Babyn Jar: Zwei Tage und zwei Jahre

Seite 3: KZ am Stadtrand

Das Konzentrationslager Syrez wurde 1942, nur wenige hundert Meter von Babyn Jar entfernt, als Nebenlager des KZ Sachsenhausen gebaut. Mehrere Tausend Menschen waren hier, direkt am Stadtrand Kiews, eingesperrt. Die grausamen Lebensbedingungen unter der Lagerleitung von SS-Sturmbannführer Paul Radomsky sind mit denen anderer KZs vergleichbar. Ziama Trubakov erinnert sich:

Wir hatten Glück, dass wir uns auf der Baustelle befanden, weit weg vom Lager: Die Situation im Lager verschärfte sich von Tag zu Tag. Radomsky wurde absolut biestig. Er wollte nicht nach Hause gehen, bevor er nicht zwei, drei Menschen erschossen hatte.

Er liebte es, früh am Morgen zu kommen und eine der Staffeln zu einem barbarisch anstrengenden Training zu zwingen. Wenn er jemanden aus irgendeinem Grund nicht mochte, hetzte er seinen Hund auf ihn. Rex stürzte sich auf ihn und riss dem armen Kerl ein Stück Fleisch vom Leib. Dann würde sich Radomsky wieder beruhigen.

Folgende Erinnerung Trubakows macht die Grausamkeit im Lager in seiner ganzen Extremität deutlich:

Brigadiere haben diese Grausamkeit erfunden: Sie wählten mehrere Gefangene im letzten Stadium der Dystrophie aus und banden sie an eine Walze, mit der unbefestigte Straßen gerammt wurden. Als einer von ihnen hinfiel und nicht mehr aufstehen konnte, befahlen sie den anderen zehn Häftlingen, ihn mit der Walze zu überfahren.

Es war eine grauenhafte Szene. Die Walze rollte immer wieder zurück und der arme Kerl schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Brigadiere wurden immer verärgerter und peitschten die Gefangenen, damit sie die Walze vorwärts zogen. Obwohl die Gefangenen ihren Kameraden von seinem Elend befreien wollten, hatten sie keine Kraft mehr, die Walze zu bewegen. Also brachten die Wachen zehn weitere Gefangene. Alle zusammen, laut weinend, ließen die Walze über den todgeweihten Mann laufen.

Sein Blut spritzte in Strömen über den ganzen Platz. Sein Leichnam wurde genau dort begraben, auf der Straße, die dann mit eben dieser Walze plattgefahren wurde... Nichts blieb von ihm übrig - nur ein flacher Fleck auf der Straße... unmarkiert... als ob er nie existiert hätte...

Erzwungene Spurenbeseitigung

327 Insassen des KZ Syrez wurden gezwungen, in Babyn Jar die Leichen zu exhumieren, auf Wertsachen zu durchsuchen und zu verbrennen. Es gibt zwei dringend empfohlene Bücher zu diesem Ereignis: Ziama Trubakovs Autobiographie: "The Riddle of Babi Yar" und "Babij Jar", herausgegeben von Erhard R. Wiehn, der die Beschreibungen weiterer KZ-Insassen beinhaltet, die die Spuren des Grauens beseitigen und aus der Geschichte tilgen sollten: Dawid Budnik und Jakow Kaper.

Neben der Exhumierung und Verbrennung der Leichen in selbst gebauten Öfen, kamen täglich sechs bis sieben Gaswagen, die je 110 ermordete Menschen transportierten. Kaper beschreibt:

Ich habe gesehen, wie ein Gaswagen in die Schlucht kam, ein paar Minuten mit laufendem Motor stehen blieb und wir dann Leichen aus dem Wagen ausladen und in den brennenden Ofen werfen mussten. Oft starben die Menschen in den Gaswagen nicht, sondern wurden lebendig ins Feuer geworfen.

Die Flucht

Die KZ-Insassen, die in Babyn Jar zur Arbeit gezwungen wurden, erkannten bald, dass sie selbst die letzten Opfer von Babyn Jar sein würden, sobald sie ihre Arbeit getan hatten. Als sie die Leichen der Psychiatrie ausgraben und verbrennen mussten, deutete ein deutscher Soldat an, dass sie am nächsten Tag exekutiert werden würden.

In der darauf folgenden Nacht, dem 29. September 1943, genau zwei Jahre nach dem Massaker von Babyn Jar, gelang es den Insassen die Tür ihrer Unterkunft zu öffnen und im Kugelhagel zu fliehen. Nur Fünfzehn von 327 überlebten.

Ende

Am Ende der Besatzungszeit lebten in Kiew noch 186.000 Menschen, also weniger als die Hälfte der Bevölkerung zu Beginn der Besatzung. Der Filmregisseur Aleksandr Dovzhenko schrieb gleich nach der Befreiung Kiews:

In Kiew gibt es praktisch keine Bevölkerung. Es gibt nur ein paar armselige, verarmte Menschen, die Hilfe brauchen. Es gibt keine Kinder, keine jungen Mädchen, keine jungen Burschen. Es gibt nur alte Frauen und Krüppel.

Juristische Aufarbeitung

1946 war das Massaker von Babyn Jar u. a. Gegenstand eines Prozesses in Kiew, in dem sich insbesondere der Höhere SS- und Polizeiführer für Russland-Süd Friedrich Jeckeln verantworten musste. Im Prozess von Nürnberg fand Babyn Jar Eingang in die Anklageschrift.

Allerdings war unter den dort Angeklagten niemand, der direkt an diesem Massaker beteiligt war. Von den SS-Führern, die direkte Verantwortung für das Massaker trugen, mussten sich dann drei in dem sogenannten Einsatzgruppenprozess, einem Nachfolgeprozess in Nürnberg, verantworten: Paul Blobel, Waldemar von Radetzky und Otto Rasch.

Paul Blobel, Befehlshaber des Sonderkommandos 4a (jenes Sonderkommandos, das u. a. am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar die Exekutionen durchgeführt hatte) machte während des Prozesses folgende menschenverachtende Aussage:

Das menschliche Leben war für sie nicht so wertvoll wie für uns. Es machte ihnen nicht so viel aus (getötet zu werden). Sie kannten ihren eigenen menschlichen Wert nicht.

Später antwortete er auf die Frage "In anderen Worten, Sie bemitleideten eher die Männer, die geschossen haben als die Opfer?":

Unsere Männer mussten versorgt werden. (…) Diese Männer haben viel durchgemacht, psychologisch.

In der DDR gab es zwar einige Prozesse wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine, es kam aber zu keiner Verurteilung für die Beteiligung am Massaker von Babyn Jar. In der Bundesrepublik dauerte es bis 1967, bis Babyn Jar im sogenannten Callsen-Prozess in Darmstadt erstmals konkret im Mittelpunkt stand.

Dort erschien mit Dina Pronicheva eine Überlebende des Massakers, die im Detail über die Grausamkeit der Exekutionen berichtete. Das mediale Interesse an dem Prozess war jedoch schlicht nicht vorhanden.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete unter der Rubrik "Zwischen Taunus und Odenwald". Einzig die Verkündung des Urteils schaffte es zu einem längeren Beitrag im Politikteil. Die Aussage von Dina Pronicheva fand allein das Darmstädter Echo einer Erwähnung wert.

Einige Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen vier und 15 Jahren. Andere wurden freigesprochen.

Die Historikerin Franziska Davies fasst die juristische Aufarbeitung in Deutschland so zusammen:

Aus den Reihen der Wehrmacht wurde niemand juristisch belangt. Aber auch die meisten Angehörigen des Sonderkommandos und der mindestens 700 Mann starken Einsatzgruppe, die an den Massenmorden beteiligt waren, blieben straffrei.