Befinden wir uns in einer "Fassadendemokratie" mit einem "Tiefen Staat"?

Seite 2: "Fassadendemokratie" und "Tiefer Staat" - eine realistische Beschreibung westlicher Demokratien?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Als typisch für die im Widerspruch zueinander stehende Verbindung aus neoliberalisiertem Kapitalismus und einem nur formalen Anspruch auf demokratische Strukturen werden in letzter Zeit häufiger systemische Tendenzen hin zu Scheindemokratien bzw. Fassadendemokratien diagnostiziert. Der emeritierte Psychologieprofessor Rainer Mausfeld beispielsweise beschreibt entsprechend die 'Fassadendemokratie' wie folgt:

Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.

Demokratien sind sicherlich auch immer von ihrer Entleerung und Aushöhlung bedroht. Sie sind in besonderer Weise auf das politische Interesse, das Engagement und die Zivilcourage ihrer Bürger_innen angewiesen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und kann unter dem Einfluss interessierter Kreise und profitierender Machteliten tatsächlich in Gefahr geraten, zu einer Fassadendemokratie zu degenerieren, wenn ihre Bürger_innen das Interesse an ihr verlieren, zum Objekt raffinierter Medienpropaganda über 'Fake News' werden bzw. nicht die notwendigen Bildungsmöglichkeiten erhalten. Dann wäre es auch für die an politischer und ökonomischer Macht interessierten Kreise leichter umsetzbar, einen durchgreifenden Staat ('Tiefer Staat') zu entwickeln, der von im Hintergrund (in der Tiefe) agierenden, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbaren Kräften gesteuert wird.10

Eine vorhandene 'Fassadendemokratie' wäre dann aufgrund der geringen über Partizipation gezeigten Zustimmung seiner Bürger darauf angewiesen, Systemstabilität über Medienkontrolle und -manipulation zu erzielen. Wenn dies nicht mehr gelingt, wäre es dann an der Zeit, die Stabilität der Herrschaftsverhältnisse über eine zunehmend repressiver werdende Ordnung und eine auf durchgehender Überwachung basierenden inneren Sicherheitsarchitektur zu gewährleisten.

Sicherlich kann man in diesem Zusammenhang die westlichen Staaten nicht undifferenziert abhandeln. Zwischen den Demokratien Polens, der USA, Ungarns, Japans, der skandinavischen Staaten und Deutschlands gibt es gewaltige Unterschiede im Verhältnis von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit. Ob eine westliche Demokratie bereits oder noch als 'Fassadendemokratie' und als 'Tiefer Staat' in diesem Sinne bezeichnet werden kann, hängt vom Ausgang der politischen Auseinandersetzungen zwischen den sich engagierenden Bürger_innen und denjenigen politischen und ökonomischen 'Eliten' ab, die auf der Seite der wirtschaftlich Mächtigen stehen. Wie diese Auseinandersetzungen ausgehen werden, ist bislang noch nicht entschieden. Die derzeit überall auf der Welt stattfindenden Massenproteste zeigen allerdings erste Wirkungen, z.B. im Bereich der Klimapolitik ('Fridays for Future'), alternativer Mobilität (Fahrradentscheide u. Bürgerbegehren) oder als Proteste gegen Rassendiskriminierung ('Black Lives Matter').

Die - trotz aller noch vorhandenen Defizite - am weitesten entwickelten westlichen Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Staaten oder auch Staaten wie Frankreich und Deutschland, als 'Fassadendemokratien' oder als 'Tiefen Staat' bezeichnen zu wollen, ist m.E. gegenwärtig nicht gerechtfertigt und völlig übertrieben: Weder im historischen Vergleich gab es, noch im gegenwärtigen interkulturellen Vergleich gibt es mehr Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation und Mitbestimmung, ohne dass eine Verfolgung und eine Bedrohung mit Freiheitsentzug oder Schlimmeres von staatlicher Seite zu befürchten ist. Und dennoch sind auch diese Staaten von systemischer Regression bedroht, wenn sich Systemverdrossenheit und politische Frustration breit macht. Selbst diese Staaten sind auf erhebliche strukturelle Verbesserungen und einen Ausbau der Demokratie in allen Lebensbereichen angewiesen.

Auch diese Staaten und ihre Bevölkerungen stehen unter dem Verwertungsdruck des internationalen Kapitals und der sich immer weiter entfaltenden Finanzspekulation. Solchen Interessengruppen wird die Partizipation der Bürger_innen lästig, wenn diese sich beispielsweise gegen Klimazerstörung oder gegen die Verwüstung ihrer Region zum Abbau von Bodenschätzen zu wehren beginnen.

Medien in kapitalistischen Demokratien als Produzenten von 'Fake News'?

Die Medienarbeit der westlicher Demokratien hingegen als systematische Produktion von 'Fake News' zu bezeichnen, wie dies abwertend Mausfeld11 unternimmt, hält der Verfasser für eine falsche Einschätzung, die pauschal von einigen spektakulären Einzelfällen auf die gesamte Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen schließt - zumal hier, wie gesagt - erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen westlichen Demokratien bestehen.

Insbesondere die Funktion einer vielfältigen Medienlandschaft gedruckter und digitaler Medien verhindert in weitgehend funktionierenden Demokratien, wie der Bundesrepublik Deutschland, das Überwiegen von staatlich verbreiteten Fake News. Selten gab es in Deutschland ein derart weites Spektrum unterschiedlicher politischer Medien - von den Blättern für deutsche und internationale Beziehungen, Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Der Freitag, die taz über die NachDenkseiten, Rubikon, Republik, Weltnetz-TV, Telepolis, über ARD, ZDF, Arte, 3sat, Phönix, CNN und die Privatsender, über die Welt, Die Zeit, die FAZ und die FR, den Spiegel, Stern und Focus, die vielen regionalen Tageszeitungen bis hin zur Bild-Zeitung, um nur einige zu nennen. Hinzu kommen die sozialen Medien wie z.B. Facebook, Youtube oder Twitter. Fragwürdig ist daher bereits der Titel des von Ullrich Mies herausgegebenen Bands "Mega-Manipulation. Ideologische Konditionierung in der Fassadendemokratie".12 In diesem problematischen Sinne formuliert dann auch Ulrich Teusch13:

Sachliche Irrtümer können in der Tat jedem überall unterlaufen. Die eigentliche Misere liegt ganz woanders: in einer insgesamt tendenziösen, manipulativen Berichterstattung und Kommentierung, die unseren Medienschaffenden inzwischen zur zweiten Natur geworden ist, so selbstverständlich, dass sie ihnen kaum noch auffällt. Weshalb auch die viel gestellte Frage, warum Journalisten so und nicht anders handeln, letztlich belanglos ist. Tun sie es aus innerer Überzeugung? Oder wider besseres Wissen, also zynisch? Oder mit geballter Faust in der Tasche? Aus Karrierismus oder Opportunismus? Fragen dieser Art führen auf die falsche Spur. Denn das Problem lässt sich längst nicht mehr auf der individuellen Ebene lokalisieren. Es hat systemische Qualität angenommen.

Zur generalisierenden Kritik am Fassaden-Charakter westlicher Demokratien gehören konsequenterweise aus der Sicht dieser Kritiker auch die pauschale Abwertung der Medien und die Diskreditierung der dort arbeitenden Journalisten. Die Formel lautet: Im Kapitalismus sind die Medien überwiegend im Privatbesitz. Daher ist auch keine kritische Berichterstattung möglich. Allenfalls einige als 'alternativ' bezeichnete Medien werden vom Buchherausgeber Mies von dieser Kritik freigesprochen, wie z.B. die "Neue Rheinische Zeitung" oder 'KenFM'. Über diese Auswahl ließe sich sicherlich streiten.

Systemische Alternativen

Doch auch die historischen Erfahrungen mit dem sogenannten Realsozialismus weisen auf keine sinnvollen gesellschaftlichen Alternativen hin. Alle auf der realsozialistischen Diktatur einer Staatsmacht basierenden Gesellschaften sind bereits historisch vielfach widerlegt, führten sie doch jedes Mal weg von dem angestrebten 'Reich der Freiheit' und hin zum Reich der stalinistischen oder maoistischen Massenvernichtung und Freiheitsberaubung. Über autoritäre Politikstrukturen, Repression und staatlich organisierte Exklusion lässt sich keine humanere Gesellschaft organisieren. Über die massive Einschränkung von Freiheit wird keine Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung entstehen, sondern nur Unterdrückung. Hier soll daher die Auffassung vertreten werden, dass eine Eindämmung des enthemmten Kapitalismus, eine sozialökologische Gesellschaftsentwicklung, die am Gemeinwohl orientiert ist, und eine friedliche globale Gemeinschaft nur über ein Mehr an zivilgesellschaftlicher und transnationaler Demokratie und einer entsprechenden Veränderung nationaler, regionaler und internationaler Strukturen möglich werden wird.14

Hierbei muss allerdings auch die Frage nach der ökonomischen Partizipation bzw. nach dem privaten Besitz an den Produktionsmitteln gestellt werden. Die Erfahrungen in den Staaten sowjetischer Prägung haben einerseits gezeigt, dass es kontraproduktiv und ökonomisch äußerst fragwürdig ist, jeglichen Privatbesitz und jede Form marktwirtschaftlicher Betätigung zu verbieten. Weder die Aufgaben der Allokation, Produktion, Distribution noch des zufriedenstellenden Warenangebots konnten auf diese Weise gelöst werden, so dass die Bedürfnisse der Menschen hier nicht gedeckt werden konnten.

Andererseits werden die westlichen Demokratien massiv von den ökonomischen Interessen riesiger Kapitalzusammenballungen bedroht. Insbesondere multinationale Konzerne versuchen in Verbindung mit dem hinter ihnen stehenden Finanzkapital die Demokratien und rechtsstaatlichen Strukturen über ihre Marktmacht, ihren Lobbyismus, über Korruption und über internationale Handelsverträge auszuhebeln. Allenfalls ein transformierter Kapitalismus, der die Konzerne reguliert, Marktbeherrschungen durch Konzerne verhindert und multinationale Konzerne entflechtet, aufteilt und sie auf gemeinwohlorientierte Ziele und Praktiken hin gesetzlich verpflichtet, ist kompatibel mit tatsächlich umgesetzten demokratischen Politikstrukturen. Ob man eine derartige Wirtschaftsform, die Kleinunternehmertun, mittelständige Unternehmen, marktwirtschaftliches Agieren im überschaubarem Rahmen, verkleinerte, z.T. verstaatlichte Konzerne sowie Formen solidarischer Ökonomie und Ökogemeinschaften beinhaltet, noch Kapitalismus nennen kann, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlich würde dies ein neu bearbeitetes Verständnis und die Begrifflichkeit des 'demokratischen Sozialismus', des 'Ökosozialismus' oder einer 'ökosozialen Marktwirtschaft', bei der ein weiterhin zu demokratisierender Staat seine Verantwortung regulierend wahrnimmt, richtiger ausdrücken. Auf jeden Fall würde eine gemeinwohlorientierte Ökonomie15 mit verkraftbaren marktwirtschaftlichen Elementen besser zu einer partizipatorischen Demokratie passen, die allerdings repräsentative und direktdemokratische Strukturen in eine noch geeignetere Balance bringen müsste, als dies bisher in der Regel der Fall ist.

Demokratie als Herrschaftsform ist im Sinne des 1865 von einem Rassisten aus den Südstaaten ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Herrschaft der Bevölkerung, durch die Bevölkerung und für die Bevölkerung.16 Und hierbei sind nicht die sich bereichernden 1% der Bevölkerung gemeint, sondern eher wohl die 99%.

Die deutliche Beteiligung der 99% an den Erfolgen der Ökonomie und deren engagierte Partizipation in der Demokratie passen wohl eher zusammen.

Fazit: Ansatzpunkte einer demokratischen Neuordnung in nationalstaatlicher und internationaler Perspektive

Sicherlich ist eine ökonomische Neuordnung und eine politische Umsteuerung in nationalstaatlichen und transnationalen Verhältnissen in einem globalen Kontext notwendig, wollen die jetzigen oder die nächsten Generationen zukünftig nicht in einem destruktiven Zusammenwirken sich zurück entwickelnder Demokratien und autokratischer Staatsformen, der zunehmenden Klimazerstörung, unkontrollierbarer Digitalisierung in Verbindung mit der Verbreitung von Fake News, brutaler sozialer Ungleichheit und dem nuklearen Kriegsszenario versinken.17 Hier sind zunächst auf der internationalen Ebene einschneidende Reformen der UN notwendig. Insbesondere die Reform des UN-Sicherheitsrats, die Einrichtung eines demokratischen UN-Parlaments und einer Weltbürgerinitiative zur direktdemokratischen Beteiligung sind zu ermöglichen.18

Dies kann nur durch ein Zusammenwirken von internationalem zivilgesellschaftlichen Druck über Bürgerbewegungen und NGOs sowie durch den Veränderungswillen, der von den gewählten Repräsentanten nationalstaatlicher und transnationaler Demokratien ausgeht, erreicht werden. Die Macht dieser gesellschaftlichen Bewegungen und politischen Repräsentanten dürften mit der zu erwartenden Zunahme globaler Probleme (Klimaentwicklung und deren Folgen, Pandemien, Ernährungskrisen, wachsende Kriegsgefahr und Zunahme von symmetrischen und asymmetrischen Konflikten, soziale Verwerfungen, failed states …) möglicherweise sprunghaft zunehmen.

Für eine schrittweise und manchmal auch schnell erforderliche Veränderung bestehender national-staatlicher Systeme ist es aber dringend notwendig, historisch errungene Leistungen in den politischen Systemen realistisch einzuschätzen und zu würdigen. Natürlich muss auch notwendige Kritik mit Augenmaß und dort mit aller Entschiedenheit geäußert werden, wo u.a. gegen rechtsstaatliche, menschenrechtliche und demokratische Vorgaben verstoßen wird. Aber vorhandene demokratische Errungenschaften sollten in der Öffentlichkeit selbstbewusst vertreten werden. Die bundesdeutsche Demokratie und eine Reihe weiterer westlicher Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Demokratien, sind im internationalen und interkulturellen Vergleich als am weitesten fortgeschritten anzusehen.

Sie sind bisher der Idee der Demokratie noch am nahesten gekommen. Diese Systeme sind nicht perfekt, immer von Regression und Fremdbestimmung bedroht und bedürfen der permanenten systemischen Erneuerung und des Ausbaus demokratischer Gestaltungsräume. Aber sie sind besser als alles andere, was es bisher im historischen Vergleich gegeben hat.

Demokratien sind auf die Partizipation ihrer Bürger, auf den öffentlichen Diskurs und die gemeinsame Kompromisssuche angewiesen, wenn es darum gehen soll, demokratische Strukturen zu erhalten und noch wehrhafter gegenüber den wirtschaftlichen Zugriffsversuchen oder gegenüber der Einflussnahme undemokratischer Staaten zu machen. Die Abwehr von systematischen 'Fake News' in einer Demokratie ist zum einen die Angelegenheit einer 'wehrhaften Demokratie' und natürlich auch der politisch-historischen Bildung in den Bildungsinstitutionen der Demokratie.

Eine pauschale Abwertung westlicher Demokratien jedoch nimmt den Menschen jedwede Hoffnung auf eine schrittweise Verbesserung ihrer Lebenssituation in sich entwickelnden demokratischen Strukturen. Hierdurch werden sie mit einer pessimistischen und einseitig ausgerichteten Haltung allein gelassen, die sie nur entweder in Depression oder in Wut zurücklässt. Die Folgen hiervon sind Resignation oder Gewalt und beides ist schädlich für die Entwicklung von Demokratien

Zum Autor:

Prof. Dr. Klaus Moegling arbeitet am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Er engagiert sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie im Bildungsbereich. Sein Buch "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich" ist inzwischen in der 3., aktualisierten und erweiterten Auflage 2020 erschienen (Verlag Barbara Budrich).

Email: klaus.moegling(at)uni-kassel.de