Berliner Anschlag: Gravierende Fehleinschätzungen im Fall Amri
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Medienberichte legen nahe, dass die Gefahr, die von dem überzeugten Dschihadisten ausging, von den deutschen Behörden mehrfach unterschätzt wurde
Jüngste Veröffentlichungen zum Fall Anis Amri erhärten den Eindruck, dass die Einschätzung der Dschihadisten von deutschen Behörden neu justiert werden muss. Nimmt man hinzu, wie die politische Berichterstattung zum Syrien-Konflikt hauptsächlich ausgerichtet ist, so verstärkt sich auch im größeren Rahmen der Gedanke, dass die Entschlossenheit von Dschihadisten, einen Staat, den sie zum Feind erkoren haben, mit allen Mitteln zu bekämpfen, wobei besonders die Zivilbevölkerung im Visier steht, bisher unterschätzt wird.
Abschiebeanordnung möglich, aber nicht angewendet
Die bestehende Gesetzeslage hätte ausgereicht, gegen Anis Amri eine sofortige Abschiebeanordnung zu erlassen. Selbst wenn man die Weigerung Tunesiens, die Staatsbürgerschaft Amris anzuerkennen und ihn aufzunehmen, berücksichtigt, hätte die Anordnung Amri zu "schärfsten Meldeauflagen" verpflichtet. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die Kontrollen engmaschiger sind. Amris Bewegungsfreiheit wäre deutlich eingeschränkt gewesen. Schon ein kleiner Verstoß gegen die Auflagen hätte genügt, um ihn zu inhaftieren.
Stattdessen verloren die Behörden ab Ende September jegliche Spur des Mannes, der nach dem gegenwärtigem Erkenntnisstand als Attentäter des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19.Dezember 2016 gilt. Dass der § 58a des Aufenthaltsrechts, der eine Abschiebung "aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" vorsieht, auf Amri nicht angewendet wurde, lag an der Fehleinschätzung der Gefährdungslage.
Dies geht aus Recherchen von Georg Mascolo, Hans Leyendecker, Georg Heil, und Lena Kampf hervor. Demnach hat ein Treffen des Gemeinsamen Terrorabwehrsystems (GTAZ) im Juli 2016 eine Chance vertan. Die Vertreter des Bundesinnenministeriums, des Bundeskriminalamtes, des Verfassungsschutzes wie auch der Länder und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) befassten sich zwei Tage lang mit dem "aufenthaltsrechtlichen Status von gefährlichen Islamisten".
"Keine akute Gefährdungslage"
Die "AG Status" kam laut SZ bei Anis Amri zum Fazit, dasse eine "akute Gefährdungslage derzeit nicht in gerichtsverwertbarer Form vorliegt".
Eine Anordnung nach §58a gelte als die "schärfste Maßnahme, die das Ausländerrecht gegen potenzielle Terroristen vorsieht", erklärt der Tageschau-Bericht, an dem Mascolo ebenfalls mitgewirkt hat. Gegen einen Ausländer, "der als gefährlich erachtet wird", könne auf Grundlage des §58a eine sofortige Abschiebungsanordnung erlassen werden. "Nur oberste Landesbehörden - oder der Bundesinnenminister - dürfen diese Maßnahme anordnen."
Zu erfahren ist auch, dass die Kommission Staatsschutz die Gefahr, die von Amri ausging, in einem achtstufigen Prognosemodell mit einer 5 bewertet habe, was bedeutet, dass die Gefahr als "eher unwahrscheinlich" eingestuft wurde. "Die 1 steht dafür, dass mit 'einem gefährdenden Ereignis' zu rechnen ist. Die 8 bedeutet, man könne es ausschließen."
Dieser Einstufung steht nicht nur die vom Tagesschau-Bericht - ohne zeitliche Angabe - zitierten Notiz des BKA gegenüber, wonach Amri "für radikale Ansichten und Ansinnen empfänglich sein dürfte", sondern eine ganze Menge von Hinweisen und Indizien, die den Sicherheitsbehörden bekannt waren, die das Bild eines Mannes ergeben, der radikale Ansichten in die Tat umsetzen wollte.
Auffällige "radikal-islamistische Gesinnung"
Die italienischen Behörden war seine radikal-islamistische Gesinnung bereits in der Haft aufgefallen. Laut Tagesschau-Bericht gab es einen Eintrag aus Italien, demzufolge ihm die Einreise und den Aufenthalt im Schengenraum zu verwehren sei. Schon nach der Einreise in Deutschland, die aufgrund dieses Eintrags gar nicht hätte passieren dürfen, bewegte sich Amri im radikal-salafistischen Netzwerk des Predigers Abu Walaa.
Ein Informant des LKA-Nordrhein-Westfalen, der in diesem Netzwerk tätig war, berichtete im November 2015 davon, dass Amri "etwas in Deutschland unternehmen wolle ", er könne eine Kalaschnikow für einen Anschlag besorgen.
Im Januar 2016 notiert dann das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Amri reise unter verschiedenen Identitäten nach Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Dabei werbe er "offensiv" darum, mit ihm Anschläge zu begehen. Die Waffen wolle sich Amri in der französischen Islamisten-Szene besorgen, das notwendige Geld durch Einbrüche und Überfälle beschaffen.
Tagesschau
Es gab Hinweise vom marokkanischen Inlandsgeheimdienst DST, die eine Gefahr durch Amri nahelegten. Dazu Auswertungen des Handys von Amri, das im Februar 2016 sichergestellt wurde. Demnach sei Amri auf einer islamistischen Webseite gesurft, um nach Anleitungen zum Bau von Rohrbomben zu suchen.