Bernhard Kouchner - der katastrophale Humanist
Der neue französische Außenminister ist der Vater aller Menschenrechtskriege
Als größten Coup Nicolas Sarkozys bezeichnete es die Frankfurter Allgemeine, Bernhard Kouchner von den Sozialisten abgeworben und zum Außenminister gemacht zu haben. Der neue Staatspräsident hatte im Wahlkampf versprochen, auswärtige Angelegenheiten nicht länger nur interessengeleitet zu betreiben, und unterstrich mit der Nominierung des militanten Menschenrechtlers Kouchner den Ernst seiner Absichten. Und Sarkozy bekam, was er bestellt hatte. Kaum im Amt, schickte der Mitbegründer der Initiative „Ärzte ohne Grenzen“ sich gleich an, seinem 2004 erschienenen Buch „Die Krieger des Friedens - vom Kosovo bis zum Irak“ mit dem Iran ein neues Kapitel hinzuzufügen. „Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Das ist der Krieg“, sagte er in einem Interview zum Atom-Konflikt mit dem Land. Auf dem langen Weg zu sich selbst ist der Ex-68er über sein humanitäres Engagement zu einem veritablen Waffenfreund mutiert.
Als „den ersten unserer Präsidenten, für den unsere Beziehungen zum Rest der Welt klar von den Errungenschaften der antitotalitären Bewegungen der 70er und 80er Jahre inspiriert sind“, charakterisierte der französische Philosoph Bernhard-Henri Levy Nicolas Sarkozy. Im Gegensatz zu ihm und seinem Kollegen Alain Finkielkraut haben sich deshalb nicht wenige der damaligen Aktivisten für den starken Mann stark gemacht. „Weil der sich für die Schwachen einsetzt, die Unterdrückten“, bekannte sich André Glucksmann zu ihm, während Bernhard Kouchner sich gleich als Mitstreiter anbot und Sarkozys Ruf ins Außenministerium folgte. Und wenn das, was Mitte der 70er Jahre als linke Selbstkritik begann, schließlich bei den Rechten landete, entbehrt das nicht einer gewissen Logik.
Der französische Antitotalitarismus
Ihren Ausgangspunkt nahm die Entwicklung im Nachbarland mit dem „Archipel GULAG“. In keinem anderen Staat hat das Buch Alexander Solschenizyns eine solche Wirkung entfaltet wie in Frankreich. Bernhard-Henri Levy bezeichnete den Schriftsteller als „Dante unserer Zeit“, Glucksmann schrieb lange Artikel über ihn und Bernhard Pivot lud den Dissidenten 1975 in seine populäre Kultursendung ein. Seine Zeugenschaft über das sowjetische Lagerwesen brachte das politische Koordinatensystem vieler Pariser Intellektueller zum Wanken. Die „Neuen Philosophen“ sorgten für Ersatz und bauten um Solschenyzin herum ein ganzes Denkgebäude auf.
Inspiriert von seinem Schicksal brachen sie mit den großen Theorien der „Meisterdenker“ und stellten stattdessen den Einzelnen in den Mittelpunkt. Dessen konkrete Situation im Hier und Jetzt galt es zum Ausgangspunkt politischer Betrachtungen zu nehmen. Glucksmann & Co. waren nicht länger bereit, im Namen einer verheißungsvollen Zukunft Unterdrückungsmaßnahmen zu akzeptieren, und beförderten das Opfer zum neuen politischen Subjekt, das die Arbeiterklasse ersetzte. Die Menschenrechte lieferten die dazu passende Weltanschauung. Und diesen „Humanismus der schlechten Nachricht“ fand André Glucksmann 1978 in beispielhafter Weise durch Bernhard Kouchner verkörpert, der sich mit seiner „Ein Schiff für Vietnam“-Kampagne gerade den vor den Kommunisten flüchtenden „Boat People“ annahm.
Kouchners langer Weg zu sich selbst
Bernhard Kouchner, 1939 als Sohn eines Arztes jüdischer Abstammung und einer Protestantin geboren, war schon mit 14 Jahren der kommunistischen Jugendorganisation beigetreten, wie Paul Berman in seinem Buch „Idealisten an der Macht“ schreibt. Der besonderen Gefährdungslage Kubas nach der gescheiterten US-Invasion gewahr, wollte der junge Heißsporn sich 1961 gemeinsam mit seinem Freund Régis Debray freiwillig zur Verteidigung des Sozialismus melden, erhielt von der Botschaft aber eine abschlägige Antwort. So musste er seinen Aktionsradius weiter auf Frankreich beschränken.
Er protestierte gegen den Algerien-Krieg und schob als Teil der „linken Wache“ vor dem Haus von Simone de Beauvoir Dienst, um sie vor rechtsextremen Anschlägen zu schützen. Als Daniel Cohn-Bendit sich auf die Fahnen schrieb, „zwei, drei, viele Pariser Mais“ zu schaffen, lieh ihm Kouchner für klandestine Grenzüberschreitungen zwecks Belebung der Importgeschäfte seinen Wagen. Parallel dazu betrieb der l‘homme politique eifrig sein Medizinstudium. Seine Doktorarbeit schrieb er über die gesundheitlichen Folgen der Mangelernährung bei Afrikanern - und widmete sie Che Guevara.
Dieses Interesse bestimmte auch sein weiteres Engagement. 1968 suchte er nicht den Strand unter dem heißen Pariser Pflaster, sondern reiste für das Rote Kreuz in das nigerianische Biafra. Dort leistete er während des Bürgerkrieges medizinische Nothilfe. Ähnliche Missionen führten ihn anschließend nach Peru, Liberia und Bangladesh. Immer wieder haderte er dabei mit der Neutralitätspflicht, die sich die Organisation auferlegt hatte, weil sie der Überzeugung war, in Kriegszeiten nur so einem von allen Kontrahenten akzeptierten humanitären Auftrag nachkommen zu können.
Deshalb gründete der Mediziner 1971 zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen seinen eigenen Eingreiftrupp, die Ärzte ohne Grenzen. Neun Jahre später kam es zum Bruch. Seine Mitstreiter stießen sich an Kouchners Kunst des Spektakels, die aus der „Ein Schiff für Vietnam“-Kampagne eine Sache für „tout Paris“ im Allgemeinen und Dichter und Denker wie Sartre, Foucault und Glucksmann im Besonderen gemacht hatte. „Ein Schiff für St. Germain“ nannten sie den Event-Humanismus giftig. Kouchner ging von Bord und rief die Médicines du monde ins Leben.
Seit den 80er Jahren streckt auch die Politik ihre Hand nach dem als „French Doctor“ zu einiger Popularität gekommenen Aktivisten aus. 1988 bekleidete er unter François Mitterrand das Amt eines Staatssekretärs für humanitäre Aufgaben. 1992 bekam er noch das Gesundheitsministerium dazu. Von 1994 bis 1997 saß er für die parti socialiste im Europaparlament, in die er 1998 auch eintrat. Vom Juli 1999 bis zum Jahr 2001 ging er als Hochkommissar der UNO in den Kosovo. Bei den Vereinten Nationen konnte Bernhard Kouchner seine Karriere dann allerdings nicht fortsetzen: Bewerbungen zum Hochkommissar für Flüchtlingsfragen und Präsidenten der Weltgesundheitsorganisation scheiterten 2005 bzw. 2006. Da bot ihm Sarkozys Politik der „ouverture“, die vielen Sozialisten unmoralische Seitenwechselangebote machte, die willkommene Gelegenheit, doch wieder international mitzuspielen.
Die hilflosen Helfer
So hat sich für Bernhard Kouchner ein Kreis geschlossen. Er kam über den linken Aktivismus zum humanitären Engagement, wollte bei seinen Krisen-Einsätzen aber keine politische Enthaltsamkeit üben und gelangte über einen integrierten Ansatz mit den von ihm mitbegründeten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wieder zur Politik zurück. Der Unmut über die Hilflosigkeit des Humanitären ereilte dabei nicht Kouchner allein. Der ehemalige Vize-Präsident der „Ärzte ohne Grenzen“ und von Sarkozy jüngst zum französischen Botschafter im Senegal ernannte Jean-Christophe Rufin verfasste mit „Le Piège humanitaire“ (Die Falle des Humanitären) ebenso ein Klageschrift wie der ehemalige Direktor der UNESCO-Menschenrechtsabteilung Pierre de Senarclens mit „L‘Humanitaire en Catastrophe“ (Das katastrophale Humanitäre) oder David Rieff mit „A Bed for the Night - Humanitarismus in Crisis“.
Immer wieder mussten NGOs die Erfahrung machen, dem Elend nicht gewachsen zu sein. Sie konnten oftmals nicht einmal verhindern, Teil der Kriegsplanungen zu werden. Warlords oder Guerilla-Anführer nutzen die Nahrungsmittellieferungen als strategische Ressource, erhoben Steuern von den lokalen Mitarbeitern der Hilfsorganisationen und nutzten die Flüchtlingslager als Rückzugs- oder Rekrutierungsgebiete. Die Gefährlichkeit der Einsätze - nach den Angaben Pierre de Senarclens‘ starben allein bis Mitte 1999 ca. 300 Beschäftigte von Nichtregierungsorganisationen bei den Missionen - ließ zudem militärischen Schutz immer notwendiger erscheinen, was wiederum den überparteilichen Status der humanitären Helfer unterminierte.
Angesichts ihrer Ohnmacht forderten deshalb viele NGOs „robustere Mandate“. „Mit Ärzten und Keksen verhindert man keinen Genozid, sondern nur, indem man gegen die Verursacher von Völkermorden vorgeht“, sagte Jean-Hervé Bradol von „Ärzte ohne Grenzen“ 1994 angesichts der Situation in Ruanda. Bernhard Kouchner gehörte zu denjenigen, die sich am vehementesten für solche „humanitären Interventionen“ stark machten. Bei jeder Krise, vom jugoslawischen Bürgerkrieg bis zum Irak, plädierte er für militärisches Eingreifen. Und George W. Bush nahm er 2003 nur übel, die Kriegsgründe so dilettantisch ausgewählt zu haben, statt einfach die Menschenrechte in Anschlag zu bringen.
„Bist Du sicher, dass Du den Krieg nicht magst?“, fragte Daniel Cohn-Bendit Kouchner deshalb in ihrer gemeinsam herausgebrachten Allmachtsfantasie „Quand tu seras président“ (Wenn Du Präsident wärst ...), und der Angesprochene antwortete: „Ich mag den Krieg nicht. Ich mag es, Krieg gegen den Krieg zu führen - eine Variation, die in den Augen der Psychoanalytiker hoffentlich für meine geistige Gesundheit spricht.“
Die neue Weltunordnung
Allerdings setzt das Völkerrecht diesem Tatendrang enge Grenzen, da es die Souveränität der Staaten festschreibt. Aus diesem Grund machte Bernhard Kouchner sich seit Ende der 80er Jahre daran, auf internationaler Ebene die juristischen Grundlagen für eine Aushöhlung dieses Rechtsinstitutes zu schaffen. Deshalb kann man ihn als den Vater aller Menschenrechtskriege bezeichnen. 1988 erarbeitete er gemeinsam mit dem Juristen Mario Bettati für die Vereinten Nationen eine Beschlussvorlage zum Recht, Opfern zu helfen. „Kouchner wertete sie als die erste Bestimmung in der Geschichte des Völkerrechts, durch die ein Opfer das Recht erhielt, sich von einer anderen Institution als dem eigenen Staat vertreten zu lassen“, kommentiert Berman. Zwei Jahre später brachte der Arzt eine Vorlage zur Schaffung von humanitären Korridoren zur Versorgung von Flüchtlingen ein. Damit war der Damm gebrochen: In seiner Erfolgsbilanz führte Kouchner später nicht weniger als 350 Resolutionen zugunsten des Droit d‘ingérence (Recht auf Einmischung) auf.
Nicht umsonst begannen diese Initiativen Ende der 80er Jahre. Mit dem Ende des Kalten Krieges setzte nämlich wider Erwarten nicht der Ewige Frieden ein - im Gegenteil. Jean-Christophe Rufin nennt in der Neuauflage von „Die Falle des Humanitären“ die Gründe dafür. Die Block-Konfrontation hatte die Welt gespalten und kaum einen Flecken „terra incognita“ übrig gelassen. So beschwor sogar noch ein Konflikt in den entlegensten Regionen sofort die Gefahr eines großen Krieges herauf, was deeskalierend wirkte.
Zwar gab es auch in dieser Zeit zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen mit teilweise schlimmen Folgen für die Zivilbevölkerung - so führte etwa der Bürgerkrieg in Mosambik zu der Vertreibung von ca. fünf Millionen Menschen - , aber von „humanitären Katastrophen“ sprach damals niemand. Es hielt sich alles noch relativ im Rahmen: Die Sowjetunion unterstützte linksgerichtete Rebellenorganisationen und die USA ihre rechten Pendants. Das bedeutete für die Gruppen „Ressourcensicherheit“ und sorgte für eine relativ kalkulierbare politische Agenda, obwohl „Sozialismus“ für viele auch damals schon einfach nur ein Wort war.
Das Ende des Ost/West-Gegensatzes hat dann aber veritable „Niemandsländer“ entstehen lassen, für die kein Staat mehr „nationales Interesse“ aufbrachte. Das lieferte sie einem unbestimmten Schicksal aus und beförderte Auflösungstendenzen. Heutzutage agieren etwa in Darfur nicht weniger als 20 Rebellengruppen. Nunmehr ohne Unterstützung aus dem Ausland basiert die Kriegsökonomie solcher Kämpfer zu einem großen Teil auf dem illegalen Handel mit Drogen, Waffen oder Bodenschätzen, und als Akteure ersetzen Warlords zunehmend die Guerilla-Kommandanten alten Schlags.
Der völlig losgelöste Kapitalismus, der nach seinem historischen Sieg so viel
Regulationsmechanismen wie möglich auf den Müllhaufen der Geschichte warf, tat dann ein Übriges, um „failing states“ zu produzieren. Das Heilmittel sollte dabei ebenfalls aus dem eigenen Medizinschrank kommen. Die Neoliberalisierung der Entwicklungshilfe ließ vermehrt die Nichtregierungsorganisationen auf den Plan treten. Sie agieren teilweise wie Global Player des Humanitären und konkurrieren um die großen Töpfe der Institutionen. So erhalten die „Ärzte ohne Grenzen“ 25 Prozent ihres Etats von der EU und zeigen sich auch Großspenden aus der Wirtschaft gegenüber nicht abgeneigt, was ihre Unabhängigkeit ein wenig in Frage stellt. Und wenn sich dann mancherorts 30-40 NGOs gemeinsam an das „State-Building“ machen, verringert das die „neue Unübersichtlichkeit“ auch nicht gerade - eine kohärente Entwicklungshilfepolitik sieht anders aus.
Diese neue Weltunordnung erzeugte Handlungsbedarf, der dank der neu geschaffenen völkerrechtlichen Instrumente auch gedeckt werden konnte. So begann 1992 in Somalia die Ära der „humanistischen Interventionen“. Es folgte 1994 die US-amerikanische „Operation Uphold Democracy“ in Haiti, dann kamen die Militäraktionen im Jugoslawien-Krieg, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. Auch wenn in den beiden letzten Fällen der „Krieg gegen den Terror“ zur Begründung diente - ein bisschen „Menschenrechte“ musste immer dabei sein.
In diesem Jahr steht nun die sudanesische Krisenregion Darfur auf der Agenda. Bernhard Kouchner hatte Anfang Juni die Einrichtung „humanitärer Korridore“ gefordert, damit aber keinen Erfolg gehabt. Der frühere Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“, Rony Brauman, bestritt die Notwendigkeit, da sich die Opferzahlen momentan in Grenzen halten, und warnte vor „westlichen Allmachtsphantasien“. Für Jean-Hervé Bradol, den nunmehrigen Chefarzt der Organisation, war Kouchner schlichtweg zum Opfer einer „politischen Kampagne neokonservativer Provenienz“ geworden. Der Außenminister musste nach so viel Gegenwind von seinen Plänen schließlich Abstand nehmen, aber die für den Herbst angesetzte 26.000 Mann starke Blauhelm-Mission der UN tröstete ihn darüber hinweg.
Von der „humanitären Katastrophe“ zum katastrophalen Humanitären
Von der „humanitären Katastrophe“ bis zur „humanitären Intervention“ ist es oftmals nur ein kleiner Schritt, weil nichts Politisches dazwischen steht. „Katastrophe“ - das gemahnt an dunkle Schicksalsmächte, die plötzlich und unerhofft das Unglück über die Welt hereinbrechen lassen; das Adjektiv „humanitär“ signalisiert dabei nur, dass viele Menschen betroffen sind. Und weil Katastrophen keine Geschichte haben, können Frühwarnsysteme nichts ausrichten.
In dem von „Human Rights Watch“ herausgegebenen Buch „Kein Zeuge darf überleben“ heißt es über die Ursachen des Völkermordes in Ruanda schlicht „Sie waren Menschen, die sich entschieden hatten, Böses zu tun.“ Auch André Glucksmann kennt nur noch „Das Gute und das Böse“, wie ein Buchtitel von ihm lautet, und gleich seinem Kumpel Kouchner nicht nur keine Parteien, sondern im Grunde genommen auch keine Politik mehr. Die Post-Politik der beiden kommt deshalb immer notorisch zu spät - dann aber gewaltig, denn es gilt, die Verzögerung wettzumachen. Munitioniert mit den Schreckensbildern der Medien, deren Aufmerksamkeitsökonomie ebenfalls erst anläuft, wenn unheilvolle Entwicklungen zu einem veritablen „Ereignis“ geronnen sind, üben sie sich in Alarmismus.
Das Wort „Auschwitz“ geht Kouchner in seinen emotionalen Interventionen stets leicht über die Lippen, um ein Ende der Diplomatie zu präjudizieren und zu den Waffen zu rufen. Skrupel überfallen ihn dabei nicht, geschieht doch alles im Namen eines Wertekanons, an dessen universeller Geltung seiner Meinung nach kein Zweifel besteht: den Menschenrechten. So gelangen die hilflosen Helfer dann allzuschnell von A nach B, vom Altruismus zum Bellizismus.
Ruanda - die Anatomie eines Völkermordes
Dabei bestehen berechtigte Zweifel daran, ob es so etwas wie eine „humanitäre Katastrophe“ überhaupt gibt. So hatte der Völkermord in Ruanda politische Ursachen, und er begann auch nicht aus heiterem Himmel, wie Christoph Krämer in der vom IPPNW herausgegebenen Broschüre Globalisierung, Krieg und Intervention knapp darlegt. Den Grundstein zu dem Konflikt legten die deutschen und belgischen Kolonialherren im 19. und 20. Jahrhundert, indem sie willkürlich Grenzen zogen und die „Tutsi“ zu ihren Statthaltern und Herrschern über die „Hutu“ beförderten.
Knapp 100 Jahre später machten die USA und Frankreich die Gruppen zu Spielfiguren ihrer Interessenspolitik. Die Vereinigten Staaten wollten den französischen Einfluss in Ruanda zurückdrängen, um von dort aus besser auf die Bodenschätze des Kongo zugreifen zu können, und rüsteten zu diesem Zweck die Ruandische Patriotische Front (RPF) im Basislager Uganda auf. Deren Oberhaupt Paul Kugame durfte erst einmal ein wenig als Geheimdienstchef der ugandischen Armee üben und vertiefte dann seine Kenntnisse auf einem Bildungsurlaub bei der US-Armee in Fort Leavensworth. Die Franzosen sahen dem Treiben indessen nicht tatenlos zu und verstärkten ihrerseits die Unterstützung für die Hutu-Regierung. Sie schmuggelten Geld an den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank vorbei, so dass der militärische Sektor prosperierte, während gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser schlossen.
Die Situation schaukelte sich immer mehr hoch, befeuert noch durch die am Boden liegende Wirtschaft, welche die Kriegsökonomie besonders für arbeitslose junge Männer attraktiv erscheinen ließ. Die Folge war ein von den Hutu-Truppen verübter Genozid, der binnen 100 Tagen 500.000 bis eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu das Leben kostete, bevor es der RPF gelang, das Schlachten zu beenden. Deren Oberbefehlshaber Paul Kugame stieg anschließend zum Präsidenten Ruandas auf. Gleich nach seinem Machtantritt startete er eine Anglisierungskampagne und brach die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab.
Die neue alte Afrika-Politik
Auch die französische Darfur-Politik folgt strategischen Erwägungen. Kouchners Vorschlag, zum Schutz der in den Tschad geflüchteten Sudanesen eine Truppe zusammenzustellen, hat vor allem den Zweck, die Lage in dem Land selber zu stabilisieren, zu dessen autoritärer Führung Frankreich seit langem hält.
Hatte der europäische Staat auf dem Kontinent früher schamlos seine wirtschaftlichen Interessen durchgesetzt, gelobte Sarkozy bei seinem Amtsantritt Besserung (Nach der "Françafrique" kommt jetzt "Sarkafrique"). Die Zeiten, in denen sich Öl-Manager in Gabun und Kamerun als Königsmacher betätigten wie 1967 bzw. 1982, sollten ebenso vorbei sein wie jene, in denen Bernhard Kouchner einmal Menschenrechte Menschenrechte sein ließ und Totals Treiben in Burma per 25.000-Dollar-Gutachten seine Absolution erteilte, was seine Wirkung in einem von Zwangsarbeitern angestrengten Prozess nicht verfehlte.(Bernard Kouchner und die Zwangsarbeit in Burma) Anlässlich eines Besuches in Benin kündigte Nicolas Sarkozy 2006 eine Neuausrichtung der französischen Afrika-Politik an, und in seiner Regierungserklärung versprach er: „Die Verteidigung der Menschenrechte und die Bekämpfung des Klimawandels werden Priorität im außenpolitischen Handeln Frankreichs haben“.
Im Juli machte der Politiker jedoch dem Patriarchen Omar Bongo seine Aufwartung, der bei seinem Amtsantritt alle Parteien mit der Begründung, sie seien ein Erbe des Kolonialismus, abgeschafft hatte. Er erließ dem Alleinherrscher 50 Millionen Euro Schulden und wand sich mit Erklärungen, dass „der Älteste in Afrika respektiert werden muss“. Von Journalisten zur Rede gestellt, gab Sarkozy schon nach knapp drei Monaten Amtszeit seine Läuterung zum Realpolitiker zu erkennen: „Ich sage nicht, dass dies erträglich ist. Ich sage, dass es (nun mal) eine Realität ist.“ Beim Staatsbesuch im Senegal fand er dann auch noch gute Seiten am Kolonialismus. „Er hat genommen, aber ich möchte voll Respekt sagen, dass er auch gegeben hat. Er hat Brücken, Straßen, Krankenhäuser, Gesundheitsstationen, Schulen errichtet. Er hat jungfräuliche Landstriche fruchtbar gemacht“, schwadronierte der Präsident in seiner Rede und bat um Gnade für die Kolonialherren: „Es gab schlechte Männer unter ihnen, aber es gab auch Männer guten Willens unter ihnen, Männer, die glaubten, eine zivilisatorische Mission zu erfüllen.“
Ein Imperialismus mit menschlichem Antlitz
Zu diesem Behufe hatte der französische Jurist Antoine Rougier nach Angaben von Pierre de Senarclens schon im Jahr 1910 eine „Théorie de l‘Intervention d‘Humanité“ entwickelt, die den „zivilisierten Nationen“ die Handhabe geben sollte, Maßnahmen gegen die Tyrannei zivilisationsfernerer Staaten zu ergreifen und ihre Kolonialheere zu Heilsarmeen umzuwidmen. Besonders gern umgab Mitterand die französische Geopolitik auf dem afrikanischen Kontinent mit dem Flor des Menschenrechtlichen.
Heutzutage steht das Humanitäre sogar dem bösen Wort „Imperialismus“ bei. „Ich vergleiche die EU gern mit einem Imperium. Wir sind das erste nicht imperiale Imperium“, sagte etwa EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Der britische Diplomat Robert Cooper konkretiserte diese Vorstellungen: „Gebraucht wird eine neue Art des Imperialismus, eine, die für eine Welt der Menschenrechte und kosmopolitischen Werte akzeptabel ist“, schreibt der einstige Sicherheitsberater von Tony Blair und Romano Prodi - und liefert sie im selben Atemzug.
„Voluntary imperialism“ - einen Imperialismus auf freiwilliger Basis - oder wahlweise „postmoderner Imperialismus“ nennt er seinen Imperialismus mit menschlichem Antlitz. Dieser schafft ihm zufolge eine „win/win-Situation“: „Der Schwache braucht noch immer den Starken, und der Starke braucht noch immer eine geordnete Welt, in welcher eine effiziente und gut regulierte Export-Stabilität, Freiheit und eine Offenheit für Investitionen und Wachstum immens erstrebenswert erscheinen.“ Für die erste Form des neuen Imperialismus sorgt nach Cooper die globalisierte Weltwirtschaft selber. Die zweite Form nennt er den „Imperialismus der Nachbarn“ und verlangt schon etwas mehr Engagement. Sie ist es aber auch wert, denn „Instabilität in der Nachbarschaft stellt eine Bedrohung dar, die kein Staat ignorieren kann“. Mit dieser Bestimmung nähert sich Cooper allerdings dem Machiavellismus Herfried Münklers an, der laut Percy Anderson Menschensrechtsmessianismus für moralischen Luxus hält und die neuen Kriege eher machiavellistisch erklärt:
„Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen ‚imperialen Barbarengrenzen‘ der Krieg endemisch wird“, prophezeite er in einem Interview.
Menschenrechtler üben Selbstkritik
Zwar distanzierte sich Kouchner jüngst mit Blick auf die US-amerikanische Irak-Politik vom „demokratischen Imperialismus“, dabei ging es ihm aber nur um einen Methodenstreit. An dem von ihm mitbegründeten „Recht auf Einmischung“ hält er unbeirrt fest. Seine Drohgebärden gegenüber dem Iran vom Schlage: „Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Das ist der Krieg“ lassen trotz vager Distanzierungsversuche das Schlimmste befürchten und nur hoffen, dass die im Irak gerade schon ein „Worst Case Scenario“ realisierenden USA momentan keine Lust auf einen weiteren Drehort haben.
Eine deutlichere Selbstkritik hat dagegen der kanadische Politikwissenschaftler Michael Ignatieff geübt. Der ehemalige Direktor des „Carr Center for Human Rights“ an der Harvard-Universität hatte sich für den Irak-Krieg ausgesprochen und ging deshalb in einem Artikel in der New York Times hart mit sich ins Gericht. Dabei meinte er damals die besten Gründe für seine Entscheidung beanspruchen zu können: Er war vor Ort.
Ignatieff hatte 1992 den Irak besucht, Husseins Unterdrückung der Kurden hautnah miterlebt und daraus den Schluss gezogen: „Dieser Mann muss weg.“ Aber gerade diese durch persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit Dissidenten verbürgte Haltung hat seiner Meinung nach zu einer Fehleinschätzung geführt. „Die Lehre, die ich daraus gezogen habe, ist, dass ich mich weniger von Menschen beeinflussen lassen möchte, die ich bewundere - ich meine da zum Beispiel Exil-Iraker - und von meinen Emotionen.“ Bei den Exil-Irakern dürfte er dabei auch den in den USA zu einiger Popularität gekommenen Ahmad Chalabi gemeint haben, der unlängst gleichfalls Kritik an der US-amerikanischen Irak-Politik übte, seine eigene Rolle darin jedoch nicht hinterfragte (9/11 made us stupid).
Damit ging Ignatieff auf Abstand zu den zentralen Kategorien, welche die politische Praxis der humanitären Interventionisten bestimmen: die persönliche Zeugenschaft, die moralische Autorität der Opfer im Allgemeinen und der Dissidenten im Besonderen und die auf deren Leidensdruck gründende Handlungsbereitschaft. Für den Wissenschaftler zeigte der Irak-Krieg, dass diese hehren Motive verheerende Folgen haben können. Darum hält er in seinem Mea-culpa-Text fest: „Die Grundlage guter Entscheidungen in der Politik ist der Realitätssinn.“ Damit weiß er sich mit Pierre de Senarclens einig, der zwar „humanitären Interventionen“ nicht grundsätzlich die Legitimation abstreitet, seinem Buch „L‘Humanitaire en Catastrophe“ aber ein Camus-Zitat aus „Der Mensch in der Revolte“ voranstellte:
Gegenüber dieser Verwirrung lehrt uns das Maß, dass jede Moral einen Teil Wirklichkeit enthalten muss: die reine Tugend ist mörderisch, und das jeder Realismus einen Teil Moral braucht: der Zynismus ist auch mörderisch. Deshalb ist das humanitäre Geschwafel nicht begründeter als die zynische Provokation.