Bekommt Nahles noch einen Herausforderer?
Annen und Kahrs bestreiten Probeabstimmungen
Am Sonntagnachmittag machten Gerüchte die Runde, dass ein sehr schlechts Abschneiden der deutschen SPD bei den Europawahlen in Verbindung mit einem Verlust der Position als stärkste Partei in Bremen zu einem Rücktritt von Andrea Nahles als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende führen könnte. Tatsächlich meinte Nahles dann aber am Montag im ZDF (mit einer bemerkenswert schrägen Metapher), sie wolle "jetzt nicht die Klamotten hinwerfen", sondern sowohl den Fraktions- als auch den Parteivorsitz behalten. Personaldebatten seien nämlich "nicht sinnvoll", weil die SPD bei ihren zahlreichen Personalwechseln in der jüngeren Vergangenheit "nicht wirklich gewonnen" habe.
Als indirekten Hinweis darauf, dass sie selbst weniger geeignet sein könnte als ihre Vorgänger Thomas Oppermann (Fraktionsvorsitz) und Martin Schulz (Parteivorsitz), will Nahles die Äußerung wahrscheinlich nicht verstanden wissen. Sonst hätte sie Martin Schulz, der Medienberichten nach Stimmen für einen "Putsch" gegen sie gesammelt hatte, wohl das Feld überlassen. Stattdessen zog sie die eigentlich erst im September fällige Wahl des Fraktionsvorsitzenden auf nächste Woche vor, woraufhin der ehemalige Europaparlamentspräsident, der als Kanzlerkandidat ein Rekord-Negativergebnis erzielt hatte, öffentlich erklärte, die Frage einer Gegenkandidatur stelle sich für ihn nicht.
"Nicht annähernd eine Mehrheit"?
Der Münchener SPD-Abgeordnete Florian Post sagte der Presse, er glaube trotzdem, dass Nahles bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist am Montag noch einen Gegenkandidaten bekommen wird: "Nur weil es Andreas Kindheitstraum war, Führungspositionen in der SPD zu besetzen, darf sie jetzt nicht die ganze Partei in Geiselhaft nehmen." Kurz danach meldeten die Mainzer Allgemeine Zeitung und andere Medien der Verlagsgruppe Rhein Main (VRM) unter Berufung auf Parteikreise, dass es am Mittwoch in drei "Probeabstimmungen" für die Abstimmung am Dienstag "nicht annähernd eine Mehrheit für Nahles gegeben" habe. Weder bei den "Parteilinken", noch beim "Seeheimer Kreis" oder bei den "Netzwerkern".
Niels Annen, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21, und Johannes Kahrs, der Sprecher des Seeheimer Kreises, dementierten diese Meldung heute und meinten, es habe gar keine Probeabstimmungen gegeben. Ob das stimmt, hängt vielleicht nicht nur davon ab, wer wem die Unwahrheit sagte, sondern auch davon, was man als "Probeabstimmung" definiert (und was nicht).
Heil oder Post?
Kahrs meinte darüber hinaus zur Westdeutschen Allgmeinen Zeitung (WAZ), wer sich als Gegenkandidat "hätte melden wollen, [der] hätte das am Mittwoch tun können - und meiner Meinung nach auch tun müssen". Ähnlich hatten sich vorher Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, und Nahles' umstrittener Verbündeter Karl Lauterbach geäußert, der meinte, es gebe jetzt zwar "viele, die auch im Hintergrund mit der Presse sagen, Andrea Nahles sei nicht die richtige Fraktionsvorsitzende, gleichzeitig [sei] aber auch niemand bereit zu kandidieren".
Dass sich bisher niemand dazu bereit erklärt hat, könnte auch damit zu tun haben, dass man versucht, sich im Geheimen auf einen Kandidaten zu einigen. Ein offensichtlicher Nachfolger, der bei den Wählern beliebt wäre, ist nämlich nicht in Sicht. Von den (vorsichtig formuliert) weniger offensichtlichen Kandidaten hat nach Schulz inzwischen auch der 50-jährige Niedersachse Matthias Miersch abgesagt, der als eng vernetzt mit Kevin Kühnert und Ralf Stegner gilt. Zwei Namen, die weiterhin genannt werden, sind der von Arbeitsminister Hubertus Heil und der des (nicht mit Florian Post zu verwechselnden) nordrhein-westfälischen Landesgruppenvorsitzenden Achim Post.
Wahl ohne Gegenkandidaten - und ohne Mehrheit?
Ob sie oder ein anderes Mitglied der 153-köpfigen SPD-Bundestagsfraktion das Potenzial hätten, den Abwärtstrend der SPD umzukehren, ist trotz des unfreiwilligen Negativwerbungspotenzials von Andrea Nahles in viralen Videos fraglich. Das liegt auch daran, dass dort "heute reihenweise Berufspolitiker [sitzen], die in ihrem Leben nur rudimentäre Bezugspunkte zur normalen Arbeitswelt hatten", wie es Boris Reitschuster formulierte: "Die SPD wurde von der Partei der Arbeiter zur Partei der Funktionäre - von Männern wie Ralf Stegner, die in einer freien Wähler-Wildbahn ohne Listen-Schutz kaum politische Überlebenschancen hätten" (vgl. Diskrepanz zwischen Wähler- und Funktionärswillen).
Vielleicht braucht es am Dienstag aber auch gar keinen Gegenkandidaten, um Andrea Nahles zu stürzen. Bei ihrer letzten Wahl zur Fraktionsvorsitzenden bekam sie im Herbst 2017 mit 137 von 152 etwa 90 Prozent der Stimmen. Werden es diesmal deutlich weniger (und vielleicht sogar weniger als die Hälfte), dann könnte die 48-Jährige vielleicht doch noch von sich aus "die Klamotten hinwerfen". Die SPD-Bundestagsfraktion könnte sich dann in relativer Ruhe einen Nachfolger suchen, dem in einer Wahl ohne Nahles nicht der Ruch eines Jamie Lannister anhaftet.
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