Bei der Verwaltung des Internet sollen Grabenkämpfe des Kalten Krieges vermieden werden
Ausblick auf das zweite Internet Governance Forum (IGF) der Vereinten Nationen, das im November 2007 in Rio de Janeiro stattfindet
Unlängst fand in Genf die dritte und letzte IGF-Vorbereitungsrunde statt. Man einigte sich mehr oder weniger auf das Programm der viertägigen Internet-Olympiade. Demnach werden 14 Plenarsitzungen und über 75 Workshops stattfinden und man wird über alles reden, was es zum Thema Internet zu diskutieren gibt: vom Zugang zu WiMax bis zur Cyberkriminalität, vom Web 2.0 bis zu multilingualen Domainnamen. Man erwartet mehr als 2000 Teilnehmer: Minister, CEOs und die 'Crème de la Crème' der Internetwelt.
Die brasilianischen Gastgeber sind natürlich daran interessiert, mit dem IGF in Rio das schon sehr erfolgreiche erste IGF in Athen (vgl. Eine Erfindung für die Globalpolitik) zu toppen. Nach den Genfer Konsultationen aber ist es gar nicht so sicher, dass es bei der Internet-Samba in Rio nur frohgelaunte Gesichter geben wird. Zu viele Fragen sind offen.
Kritische Internetressourcen als IGF-Diskussionsthema
Das betrifft vor allem die ewig wiederkehrenden Frage nach der Kontrolle und Aufsicht über die ”kritischen Internetressourcen” (Critical Internet Resources/). Darunter versteht man vor allem Root Server, IP-Adressen und Domainnamen, ohne deren Verfügbarkeit das ganze Internet nicht funktionieren würde. Diese Ressourcen werden allesamt von der privatwirtschaftlichen ”Internet Corporation for Assigned Names and Numbers” (ICANN) verwaltet, die wiederum seit ihrer Gründung vor knapp zehn Jahren unter der Oberaufsicht der US-Regierung steht.
Seit 2002 wurden während des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) immer wieder Versuche unternommen, dieses eigentlich ganz gut funktionierende System zu verändern und dabei vor allem der US-Regierung ihre unilaterale Rolle streitig zu machen. Erst wollte die chinesische Regierung das Internet einer UN-Organisation wie der International Telecommunication Union (ITU) unterstellen, dann schlug die brasilianische Regierung die Ausarbeitung einer ”Internationalen Internetkonvention” vor und schließlich setzte sich die Europäische Union für ein ”neues Kooperationsmodell” ein, das auf dem Prinzip einer ”Public Private Partnership” basieren sollte. Das tägliche Management sollte in den Händen von ICANN bleiben, aber die damit verbundenen politischen Themen würde dann in die Hände eines nicht näher definierten Regierungsrates wandern.
Alle diese Ideen waren im WSIS-Prozess (vgl. Digitales Gewimmel im Cybersouks) nicht zuletzt deswegen gescheitert, weil niemand so richtig deutlich machen konnte, wie er durch eine Veränderung des bestehenden Systems auch gleichzeitig eine Verbesserung erreichen könnte. Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft, die im WSIS-Prozess teilweise mit am Verhandlungstisch saßen, befürchteten wahrscheinlich nicht grundlos, dass ein Regierungsgremium für das Internet nach dem Muster des UN-Sicherheitsrates eher Sand ins Getriebe eines gut funktionierenden Netzwerkes streuen würde, anstatt Innovation und freie Kommunikation zu befördern.
Der Kompromiss von Tunis sah dann auch nicht mehr vor, als die Zusammenarbeit aller beteiligten Seiten zu verbessern (enhanced cooperation) und die Diskussion über die politischen Implikationen des Internets zu intensivieren. Die Gründung des IGF geht auf diesen Kompromiss zurück (Erbsenzählen nach der Cyberschlacht).
China und Russland drängen auf neuen Verhandlungsansatz
Der Tunis-Kompromiss hat das Problem aber nicht gelöst, sondern lediglich auf die lange Bank geschoben. Nach wie vor haben Regierungen wie China oder Russland keine Einstiegsluke gefunden, wie sie einen intergouvermentalen Verhandlungsmechanismus installieren könnten, um größere Mitspracherechte bei Entscheidungen über Root Server, IP-Adressen und Domainnamen zu bekommen.
Das Angebot von ICANN, doch den Beratenden Regierungsausschuss (GAC) zu nutzen, ist aber z.B. für die Regierung der Volksrepublik China solange nicht akzeptabel, wie Taiwan an den GAC-Sitzungen als gleichberechtigtes Vollmitglied teilnimmt. Auch die Russen fühlen sich in der UN-Umgebung wohler als in einem GAC, das lediglich ein Beratungsgremium für ICANN ist. GAC-Empfehlungen sind für das ICANN-Direktorium juristisch nicht verbindlich.
Insofern war es nicht verwunderlich, dass es vor allem die Chinesen und die Russen waren, die jetzt in Genf forderten, diesem Thema beim IGF ein größeres Gewicht zu verschaffen. Nun wird nicht erwartet, dass man in Rio erneut über irgendein “neues Kooperationsmodell” diskutiert. Aber offensichtlich wollen einige Rio nutzen, um auszuloten, ob das IGF als Startrampe für einen neuen Anlauf zu intergouvermentalen Internetverhandlungen dienen kann. In Genf drängten nun der russische und chinesische Delegierte darauf, dass bei der Plenarsitzung zu den kritischen Internetressourcen auch ein hochrangiger US-Regierungsvertreter mit am Tisch sitzt.
Da China wegen seiner Internetzensur beim ersten IGF in Athen massiv attackiert wurde (Eine Erfindung für die Globalpolitik), plant man möglicherweise in Peking diesmal, die US-Regierung stärker zur Zielscheibe der Kritik zu machen. Das gegenwärtige Abkommen zwischen ICANN und der US-Regierung läuft im Oktober 2009 aus. Dann ist in Washington eine neue Regierung im Amt. Es ist also nahe liegend, sich bereits jetzt für eine neue Runde der Auseinandersetzung zu positionieren.
Genau das aber wollen viele verhindern. Von einem neuen intergouvermentalen ”Kalten Krieg” um das Internet würde keiner profitieren, am wenigsten die Nutzer. Sie wollen das Thema der kritischen Internetressourcen zwar diskutieren, weil sich auch neue Fragen aufgehäuft haben, wie z.B. neue Sicherheitsmodelle für die Root Server (DNSSEc), Top Level Domains mit nichtlateinischen Buchstaben (iDN.iDN) oder auch der Übergang von IPv4 zu IPv6. Diese Debatte soll aber mehr einen Informations- und Bildungscharakter tragen, als ein Armdrücken darüber sein, wer was zukünftig wie kontrolliert.
Streitpunkt IP-Adressen
Kritisch in diesem Zusammenhang könnte dabei vor allem die Diskussion um die Zukunft der Verwaltung und Zuordnung der IP-Adressen werden. Die IP-Adressblocks werden von der Internet Assigend Names Authority (IANA), einer relativ selbständigen ICANN-Abteilung, verwaltet und den fünf regionalen Internet-Registries (RIRs) zugeordnet. Die RIRs wiederum verteilen diese Blöcke je nach dokumentiertem Bedarf an ihre Kunden, d.h. ISPs, Registries und Registrars. Das ganze System hat bislang perfekt funktioniert und mit der Errichtung von LACNIC in Südamerika und AFRINIC in Afrika haben jetzt auch Entwicklungsländer eigene RIRs.
Manche Regierung stört aber, dass sie bei der Zuordnung der IP-Adressen außen vor sind. Sowohl Chinesen als auch Russen würden offensichtlich IP-Adressen lieber wie Telefonnummern vergeben und unter die Aufsicht einer staatlichen Behörde stellen. Dann bekäme jeder Internetnutzer eine für sein ganzes Cyberleben feste IP-Adresse, die natürlich auch besser kontrollierbar ist als eine dynamisch zugeordnete IP-Nummer. Die Debatte ist deshalb so komplex, weil aufgrund der Verknappung der Adressen nach dem IPv4-Protokoll mittelfristig ein Übergang zum höheren Protokoll IPv6 unvermeidlich ist. Die rund sechs Milliarden IPv4-Adressen reichen zwar noch mindestens bis 2011, dann aber wird es eng, nicht zuletzt, weil mit dem ”Netzwerk der Zukunft” neben Personen und Institutionen auch alle möglichen Objekte eine IP-Adresse benötigen, wenn sie vernetzt werden sollen.
Das Argument, wegen der Verknappung von IP-Adressen bräuchte man ein staatliches Zuordnungssystem, wie etwa bei der Frequenzvergabe, ist aber insofern Nonsens, weil es beim IPv6-Protokoll keine Knappheiten mehr gibt. Das Reservoir bei IPv6 ist 2x1028 oder 5×1028
Selbst wenn jeder der sechs Milliarden Bewohner des Planeten erst einmal eine Million IPv6-Adressen für sich persönlich und seine ans Internet angeschlossenen sieben Sachen bunkert, sind immer noch endlose Adressblöcke verfügbar. Dennoch ist die Transformation nicht ganz problemlos: Muss doch garantiert bleiben, dass die Kommunikationsfähigkeit zwischen zwei Computern, die unterschiedliche Protokolle verwenden, nicht gestört wird. Es ist ein bisschen so wie die Transformation vom analogen zum digitalen Fernsehen, auch wenn dieser, wie jeder Vergleich, etwas hinkt.
Das IPv6-Problem aber als Vehikel zu nutzen, um ein neues Zuordnungsmodell einzuführen, geht jedoch völlig in die falsche Richtung. Am Schluss könnte möglicherweise noch ein Finanzminister auf die Idee kommen, IPv6-Adressen künstlich zu verknappen, um dann einen Grund zu haben, dafür Gebühren zu verlangen. Wenn von den 125 Millionen Chinesen, die momentan online sind, jeder pro Monat nur einen Euro für eine IP-Adresse bezahlen müsste, wären das schon fast 1.5 Milliarden € pro Jahr.
Streit ums Abschlussdokument
Die zweite strittige Frage für Rio ist die nach dem Abschlussdokument. Als das IGF gegründet wurde, war man sich darin einig, keine neue UN-Organisation und damit auch keine neuen Verhandlungsgremien geschaffen zu haben. Das IGF sollte zwar alle Fragen diskutieren, Entscheidungen aber den Institutionen überlassen, die dazu ein Mandat haben, also Infrastrukturentwicklung bei der ITU oder Domainnamen bei ICANN. Nach diesem Muster verlief das erste IGF in Athen und prompt spalteten sich wieder die Meinungen. Die Einen feierten die Befreiung vom Zwang, ein Abschlussdokument mit kompromisslerischen Leerformeln auszuarbeiten, als eine große Erleichterung, die dazu geführt hatte, dass Klartext geredet wurde. Die Anderen kritisierten das Verfahren als Schwatzbude, die das IGF zu einem zahnlosen Tiger mache.
Wiewohl der Wunsch, nach Abschluss einer Konferenz auch etwas Schwarz auf Weiß nach Hause zu tragen, verständlich ist, ist das Risiko groß, dass eine redaktionelle Zusammenfassung der Diskussion schnell zu einem neuen Verhandlungsmechanismus mutiert, der dann unweigerlich Bürokratisierung und Politisierung nach sich zieht.
In Athen war es so, dass der von allen Seiten hoch geschätzte Vorsitzende des IGF, der indische Diplomat Nitin Desai, zusammenfassende Schlussbemerkungen formulierte, die so etwas wie ein Abschlussdokument darstellten. Desai war einst als stellvertretender UN-Generalsekretär für den ersten UN-Umweltgipfel in Rio de Janeiro zuständig, präsidierte die UN Working Group on Internet Governance (WGIG) und diente erst Kofi Annan und jetzt Ban Kin Moon als ”Internetberater”. Er ist also mit allen Wassern gewaschen und besitzt das Vertrauen aller Parteien, von Washington bis Peking. Deshalb stellt auch niemand in Frage, dass es in Rio erneut ”Conclusions of the Chair” geben wird.
IGF-Message von Rio?
Die brasilianischen Gastgeber wollen aber etwas mehr. Sie wollen in ein Abschlussdokument auch Berichte über die einzelnen Plenarsitzungen und Workshops einfügen, um dann ein umfangreicheres und substantielleres Dokument zu haben, das mit dem Namen Rio de Janeiro auf ewig in der Internetgeschichte verbunden sein wird. Es ist aber ein schwieriger Balanceakt zwischen dem Vermeiden des Ingangsetzens eines Verhandlungsmechanismus und der Absicht, eine klare kondensierte Botschaft von Rio an die Internetwelt zu senden.
Die Idee ist jetzt, eine Art neues politisches Instrument zu erfinden, das keine Empfehlung im UN-Sinne ist, aber gleichzeitig eine klare Botschaft an Betroffene und Beteiligte sendet. Eine solche ”IGF Message” wäre nicht Gegenstand von Verhandlungen, sondern Sache des jeweiligen Chairs der Plenarsitzung oder des Workshops. Es käme also ein Abschlussdokument mit vielen Autoren zustande, das keine ”Empfehlungen” an Regierungen, Privatwirtschaft oder Zivilgesellschaft enthält, sondern eben ”Botschaften”.
Eine ”IGF Message” ist völkerrechtlich nicht definiert oder irgendwie belastet. Ein solches sich ”von unten” entwickelndes innovatives Verfahren steht dabei auch der Kultur des Internet näher als von oben verordnete Regierungsempfehlungen. Aber, nicht jeder Workshop Chair ist ein Nitin Desai. Und so wird es wohl noch viel Hickhack auch um diese Frage geben.
Nach den dreitägigen Verhandlungen in Genf ließ man es nun in den Händen der brasilianischen Gastgeber und des IGF-Sekretariats, einen Weg zu finden, der die Botschaft von Rio laut hörbar macht, ohne dabei einen neuen Kalten Krieg um Formulierungen in einem Abschlussdokument auszulösen. Wenn der Balanceakt gelingt, kann dies einen neuen Standard setzen und das IGF würde sich als eine institutionelle Innovation der Diplomatie des 21. Jahrhunderts stabilisieren. Wenn nicht, dann ist beim Ringen über die Internetkontrolle ein Rückfall in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges des 20. Jahrhunderts nicht ausgeschlossen.
Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und -regulierung an der Universität Aarhus und persönlicher Berater des Vorsitzenden des IGF, Nitin Desai. Der Artikel enthält seine persönlichen Ansichten.