Besatzung der Internationalen Raumstation droht Notfall-Evakuierung
Kulinarischer Ausnahmezustand: Raumfahrer wurden auf Diät gesetzt, weil Lebensmittelvorräte unerwartet schnell knapp wurden
Seit dem 16. Oktober 2004 sind der US-Astronaut Leroy Chiao und der russische Kosmonaut Salizhan Sharipov an Bord der ISS. Ihr Aufenthalt soll sechs Monate lang dauern. Doch theoretisch könnte ihre Mission schon in zwei Wochen beendet sein, da die Vorratsräume, in denen sich eigentlich Nahrungsmitteln stauen sollten, langsam aber sicher leerer werden. Wenn der für den 23. Dezember vorgesehene russische Progress-Versorgungsflug erneut verschoben wird, muss die zweiköpfige ISS-Besatzung in die Rettungskapsel steigen und den verfrühten Rückflug zur Erde antreten.
Gourmets, die sich ins All verirrt haben, werden der Leichtigkeit der Schwerelosigkeit, deren "gravierende" Folgen allseits bekannt sind, nur wenig Positives abgewinnen können. Wer im Orbit schwebt, kämpft schon kurze Zeit später gegen Gleichgewichtsstörungen und Knochen- bzw. Muskelschwund sowie andere Gebrechen - und nicht zuletzt gegen Appetitstörungen.
Gaumenfreuden kommen unter mikrogravitativen Bedingungen scheinbar nicht auf, ganz zu schweigen von möglichen Heißhungerattacken. Oft erwies sich das Essen sogar selbst als Appetitzügler. Gab es zu Apollo-Zeiten meist nur Vitaminkapseln und geschmacksarme Trockennahrung, mussten nachfolgende Raumfahrergenerationen in der Regel mit lieblosen Speiseplänen vorlieb nehmen und gefriergetrocknete, in Schweißfolien verpackte oder in Dosen konservierte Lebensmittel konsumieren.
Notfallreserve angezapft
Auf der Internationalen Raumstation, dem größten Außenposten im All, ist das Angebot an Speisen aber weitaus größer und das Essen selbst entschieden deliziöser. Gewiss, bislang hatten die Insassen keinen Grund zur Klage. Die regelmäßigen Versorgungsflüge mit den Shuttle-Fähren und Sojus-Zubringer-Kapseln garantierten immer ein Mindestmaß an frischem Obst, Gemüse, Fleisch und anderen Lebensmitteln. Doch seit dem tragischen Columbia-Unglück vom 1. Februar 2003 ist der Fahrplan auf bzw. um die Internationale Raumstation ISS vollends durcheinander geraten. Mussten die ISS-Astronauten in jüngster Vergangenheit noch technische Schwierigkeiten mit der Wasser- oder Sauerstoffversorgung lösen, so sehen sich jetzt US-Astronaut Leroy Chiao und sein russischer Kollege Salizhan Sharipov, die seit zwei Monaten auf der Internationalen Raumstation ISS schweben, einem Problem gegenüber, das in den letzten offiziellen Presseverlautbarungen der NASA schlichtweg ignoriert wurde.
Hierbei handelt es sich um eine Angelegenheit, die die russische Raumfahrtbehörde Rosaviakosmos schon Tage zuvor ansprach, die NASA jedoch erst auf einer Ende letzter Woche einberufenen Pressekonferenz erwähnte: Um den Speiseplan auf der Raumstation ist es nicht gut bestellt. Bereits seit November bedient sich das Raumfahrer-Duo aus der Nahrungsmittelreserve, weil die Lebensmittelvorräte an Bord der ISS schneller zur Neige gegangen sind als angenommen. Vor allem bei einigen knapp gewordenen Lebensmitteln wie Milch, Fleisch, Brot und Konserven griffen die Raumfahrer auf die "eiserne" Reserve zurück.
Eigentlich darf die für etwa 45 Tage angedachte Notfallreserve - nomen est omen - nur im "Fall der Fälle" angezapft werden, etwa wenn die Versorgungsflüge zur ISS für längere Zeit unterbrochen sind. Zwar sind die Service-Missionen zur orbitalen Station seit dem Columbia-Desaster seltener und schwerer geworden, weil keine US-Shuttles mehr fliegen und die russischen Raumfähren ohnehin weniger Frachtkapazitäten haben. Gleichwohl hievten die russischen Trägersysteme bis vor kurzem turnusgemäß genügend Fracht, sprich Lebensmittel und technisches Equipment, für die zweiköpfige Besatzung ins All. Erst mit dem auf November fixierten Progress-Versorgungsflug, der wetterbedingt und aufgrund technischer Schwierigkeiten mehrfach ins Wasser fiel, verschob sich die wichtige Mission weiter nach hinten. Und bis heute steht sie noch aus.
Zu viel gegessen?
Auch wenn der Nahrungsmittelvorrat nach Angaben russischer Medien noch bis in die erste Januarwoche ausreicht, war dies für die amerikanische Raumfahrtbehörde Anlass genug, die Flucht nach vorn zu ergreifen. Damit wenigstens eine Versorgung bis nach Weihnachten gewährleistet ist, setzte die im Sparen geübte NASA die beiden ISS-Raumfahrer auf Diät.
Anstatt der vorgesehenen 3.000 Kilokalorien darf die Crew schon seit einigen Tagen nur noch etwa 2.700 Kilokalorien pro Kopf täglich zu sich nehmen. "Das stimmt noch mit dem optimalen Wert überein, den der Leitfaden für Nahrungsmittel vorschreibt", erklärt Sean Roden, der leitende Flugarzt der Expedition 10 Crew während einer Pressekonferenz im Johnson Space Center in Houston . "Dies sind großartige Profis, und sie werden all das tun, was von ihnen gefordert und erwartet wird", verdeutlicht Roden. "Sie sind guter Dinge, und es geht ihnen gut." Noch habe es keine Klagen gegeben, so Roden. Die tägliche Ration um 300 Kalorien zu kürzen, sei aber wirklich das absolute Minimum.
Derweil brodelt es in der Gerüchteküche. Auf der Suche nach den Verantwortlichen für den Fehler haben einige Medien bereits einen Schuldigen ausgemacht: Die vorangegangene Besatzung habe den nahrungsbedingten Engpass durch übermäßigen Konsum selbst verursacht, so die böswillige Unterstellung, die einige russische Zeitungen jüngst lancierten. Die Lebensmittelknappheit sei darauf zurückzuführen, dass die vorige Langzeitbesatzung, Michael Fincke und Gennadi Padalka, schlichtweg zu viel gegessen habe.
Für William Gerstenmaier, dem NASA-Programm-Manager der ISS, ist dieser Vorwurf in jeder Hinsicht haltlos. Die Expedition 9 Crew trage keine Schuld an dem kulinarischen Malheur. "Diese Crew hat in keiner Weise auf exzessive Art und Weise gegessen."
Mit Kritik sparte aber auch die NASA nicht. Für den Engpass machte sie die russische Seite verantwortlich. Ihr Vorwurf: Der ausstehende Progress-Flug, der immer wieder verschoben wurde, habe den nötigen Nachschub verhindert. Außerdem seien bei einem früheren Transportflug Lebensmittel durch Ersatzteile für einen schadhaften russischen Sauerstoffgenerator ersetzt worden.
Der Sprecher der russischen Raumfahrtbehörde Vyacheslav Mikhailichenko brachte den Kern des Problems aber am besten auf den Punkt: "Gewohnheitsmäßig nahm man früher genug Lebensmittel für sechs Monate mit; da aber die Shuttle-Fähren seit knapp zwei Jahren nicht mehr fliegen, erhält die ISS nur für drei Monate ausreichend Nahrung."
Sofortige Notrückkehr der Crew zur Erde möglich
Wenngleich die Situation noch nicht brenzlig ist, so könnte aber Ende des Jahres der vorzeitige Rückflug der Crew ernsthaft zur Debatte stehen. Sollte nämlich der für den 23. Dezember angesetzte Start eines Progress-Versorgungsfahrzeugs zur Raumstation nicht innerhalb von wenigen Tagen über die Bühne gehen, käme es infolge der drohenden Lebensmittelknappheit zu einem höchst ärgerlichen und zugleich teuren Abbruch der zehnten bemannten ISS-Mission.
Der Notfallplan ist nach Angaben der Nachrichtenagentur ITAR-TASS unmissverständlich: Gelangt bis Ende Weihnachten keine neue Nahrung zur ISS, ist eine baldige Rückkehr der Crew zur Erde mit der angedockten Sojus-Rettungskapsel TMA-5 vorgesehen. "In dieser Situation ist der für den 23. Dezember geplante Start des Frachtraumschiffs Progress besonders wichtig", erklärte die russische Raumfahrtagentur Roskosmos letzte Woche in Moskau.
NASA-Programm-Manager William Gerstenmaier bestätigt dies: "Der Progress-16-Flug ist sehr wichtig, da gibt es keinen Zweifel drüber. Er ist aber nicht wichtiger, als die letzte Progress-Mission oder der letzte Sojus-Start." Man habe schon längst, so Gerstenmaier, mit den ersten Vorbereitungen für die eventuelle Rückführung der Astronauten begonnen hat.
ESA stellt ISS-Flieger vor
Unterdessen vermeldet die Europäische Raumfahrtagentur ESA, dass der italienische Wissenschaftsastronaut Roberto Vittori im Rahmen der italienischen Sojus-Mission "ENEIDE" am 15. April 2005 vom Kosmodrom Baikonur in Kasachstan zur Internationalen Raumstation starten soll.
Vittori ist Mitglied des europäischen Astronautenkorps der ESA und außerdem als Pilot in der italienischen Luftwaffe aktiv. An Flug 10S der Sojus TMA-6 nimmt Vittori als Flugingenieur teil und wird dabei vom Sojus-Flugkommandanten und Roskosmos-Kosmonauten Sergej Krikaljow sowie vom NASA-Astronauten John Phillips begleitet. Beim Hin- und Rückflug wird Vittori eine aktive Rolle bei der Steuerung und dem Andockmanöver der Raumkapsel spielen.
Zu den wichtigsten Zielen der Mission gehören für den ESA-Astronauten die Durchführung zahlreicher Experimente sowie eine fruchtbare internationale Zusammenarbeit an Bord der Raumstation. Außerdem soll die alte Rettungskapsel, die Sojus TMA-5, gegen die Sojus TMA-6 ausgetauscht und die derzeitige ISS-Mannschaft von der Expedition 11 Crew abgelöst werden, vorausgesetzt, die Expedition 10 Crew muss nicht aus Gründen der Sicherheit mit dem "Rettungsboot" eine verfrühte Landung hinlegen.