Biden sagt, die Ukraine hat bereits gewonnen. Da hat er recht.

Seite 2: Unter russischer Kontrolle

Es sollte jedoch klar sein, dass dies eine weitaus bessere Alternative war, als das Schicksal Polens zu teilen, ganz zu schweigen von den baltischen Staaten.

In seinen eigenen Äußerungen auf der Pressekonferenz schloss Präsident Selenskyj eine Abtretung von Gebieten an Russland kategorisch aus. In der Tat ist es sehr schwer vorstellbar, dass eine ukrainische Regierung einer russischen Annexion formell und rechtlich zustimmt.

Andererseits hat Präsident Selenskyj, der militärischen Realität und dem Rat seiner militärischen Befehlshaber folgend, die ukrainische Armee nun angewiesen, in die Defensive zu gehen und ihre bestehenden Stellungen zu verstärken.

Wenn das die ukrainische Strategie bleibt, dann wird das Gebiet, das jetzt von Russland gehalten wird, de facto unter russischer Kontrolle bleiben; und angesichts des Missverhältnisses von Kräften und Ressourcen zwischen der Ukraine und Russland ist es sehr schwierig zu sehen, wie eine zukünftige ukrainische Offensive mehr Erfolg haben könnte als die diesjährige.

Nicht alle Mitglieder der Nato

Selbst wenn die Biden-Regierung die Republikaner im Kongress davon überzeugen sollte, einem weiteren massiven Hilfspaket für die Ukraine zuzustimmen, glaubt irgendjemand ernsthaft, dass kommende US-Regierungen in der Lage sein werden, eine solche Hilfe im nächsten und übernächsten Jahr auf unbestimmte Zeit zu beschaffen?

Doch genau das wird nötig sein, wenn die Ukraine ihren Kampf aufrechterhalten will. Und sollte man die Hilfe einstellen, wird die Ukraine besiegt werden.

Die Biden-Regierung und ihre Nato-Verbündeten haben erklärt, ihr Ziel in diesem Krieg sei es, der Ukraine zu einer besseren Position am Verhandlungstisch zu verhelfen. In Wahrheit ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich die Ukraine jemals in einer besseren Position befinden wird als heute. Es könnte noch viel schlechter aussehen.

Schließlich sagte Biden etwas, das wahrscheinlich nur eine ausweichende Formulierung war, aber in einen neuen diplomatischen Ansatz umgewandelt werden könnte. Auf die Frage nach der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sagte er: "Die Nato wird Teil der Zukunft der Ukraine sein."

Die Nato, was immer auch geschieht, wird Teil unser aller Zukunft sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir alle Mitglieder der Nato werden.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).