Bald EU-Aufstandsbekämpfung bei Generalstreiks und Schweinegrippe?
Mit der ausformulierten "Solidaritätsklausel" des Vertrags von Lissabon wird den EU-Mitgliedstaaten Hilfe bei "außergewöhnlichen Umständen" im Innern versprochen
Die EU-Kommission und die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik haben einen Vorschlag zur Ausgestaltung der sogenannten "Solidaritätsklausel" vorgelegt. Das Papier bezieht sich auf Artikel 222, um den es bei Verabschiedung des Vertrags von Lissabon Streit gegeben hatte. Die Organe der Europäischen Union bzw. ihre Mitgliedstaaten werden verpflichtet, einander im Falle eines Schadensereignisses zu unterstützen. Dies schließt den Einsatz polizeilicher, geheimdienstlicher und militärischer Mittel ein.
Ende Dezember haben zivil-militärische EU-Organe den längst angekündigten Gemeinsamen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Vorkehrungen für die Anwendung der Solidaritätsklausel durch die Union veröffentlicht. Hintergrund ist der fast 300 Seiten umfassende Vertrag von Lissabon bzw. der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). In den Regelwerken wird die Beistandspflicht zunächst vage umrissen, hierzu aber ein Umsetzungsbeschluss gefordert. Im AEUV trägt der Artikel die Nummer 222." Als einen der ersten Schritte waren die Mitgliedstaaten von der Kommission und dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) um Antworten auf einen Fragenkatalog gebeten worden.
Grenzenlose Bedrohungsszenarien
Im Artikel 222 geht es nicht, wie manche rechtskonservative Kritiker orakeln, um EU-Militäreinsätze im Falle abtrünniger Regierungen, wenn diese etwa die Union verlassen wollen. Denn in der "Solidaritätsklausel" wird bestimmt, dass der Einsatz im Hoheitsgebiet eines Staates nur "auf Ersuchen seiner politischen Organe" erfolgen darf.
Im jetzigen Vorschlag wird eine Beistandspflicht für "außergewöhnliche Umstände" vorgesehen. Politische Auseinandersetzungen werden zwar in den vorgeschlagenen Anwendungsbereichen der "Solidaritätsklausel" nicht eigens erwähnt. Allerdings könnte die mitgelieferte Definition einer "Katastrophe" auch Unruhen, Blockadeaktionen oder Sabotage erfassen. So jedenfalls ließe sich der Passus "jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann" interpretieren. Die ebenfalls festgeschriebene Definition einer "Krise" als Auslöser deckt alle weiteren denkbaren Bedrohungen ab, darunter jede "ernste, unerwartete und häufig gefährliche Situation, die rechtzeitige Maßnahmen erfordert" und die "wesentliche gesellschaftliche Funktionen betreffen oder bedrohen kann". Hierzu könnten auch die fortgesetzte Arbeitsverweigerung von Hafenarbeitern oder Generalstreiks gehören. Besonders wenn sich Sicherheitsbehörden an Protesten beteiligen, wäre die Handlungsfähigkeit eines Staates stark eingeschränkt. Darauf weist Ota Jaksch in einem Beitrag der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch hin. Die Mitarbeiterin der Europaabgeordneten Sabine Lösing zählt mit Griechenland und Portugal Länder auf, in denen Polizei und Militär gestreikt hatten.
Ungefragte Rückendeckung kam vom EU-Parlament. Nach einer kurzen Behandlung im zuständigen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten forderten die Abgeordneten im November, dass "keine bedeutenden Gefahren, wie Cyberangriffe, Pandemien oder Energieengpässe", vergessen werden sollten. Die Parlamentarier verweisen zudem auf "politisch motivierte Blockademaßnahmen", die hinsichtlich der "der Energiesicherheit und der Sicherheit der Versorgung mit anderen wichtigen Produkten" zu Engpässen führen könnten.
Neues Lagezentrum zur permanenten Gefahrenabwehr
Die Entschließung des Parlaments wird im ohnehin stark militärisch dominierten "Gemeinsamen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Vorkehrungen für die Anwendung der Solidaritätsklausel durch die Union" aufgegriffen. Die Kommission und der Auswärtige Dienst gehen aber noch weiter: Die Klausel soll demnach nicht nur für "Naturkatastrophen" und "Terroranschläge" auf dem Gebiet der EU (also zu Land, im Wasser, oder in der Luft) gelten. Die Beistandspflicht müsse auch auf Schiffe und Flugzeuge ausgeweitet werden, die in internationalen Gewässern bzw. dem Luftraum unterwegs sind.
Der Vorstoß geht in die Richtung der Sicherung von Handelsrouten und sogenannter "kritischer Infrastrukturen". Die Rede ist desweiteren von "Offshore-Öl- und Gas-Förderanlagen, die der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaats unterstehen". Botschaften und Konsulate werden zwar nicht genannt, ihre Einbeziehung liegt aber nahe. Weiter wird gefordert, dass die Klausel "unabhängig davon, ob der Ursprung der Krise innerhalb oder außerhalb der EU liegt" angewendet werden solle.
Die "Krisenbewältigungsmaßnahmen" des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Kommission sollen überdies in einem neuen, permanenten Lagezentrum verschmelzen. Ab 2015 soll von dort eine regelmäßige "integrierte Gefahren- und Risikoabschätzung auf EU-Ebene" vorgenommen werden. Diese vorausschauende "Schwachstellenanalyse" soll gleichzeitig Abhilfemaßnahmen umreißen und die EU-Strukturen zur Krisenreaktion festigen.
In offenen Worten wird beschrieben, wie das neue Lagezentrum den ursprünglichen Geltungsbereich des Artikel 222 verlassen soll: Denn zu dessen Aufgaben könnten "Gefahren- und Risikoabschätzungen aus verschiedenen Bereichen (z. B. Terrorismus, organisierte Kriminalität, Katastrophenschutz, Gesundheit, Klimawandel und Umwelt)" gehören. Dann kommt auch der bislang eher unsichtbare EU-Geheimdienst INT-CEN mehr zur Geltung.
Wie reagieren?
Im neuen Vorschlag wird wenig über die Form einer Unterstützung nach Artikel 222 gesagt. An mehreren Stellen wird die Möglichkeit militärischer Hilfe beschrieben. Ein Hinweis auf polizeiliche Kooperationen fehlt jedoch. Diese sind mit dem "Vertrag von Prüm" oder dem "Atlas-Verbund" von Spezialeinheiten bereits jetzt möglich und werden auch praktiziert (Ausleihe prügelnder Polizisten bald "gängige Praxis"?). Bei der EU-Polizeiagentur EUROPOL wurden überdies ein "Preparedness Programme" und ein "First Response Team" eingerichtet, die für einen etwaigen "Terroranschlag" aktiviert werden können.
In den behandelnden Ratsarbeitsgruppen wird nun darüber gestritten, ob eine sogenannte "Subsidiaritätsschwelle" für die Hilfen festgelegt werden soll. Denn die "Solidaritätsklausel" soll erst dann aktiviert werden, wenn alle eigenen Kapazitäten des anfragenden Landes ausgeschöpft sind. Aber wie soll dies bestimmt werden? In einer eigens im Vertrag von Lissabon angefügten Erklärung heißt es, dass im Falle einer Unterstützung die Wahl der Mittel den beistehenden Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Während Österreich und die Niederlande hierzu strenge Einschränkungen verankern möchten, votieren Griechenland und Italien für ein breites Anwendungsgebiet. Einige Regierungen fürchten, dass kleinere Länder die Verantwortung zum Aufbau eigener Krisenreaktionsstrukturen vernachlässigen.
Immer wieder wird kolportiert, dass die EU für etwaige Interventionen in anderen Mitgliedstaaten Kapazitäten zur Aufstandsbekämpfung aufbauen würde. Tatsächlich existiert eine derartige "Europäische Gendarmerietruppe" mit Sitz im italienischen Vicenza. An dieser EUROGENDFOR sind alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt, die Gendarmerien, also Polizeieinheiten mit militärischem Status, unterhalten.
Italien und Frankreich hatten sich vor über 10 Jahren für eine Anbindung der EUROGENDFOR an die EU stark gemacht. Mehrere Regierungen, darunter Deutschland und Großbritannien, lehnten dies jedoch ab. Die Truppe hat sich daher 2007 im Vertrag von Velsen als Einrichtung der Gründerstaaten Portugal, Spanien, Italien, Frankreich und der Niederlande konstituiert (Europäische Gendarmerietruppe wird zur kasernierten Einheit). Gleichwohl kann die EU (wie die NATO oder die UNO) von ihren Diensten Gebrauch machen. Theoretisch kann die EUROGENDFOR also im Rahmen von Artikel 222 eingesetzt werden. Denn dort heißt es: "Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel." Allerdings müsste die derzeit nicht annähernd geklärte Frage der Kostenübernahme geregelt werden.
Seit einem Einsatz beim Erdbeben in Haiti ist es zunächst still um die Gendarmerietruppe geworden (Italienische Gebirgsjäger nach Haiti). Allerdings haben mittlerweile drei sechswöchige Übungen europäischer Polizeibehörden an den Trainingsorten der EUROGENDFOR bzw. auf einem Truppenübungsplatz bei Potsdam stattgefunden. Diese "European Police Force Trainings" (EUPFT) sollten die Aufstandsbekämpfungsfähigkeiten verschiedener Länder illustrieren und auswerten. Beteiligt waren Polizisten und Gendarmen jener Einheiten, die für Einsätze im Ausland in Frage kämen (Terroralarm in Rauhberg). Insofern können diese Übungen durchaus als der Vorbereitung einer operativen Umsetzung von Artikel 222 gesehen werden.
Breites Sammelsurium an Zuständigkeiten
Die "Solidaritätsklausel" betrifft unterschiedliche Politikbereiche und wurde deshalb in mehreren Ratsgremien erarbeitet. Hierzu gehören das Politische und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK), der Ständige Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit (COSI), der Koordinierungsausschuss für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie der Militärausschuss. Die Rede war überdies von einer neuen Gruppe unter dem Namen "Friends of the Presidency on crisis coordination arrangements".
Noch steht nicht fest, welche Ratsarbeitsgruppe den "Gemeinsamen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Vorkehrungen für die Anwendung der Solidaritätsklausel durch die Union" federführend behandelt. Ähnliches Kompetenzgerangel dürfte bei deutschen Behörden beginnen, denn mittlerweile ist das Dokument offiziell bei der Bundesregierung eingegangen. Beraten wird es im Auswärtigen Amt und den Ministerien des Innern und der Verteidigung, aber auch in den Ressorts Finanzen, Umwelt, Gesundheit sowie Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Der Rat der Innen- und Justizminister der Europäischen Union wird sich am 7. März erstmals selbst mit der zivil-militärischen Offensive befassen.