Bayern: 1980er Offensive von Strauß und Ärztezeitung gegen Bonn
Seite 4: 4. Kampfplatz Sozial- und Gesundheitspolitik: Eine "Ärztezeitung" gegen die konservativen und neoliberalen "Gesundheitsökonomen"
- Bayern: 1980er Offensive von Strauß und Ärztezeitung gegen Bonn
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- 3. Export-Surplus durch Niedriglohn-Dumping: Bayerns Weg durch die "Stagflation"
- 4. Kampfplatz Sozial- und Gesundheitspolitik: Eine "Ärztezeitung" gegen die konservativen und neoliberalen "Gesundheitsökonomen"
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Für die Konsolidierung in der Doppelkrise der achtziger Jahre boten sich der Wirtschaftspolitik damals drei Wege an: Eine zusätzliche Neuverschuldung, eine Ergänzungsabgabe oder Sozialabbau. Alle drei Wege sollten zunächst die Kosten der stark angestiegenen Arbeitslosigkeit auffangen und Lohnsteigerungen infolge der zunehmenden, extern verursachten Inflation vermeiden oder ausgleichen sowie erneutes Wirtschaftswachstum stimulieren.)23
Die politischen Auseinandersetzungen zwischen der SPD/FDP-Koalitionsregierung und der CDU/CSU-Opposition und auch zwischen Bund und Ländern sowie die Interventionen der Bundesbank und der Gewerkschaften zu diesem Thema boten dem radikalkapitalistischen Flügel innerhalb der FDP die Chance, ein grundsätzliches wirtschaftspolitisches Umsteuern, weg vom keynesianischen Fordismus, hin zu neoliberalem Monetarismus, zu fordern. In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung steht für diesen FDP-Putsch, der ja auch eine Aufkündigung der Regierungsgemeinschaft Schmidt / Genscher in Bonn beinhaltete, das berüchtigte so genannte "Lambsdorff-Papier".24
Die Regierung Schmidt/Genscher entschied sich, gegen die Forderungen der SPD nach einem mit Steuererhöhungen und Neuverschuldung finanzierten Beschäftigungsprogramm, statt dessen für ein Lohnsenkungsprogramm als Mittel der Kapitalismusreparatur. Mit dem Bundeshaushalt 1982 und seinen zahlreichen Haushaltsbegleitgesetzen wurde hier erstmals in der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte das institutionelle und prozedurale System des Sozialversicherungsstaates dazu missbraucht, statt ausfallende Einkommen aus Lohnarbeit zu ersetzen, die dafür gebildeten Beitragsfonds für Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter sowohl zur Alimentierung des Bundeshaushalts als auch zur Senkung der Reallöhne zu benutzen. Die dabei praktizierte trickreiche Hin- und Herbuchung zwischen den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung ist in die Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung unter dem Begriff "Verschiebebahnhof" eingegangen.25 Er war der Inbegriff der Ersetzung von Steuern auf Einkommen Aller durch die Beiträge auf Arbeitseinkommen nur der Versicherungspflichtigen.26
Die im Herbst 1982 neu angetretene CDU/CSU/FDP-Regierung Kohl übernahm das Sozial- und Gesundheits-Kürzungsprogramm der zuvor gestürzten SPD/FDP-Regierung Schmidt und kürzte mit "enormen Tempo" (Gerard Bökenkamp) zahlreiche soziale und gesundheitliche Leistungen. Sie setzte damit die bereits 1977 von der SPD/FDP-Regierung begonnene kontinuierliche Abbaupolitik deutlich verschärft fort. Die Vorschläge Strauß’, mit verstärkten Maßnahmen und Leistungen der Familienpolitik im Sinne des bayerischen Sozialkonzepts zur Krisenbewältigung beizutragen, blieben ohne nennenswerten Erfolg.
Derjenige Politiker, der von Anbeginn der Regierung Kohl für immer weitere Zugriffe auf die Arzneimittel-, Ärzte- und Krankenhausversorgung stand, war der eigentlich der katholischen Arbeitnehmerschaft verpflichtete Bundesarbeits- und Sozialminister Norbert Blüm. Er exekutierte bis tief in die achtziger Jahre hinein die von ihm selbst bezweifelte Politik der "Kostendämpfung" und geriet damit in Frontstellung zu den betroffenen Krankenversicherten, vor alle aber auch zu den in den Regionen verankerten medizinischen Leistungsanbietern wie Ärzten und Krankenhäusern.
"Verschiebebahnhof" als Missbrauch der Beitragsfonds
Die Politik der "Kostendämpfung" beruhte auf einer volkswirtschaftlich irrigen Verkürzung von solidarisch finanzierten Gesundheitsleistungen auf die damit verbundenen Beitragskosten, die so genannten "Lohn-Nebenkosten" der Unternehmen. Die volkswirtschaftlich zutreffende andere Seite dieser "Kosten", Umsätze, Vorleistungen, Einkommen, Gewinne, Investitionen etc. bei den Leistungsanbietern und in den Regionen, wurden in der ausgeprägt moralisiert geführten "Gesundheitskosten"-Diskussion teils unwissentlich, teils willentlich übersehen bzw. unterschlagen.
Um den Fleischtopf des Themas "Kostendämpfung" hatte sich seit den siebziger Jahren ein regelrechter Fliegenschwarm von bevorzugt hochmoralisch und allenfalls betriebs- oder staatshaushaltswirtschaftlich, nicht aber volkswirtschaftlich argumentierenden "Experten" oder besser Ideologen versammelt. Deren "gesundheitsökonomische" Debattenbeiträge richteten sich vorrangig gegen das "Anspruchsdenken" der Versicherten und forderten von diesen mehr "Eigenverantwortung" als Weg zur Kostendämpfung.27
Bei klarsichtigen Vertretern des Gesundheitswesens bestand angesichts des absehbaren Endes der Regierung Schmidt bzw. nahen Beginns der Regierung Kohl bereits Anfang 1982 kein Zweifel, dass nunmehr dem ideologischen Kostenrummel mit einem nicht nur publizistischen, sondern mit einem medienpolitischen Gegenschlag Einhalt geboten werden müsse. Nach längeren Vorbereitungen etablierte ein mutiger Frankfurter Medienunternehmer eine tägliche "Ärztezeitung" als eine Art "Handelsblatt" vor allem für die ärztlichen Leistungsanbieter im Gesundheitswesen.
Als zunächst Berater und dann als Ressortchef für Gesundheitswesen wurde der in Oberbayern ansässige, als entschieden gesellschafts- und wirtschaftskritisch bekannte Direktor der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. für die mit ihrer Erstausgabe am Tag des Regierungswechsels in Bonn bundesweit erscheinende Tageszeitung engagiert. Als klare Gegenansage gegen das Bonner Kostendogma hieß es im Ärztezeitungs-Konzept dieses Ressortchefs: "…soll das Gesundheitswesen als bedeutender Sektor der Gesamtwirtschaft mit Auswirkungen auf Beschäftigung, Einkommen, Kapitalbildung und Staatsquote dargestellt werden".28 Das war eine klare Kampfansage an die bis dahin hegemonialen Kosten-Ideologen.
5. "Gesundheitswirtschaft": Die Antwort aus Bayern auf das Bonner Kostendogma
Es war der unbestreitbare Verdienst der "Ärztezeitung", durch eine Fülle einschlägiger Kommentare und Analysen den Begriff "Gesundheitswirtschaft" in der westdeutschen Gesundheitsdebatte durchgesetzt zu haben. Damit war es gelungen, die sowohl gegen die Krankenversicherten wie auch gegen die Leistungserbringer gerichtete Bonner "Kostendämpfungs"-Parole weitgehend zu neutralisieren.
Allerdings hat der spätere Gesundheitsminister der Regierung Kohl, Horst Seehofer, bis 1998 gebraucht, um dann endlich von seinem Sachverständigenrat das "Gesundheitswesen als Wachstumsbranche" bearbeiten zu lassen.29
Literaturhinweis:
Kroh, Ferdinand
Wendemanöver - Die geheimen Wege der Wiedervereinigung
München 2005
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