort" am 3. März geworben:
DEUTSCHLAND RUFT EUCH! Fahrt ins schöne Deutschland. 100.000 Ukrainer arbeiten bereits im freien Deutschland. Und du?
Menschen, die der Notlage in Kiew entkommen und an die Verheißungen glaubten, fanden sich alsbald als Zwangsarbeiter weit entfernt von ihrer Heimat wieder. Als alsbald die Freiwilligkeit endete (auch weil einige Briefe von Zwangsarbeitern an ihre Familien der Zensur entgingen und die wahren Zustände beschrieben), wurde offener Druck von den Deutschen ausgeübt. Razzien in der Stadt, panische Fluchtversuche und untröstliche Abschiede gehörten bald zum Alltag in der Stadt.
Am 13. März 1942 schrieb Nina Gerasimowa in ihr Tagebuch:
Als sich das Auto näherte, sah ich Polizisten darauf, die ein Auto voller Mädchen bewachten. Sie waren alle jung und hübsch. Sie waren leger gekleidet. Ihre Mäntel waren aufgeknöpft, fast alle ohne Kopftuch und mit wallendem Haar. Sie haben verzweifelt geweint und geschrien. Die ganze Straße wurde durch ihr Stöhnen und Schreien ohrenbetäubt.
Vor allem ein hübsches Mädchen stand an der Seite. Ihr Haar war lang, blond und windzerzaust. Sie war buchstäblich verrückt vor Verzweiflung. Das Bild war atemberaubend. Alle blieben auf der Straße stehen, als ob sie stillstehen würden. Heute wurde mir gesagt, dass sie "Freiwillige" aus der Süßwarenfabrik nach Deutschland nehmen. Die Deutschen und die Polizei nahmen die schönsten und jüngsten Mädchen ohne jede Vorwarnung mit. Was für ein Horror!
Die Wirklichkeit der Zwangsarbeiter in Deutschland beschreibt stellvertretend ein von der Zensur aussortierter Brief eines Mädchens:
Als wir vorbeigingen, schaute man uns an wie Tiere. Sogar die Kinder hielten sich die Nase zu und spuckten uns an. (…) Wir begannen zu warten, wir wollten, daß man uns möglichst schnell kauft. Wir russischen Mädchen kosten nämlich in Deutschland nicht allzu viel: für fünf Mark stand jede zur Auswahl.
Am 7. Juli 1942 kaufte uns ein Fabrikant. Um sechs Uhr abends führte man uns essen. Mami, bei uns essen die Schweine so etwas nicht, wir aber mussten das essen. (…) Liebe Mama, man behandelt uns wie Tiere. (…) Ich glaube, ich komme nicht wieder, Mami.
In Kiew hingen immer mehr Plakate, die die Altersstufen der Einwohner bestimmten, denen die Zwangsarbeit im Deutschen Reich drohte. Im Sommer 1943 schrieb ein deutscher Journalist, dass für die Ukrainerinnen eine Schwangerschaft die einzige Möglichkeit sei, sich vor der Deportation zu schützen. Allerdings wurden Frauen häufig zur Abtreibung gezwungen.
Insgesamt ereilte 120.000 Kiewer Einwohner das Schicksal der Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Zu Beginn der Besatzung schätzten die Deutschen die Bewohnerzahl auf 400.000.