Berlin: Auseinandersetzungen über Rigaer Straße schaukeln sich hoch

Polizei berichtet von "aggressivster und gewalttätigster Demonstration seit fünf Jahren". Autonome sprechen von "Schweinen"

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Nach den Tumulten bei einer Demonstration in Berlin-Friedrichshain stellt sich erneut die Gewaltfrage. Die Antworten darauf sind schwierig. Verhandeln oder weiter auf Härte setzen? Die Politiker in Berlin sind sich bei diesem Streitpunkt nicht einig und auch im größeren Protest-Lager kann man von unterschiedlichen Auffassungen ausgehen.

In dessen Kampffraktion wird die Legitimation von Gewaltanwendung auf eine Weise zugespitzt, die von politischen Vertretern schwerlich mitgetragen werden kann. Anschaulich wird das in der Beschreibung der Demonstration vom Samstag aus Sicht der autonomen Gruppe:

Einen solchen Gewaltausbruch der Schweine haben wir so in den letzten Jahren in Berlin nicht erlebt. In dem Moment haben wir uns wirklich Heckenschützen auf den Dächern gewünscht, welche uns vor dem Gewaltausbruch der Schweine hätten retten können.

Mit "Schweine" sind Polizisten gemeint. Der Polizeibericht bilanziert die Demonstration am Samstag so: Von etwa 1.800 Einsatzkräften und zusätzlichen 700 Unterstützungskräften seien während des Einsatzes 123 Polizeibeamte, davon 40 Unterstützungskräfte verletzt worden.

Über 100 Strafverfahren seien eingeleitet worden: wegen schweren Landfriedensbruchs, Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte, Anlegen von Vermummung, versuchter Gefangenenbefreiung, gefährlicher Körperverletzung und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz ein. 86 Personen wurden festgenommen ("meist kurzfristig"), drei Personen sollen wegen schweren Landfriedensbruchs einem Ermittlungsrichter vorgeführt werden. Am Ende dann der Satz, der gestern in vielen Berichten zu den Krawallen auftauchte:

Nach dieser Bilanz ist festzustellen, dass es sich um die aggressivste und gewalttätigste Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre in Berlin handelte.

Unterschiedliche Stimmen: Polizei und "der rebellische Nordkiez"

Krawall und Krach spielten bei der Inszenierung der Demonstration, die zum Programmpaket "Wir wollen einen schwarzen Juli" gehört, eine Rolle: In der Rigaer Straße wurde die Menge der Demonstranten samt "provokanter Polizeibegleitung" mit "reichlich Pyro auf dem Dach empfangen. Ein gegenüberliegendes Luxus-Gebäude wurde mit Feuerwerk beschossen", beschreibt die autonome Gruppe ihre persönlichen Eindrücke.

Aus dem Polizeibericht geht Ähnliches hervor, mit dem Zusatz, dass erst Polizeiautos, dann Polizeikräfte mit Steinen beworfen wurden, interessant hier die Formulierung der "seitlichen Begleitung" und Anmerkungen zur Pyrotechnik:

Im Bereich Rigaer Straße Ecke Zellestraße versuchten gegen 22.30 Uhr Demonstrationsteilnehmer einen Beamten in den Aufzug (gemeint ist die Demonstration, Anm. d.V.) zu ziehen, was durch andere Einsatzkräfte und dem Einsatz von Pfefferspray verhindert werden konnte. Danach wurde Pyrotechnik abgebrannt und Polizeifahrzeuge mit Steinen beworfen.

Im weiteren Verlauf griffen Teilnehmer des Aufzuges gegen 22.40 Uhr mit Fußtritten und Faustschlägen die Einsatzkräfte an, die den Aufzug seitlich begleiteten. Dabei wurde ein Beamter verletzt, der nach ambulanter Behandlung vom Dienst abtreten musste. In der Frankfurter Allee bemerkten die Polizisten Pyrotechnik, eine sogenannte Kugelbombe, die von Kriminaltechnikern mitgenommen wurde.

Noch einmal dazu die andere Sicht:

Als die Menschen die Frankfurter Allee erreichten, und die Demospitze bereits in die Voigtstraße einbog, setzten sich erste behelmte Schweine an die Demo, um diese provokant zu begleiten. Dies wurde von Teilnehmern entschlossen mit Stein & Flaschenwürfen beantwortet, woraufhin diese sich wieder entfernen mussten. Was diese behelmten Schweine, gegen welche sich die Versammlung zum großen Teil überhaubt(!) richtet, auf unserer Demo zu suchen haben, fragen wir uns. Wir wollen und brauchen sie nicht! VERPISST EUCH!

An der Gewalteinstellung der "Straßenkampf-Verteidiger der Rigaer-Straße" gibt es wenig Zweifel, wie an mehreren Stellen der Darstellung ihrer Sache ersichtlich wird. Es geht um Schlägerstolz, schließlich sehen sie sich umgeben von Schlägerbanden. Aus der Hausmitteilung Rigaer Straße 94:

Als erstes haben reihenweiße Securities unter unserem Druck nachgegeben. Sie waren überall im Haus positioniert und wir konnten ihnen in eindeutigen Ansprachen glaubhaft vermitteln, dass der einzige Grund für ihre körperliche Unversehrtheit die anwesenden Bullen sind. Eine Gruppe der ab der ersten Stunde eingesetzten Securities sind wieder gegangen worden.

Das Kalkül dazu:

Wir sind froh, dass jetzt doch langsam mal eine kritische Öffentlichkeit entsteht. Das Risiko für Henkel, dass das sein Untergangsspektakel wird, ist groß. Wir erinnern uns, dass genau das die Kampfansage der Rigaer nach Bekanntwerden der Räumungsgefahr war.

Dabei hat die Brutalität und Primitivität seiner gezüchteten Schlägerbande keinen unerheblichen Anteil: mit dem Angriff auf uns haben sie die Nachbarschaft angegriffen. Dass "der rebellische Nordkiez" keine Erfindung der Autonomen ist, dass wir hier sehr wohl solidarische Strukturen haben, zeigen die Auseinandersetzung auf der Straße.

Nun mag die Sache nach diesen Kostproben des Kampf-Jargons für manche klar sein: Krawall-Chaoten, die in einer Retro-Berliner-Ideologie-Blase festsitzen. Mit denen nicht zu reden ist.

So sieht das der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) und so bringt es der CSU- Generalsekretär Andreas Scheuer auf den Punkt - auch er wühlt dabei in der Wortkiste alter Frontkämpfe: Er spricht von "Staatsfeinden". Selbstverständlich ist er gegen Verhandlungen:

Die Brandstifter und Autoabfackler zu Gesprächskreisen einzuladen, ist eine politische Bankrotterklärung.

Gegen ein Gespräch sind auch autonome Gruppen des Protestes. Zu einem Gesprächsangebot von Bürgermeister Müller und dem Abgeordneten Lauer erklären sie sich nicht bereit. Sie fordern den Abzug der Polizei und der Sicherheitsfirmen sowie die Rückgabe von Räumen an die Hausgemeinschaft, die von der Polizei im Auftrag der Lafone Investment Limited mit Sitz auf den Britischen Jungferninseln geräumt wurde.

Interessant ist, dass sowohl der Polizeibericht wie auch der Bericht der autonomen Gruppen die Teilnehmerzahl der Demonstranten auf c.a. 3.500 beziffern. Das heißt, dass es hier nicht um Spezialinteressen einiger Hausbesetzer geht.

Es zeigt sich auch, dass nicht alle auf Krawall aus waren. Das ist festzuhalten, jenseits der üblichen Konkurrenzen der Erzählungen, wer nun welchen Anteil an der Gewalteskalation hat. Die Polizei, so weiß jeder, der Erfahrungen bei Demonstrationen gemacht hat, ist ebenfalls dazu bereit und trifft dabei auch Unschuldige.

Henkel: Politik mit Polizeipräsenz

Dass Innensenator Frank Henkel, darauf bedacht mit der Rolle des Politikers, der mit starker Hand eine Lösung sucht, Wahlkampf macht, ist ein Fehler gewesen, der viele Bewohner des Viertels vor den Kopf gestoßen hat ("Wir leben wie im Gefängnis"), beklagt werden auch Grundrechtseinschränkungen durch die starke Präsenz der Polizei und der Gefahrengebietsverordnung.

Sie stehen der Bautätigkeit von Investoren sehr kritisch gegenüber, weil es das Viertel verändern wird, Stichwort: Gentrifizierung. Die Polizei wird teilweise als Schutzmacht der Interessen von kapitalstarken Unternehmen wahrgenommen. Darin steckt ein Ohnmachtsgefühl. Zumal in Zeiten, wo die Sozialpflichtigkeit des Eigentums abrandaliert wurde zugunsten des Gesetzes des Stärkeren in der wirtschaftlichen Konkurrenz.

Es wäre die Angelegenheit von politischen Repräsentanten zu zeigen, dass dieses Gefühl der realen Grundlage entbehrt. Frankfurt wäre ein Beispiel dafür, welche Fehler gemacht werden. Ergebnis: "Wohnen wird teurer."