Battlefield Europe
Die nationalistischen Zentrifugalkräfte in der EU gewinnen nach der Europawahl an Dynamik
Bis vor kurzen waren Europas Politeliten peinlichst darum bemüht, allen Spannungen zum Trotz die zunehmenden europapolitischen Differenzen nicht an die Oberfläche der Öffentlichkeit geraten zu lassen. Die knallharten nationalen Konflikte wurden auf diplomatischer Ebene, hinter verschlossenen Türen ausgetragen, während die Staats- und Regierungschefs die übliche europäische Harmonie simulierten.
Dies galt insbesondere für das deutsch-französische Verhältnis, für die brüchige Achse Paris-Berlin, deren Akteure vor wenigen Monaten noch als "Motor" künftiger europäischer Integration gehandelt wurden. Anfang 2018, bei der Unterzeichnung des Aachener Vertrages, gaben sich Angela Merkel und Emmanuel Macron als ein europäisches Traumduo aus, das dank dieses deutsch-französischen "Freundschaftsvertrages" mit einem Schutzschild gegen "neue Stürme" gerüstet sei, wie es etwa der Tagesspiegel formulierte.
Davon ist nach der letzten EU-Wahl kaum noch etwas übrig. Die zunehmenden nationalen Differenzen innerhalb der abgetakelten deutsch-französischen Allianz treten inzwischen offen zutage, der Kampf um den künftigen sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs der EU wird in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung steht der Posten des Präsidenten der EU-Kommission. Berlin will diese einflussreiche Machtposition mit dem CSU-Mann und EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber besetzen, Paris scheint den niederländischen Sozialdemokraten und Vizekommissionspräsidenten Frans Timmermans zu favorisieren.
Merkel erhielt Unterstützung für ihren Kandidaten vom irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar, für Timmermans hat sich Spaniens sozialdemokratischer Regierungschef Pedro Sánchez ausgesprochen, wie auch der niederländische Premier Mark Rutte - doch dies war schon im Vorfeld der Europawahl klar geworden, als Macron daran ging, offen eine Allianz gegen den Kandidaten Berlins zu schmieden.
Anfang Mai trafen sich die französischen und niederländischen Spitzenpolitiker in aller Offenheit in einem Pariser Restaurant, um ihren "Schulterschluss" zu zelebrieren, wie es die Süddeutsche Zeitung (SZ) formulierte. Rutte und Macron hätten sich verbündet, um nichts weniger als "die Macht in der Europäischen Union an sich zu ziehen", warnte das Münchener Blatt. Deren gemeinsame Gegnerin bei dem Verteilungskamp um die "einflussreichsten Posten in Brüssel" sei Angela Merkel.
Neue Allianzen
Die neue, gegen die deutsche EU-Dominanz gerichtete Allianzbildung Frankreichs umfasst nicht nur die Niederlande. In Sachen Klimapolitik konnte Paris alle Benelux-Staaten und die Skandinavier auf seine Seite ziehen, indem im Vorfeld der Europawahl eine gemeinsame Klimaerklärung veröffentlicht wurde, die für ambitionierte Klimaziele plädierte.
Dieser nicht mit Berlin abgesprochene Vorstoß gilt als ein Affront gegenüber der Bundesregierung, die bislang als Erfüllungsgehilfe der deutschen Autoindustrie jahrelang jegliche ernsthafte Klimapolitik auf europäischer Ebene verwässerte oder rundweg sabotierte (siehe hierzu: Klimapolitischer Schwindel für Fortgeschrittene). "Wir haben Berlin nicht informiert, insofern kann man nicht sagen, dass sie die Teilnahme verweigert haben", erklärte hierzu ein beteiligter EU-Diplomat.
Diese "Provokationen" (SZ) gegenüber Berlin wurden auch auf dem vergangenen Gipfel im rumänischen Sibiu fortgesetzt, wo Macron ankündigte, das von Merkel favorisierte Verfahren bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten schlicht zu ignorieren. Berlin wollte ursprünglich diesen Posten aus den Reihen der Spitzenkandidaten bei der Europawahl (also Weber) besetzen lassen. In Sibiu erklärte hingegen Luxemburgs Premier Xavier Bettel, dies sei "von Anfang an eine schlechte Entscheidung" gewesen. Macron sekundierte: "Ich fühle mich daran nicht gebunden."
Spiegel-Online erhellte in einem Beitrag über den Europawahlkampf in Frankreich die Ursachen dieser französischen "Provokationen". Hierin wurde Macron als "getrieben, gereizt, gefährlich" charakterisiert, da die Rechtspopulisten in Frankreich aufgrund seiner mangelnden europapolitischen Erfolge ihn zunehmend unter Druck setzten. Die Klimainitiative Macrons sei eine "französische Revanche gegenüber der Unterstützung, die Berlin in den letzten Jahren der Hanseatischen Liga gewährte", erklärte ein Analyst.
Hierunter ist die informelle Allianz zwischen Berlin und den skandinavischen Ländern zu verstehen, mit der die Bundesregierung die von Frankreich geforderte Erhöhung sozialer "Mehrausgaben in Europa" torpedierte. Merkel konnte schlecht direkt die ambitionierten europapolitischen Reformvorschläge Macrons abwehren, deswegen spielte Berlin dieses Spielchen über die skandinavische Bande. Nun habe Paris sich im Bereich der Klimapolitik revanchiert, wo "Macron es versteht, die ehemaligen Verbündeten der Deutschen auf seine Seite zu bringen", so SPON. Deutschland und Frankreich würden nicht mehr wie Partner agieren, sondern "wie Rivalen". Der deutsch-französische "Motor", der noch zu Jahresanfang eine neue Ära europäischer Integration einleiten sollte, er laufe nicht mehr.
Mitte Mai konstatierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) gar, dass beide ehemaligen Achsenmächte sich auf einem "Konfrontationskurs" befänden. Paris sei "bitter enttäuscht" von der deutschen Europapolitik, hieß es weiter. Nicht nur Merkels Hinhaltetaktik bei der Frage einer grundlegenden europäischen Reform, auch die offene diesbezügliche Abfuhr, die sich Macron von ihrer (einstmaligen?) Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer abholen musste, haben zur französischen Frustration beigetragen.
Nun scharre der Präsident eine neue europäische Garde von Politikern um sich, die bereit sei, "Differenzen mit der Bundesregierung offener als bislang auszutragen", hieß es in der FAZ. Etliche "Deutschland-Versteher" in der französischen Regierung hätten sich bereits verabschieden müssen aus dem "inneren Machtzirkel" um den Präsidenten. Inzwischen würde Macron eine "fruchtbare Konfrontation" mit der Bundesregierung favorisieren, als wichtigste Konfliktfelder gälten dabei die "Brexit-Verhandlungen, die Handels- und die Klimapolitik".
Warnschuss an Berlin
Macron habe angekündigt, künftig "stärker als in der Vergangenheit" zu protestieren, sobald die Bundesregierung mal wieder nationale Vorhaben europäisch verkleidet und "die EU für ihre Interessen einspannt", warnte die FAZ. Dies sei schon bei den Auseinandersetzungen um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 ein "Leitmotiv" der französischen Politik gewesen. Damals hat Paris kurzzeitig seine Zustimmung zu dem deutschen Pipelineprojekt zurückgezogen, was im Allgemeinen als ein Warnsignal an Berlin interpretiert wurde.
Als ein wichtiger Streitpunkt gelten zudem die Freihandelsverhandlungen mit den USA, wo Berlin aufgrund der hohen Exportabhängigkeit der deutschen Autoindustrie kompromissbereit ist und auf einen raschen Abschluss drängt, während Paris vor allem seinen Agrarsektor zu schützen bestrebt ist - und die Entscheidung offen kritisierte, "Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Washington aufzunehmen, obwohl Trump aus dem Pariser Klima-Abkommen aussteigt", so die FAZ. Selbstverständlich nutzt Washington diese Differenzen zwischen Berlin und Paris, um diese deutsch-französischen Konflikte zu verstärken - und beharrt bei den Freihandelsverhandlungen auf Lockerungen in eben dem Agrarsektor, den Macron nicht weiter liberalisieren will.
Den Kern des neu aufflammenden deutsch-französischen Konflikts bildet aber das exportorientierte "deutsche Wachstumsmodell", zu dem sich Macron laut FAZ zuletzt wieder "ungewöhnlich kritisch äußerte", da es sich "auf Kosten der Reformnachzügler in Südeuropa etabliert habe". Das deutsche Modell beruhe auf der Einbindung von Billiglohnländern in die Produktionsketten der deutschen Industrie, so Macron unter Verweis auf die "verlängerten Werkbänke" deutscher Konzerne in den osteuropäischen Ländern, was der französischen Vorstellung von einem "sozial nachhaltigen Wirtschaftsmodell für die EU" widerspräche. Macron lehnte es ausdrücklich ab, sich an dieses Modell anzupassen. Das exportorientierte deutsche Wachstum habe dazu geführt, die "Ungleichgewichte in der EU" zu verstärken.
Im Endeffekt kreisen die Spannungen zwischen Paris und Berlin um denselben Streitpunkt, der auch den Konflikt zwischen den USA und China anheizt: Es sind die "Ungleichgewichte" in den Handelsbilanzen, die Ausdruck der krisenbedingt zunehmenden Verschuldungsdynamik des spätkapitalistischen Weltsystems sind. Länder, die Exportüberschüsse erzielen, können ihre Industriekapazitäten halten - auf Kosten der Konkurrenz, die hierdurch Defizite verzeichnet. Der Exportüberschussweltmeister Deutschland führt mit seinen Überschüssen auch Schulden, Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung aus. Somit beruht die Illusion einer heilen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in der Bundesrepublik auf eben jenen Schuldenbergen im Ausland, über die man sich so gerne hierzulande empört.
Macrons Vorschläge zielen darauf ab, die europäischen Folgen dieser deutschen Überschisse durch Gegenmaßnahmen zu minimieren - und sie werden in Deutschland als Einstieg in eine "Transferunion" abgelehnt. Die zunehmenden handelspolitischen Auseinandersetzungen sind Ausdruck einer strukturellen Überproduktionskrise, in der das auf Pump laufende Weltsystem sich befindet, bei der alle wichtigen Staaten oder Währungsräume gewissermaßen dem deutschen Vorbild nacheifern und zu "Exportweltmeistern" werden wollen, um durch Exportüberschüsse ihre eigene Industrie zu schützen - auf Kosten anderer Länder. Da dies nicht möglich ist, gewinnen die Auseinandersetzungen an Schärfe, was wiederum Nationalismus und Chauvinismus Auftrieb verschafft.
Dabei hat die harte deutsche Sparpolitik, die Berlin nach Krisenausbruch europaweit durchsetzte, maßgeblich zur Stärkung dieser nationalistischen Fliehkräfte beigetragen. Der deutsche Wirtschaftsnationalismus, verkörpert durch den obersten Sparkommissar Schäuble, hat das "deutsche" Europa entlang der Interessen der deutschen Exportindustrie ausgerichtet - und zugleich den Nationalismus befördert, der nun in Ländern wie Italien Triumphe feiert. Die italienische Rechte ist konkret im Konflikt mit der Berliner Austeritätspolitik groß geworden.
Es ließe sich gar argumentieren, dass inzwischen die Rechtspopulisten in Europa ein Stück weit mitregieren. Macron etwa hat Madame Le Pen im Nacken, die bei den EU-Wahlen mehr Stimmen erhielt als seine junge Retortenpartei, deren luftige europapolitische Reformvorhaben am deutschen Widerstand gegen eine "Transferunion" scheiterten. Paris kann es sich aus innenpolitischen Gründen kaum noch leisten, weiterhin stillzuhalten. Genauso konnte Merkel alle Reformforderungen Macrons unter Verweis auf den anschwellenden Rechtspopulismus einer AfD ablehnen.
Weitere Konflikte zwischen den einstigen "Partnern" scheinen folglich vorprogrammiert: Inzwischen mehrten sich laut der FAZ in Paris die Stimmen, die auf einen "kompletten Kurswechsel" gegenüber Berlin drängten, da die "Strategie des Entgegenkommens" nichts gebracht und man dadurch bei "anderen Partnern viel Kredit verspielt" habe. Es gelte, künftig "projektbezogen" Partner zu finden. Erfolgreiche Europapolitik hänge vom "Geschick ab, projektbezogene Allianzen zu schmieden" - etwa bei der Klimapolitik. Es gebe "in den meisten Fragen EU-Partner, die nur unwillig die Politik der Bundesregierung mittragen würden".
Dies klingt nach einer offenen Herausforderung der dominanten Stellung der Bundesrepublik innerhalb einer zerrütteten, vor einem ungeordneten Brexit stehenden EU.
Tomasz Konicz publizierte zu diesem Thema das Buch "Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa".